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II. Vom Gespräch

Wenn ich unter allen Genüssen und Ergötzlichkeiten des Lebens dem Gespräch die unbedingt erste Stelle einräume, so habe ich gewiß alle Stimmen in dieser hochgeachteten Versammlung für mich. In allen den Beschäftigungen, die der Mensch dem ernsthaften und notwendigen Gange seines Lebens entgegensetzt, und die er Spiele genannt hat, wird dem Zufall, dem Schicksal, kurz einer gewissen unbekannten Macht Raum gegeben: mit diesem freiwillig anerkannten Zufall, mit diesem selbst geschaffenen Geheimnis wetteifert der Mensch im Spiele, und es erzeugt sich eine gewisse wohltätige Spannung zwischen dem Spieler und jenem unbekannten Wesen, eine anmutige Reihe von sehr verschiedenartigen Gemütsbewegungen; von Hoffnungen und Besorgnissen, von Täuschungen und Erfüllungen, in denen sich die Seele wohlgefällt, weil sie weiß, daß der Zufall, mit welchem sie spielt, von ihr abhängig ist, daß sie ihn auf den Thron erheben, und nach Belieben wieder absetzen kann.

Es ist aber etwas Antwortendes, Erwiderndes in den Weltumständen, welches die Seele des Cäsar in den Ebenen von Pharsalus und den letzten Spieler an seinem Kartentische ergötzt; und so wenig in den Spielen, die aufgelegt gewonnen sind, als in den Schlachten, die nur geschlagen zu werden brauchen, ist jenes Antwortende, welches ein gesundes, kriegerisches Herz sucht, und das den Zuschauer zum Anteil und zur Bewunderung hinreißt. Es soll ein Pompejus gegenüber stehn, es sollen Schicksalsknoten geschlungen werden ohne unser Mitwissen, es sollen die Lose geheimnisvoll gemischt werden, wir brauchen viel Täuschungen, viel Unerwartetes und mancherlei Mißlingen, wenn etwas Höheres gelingen soll, das wir eigentlich meinen, wenn eine Leere erfüllt werden soll, die uns eigentlich peinigt. –

Wie ist es denn mit jener Verwicklung der Herzen, welche die schönsten und jugendlichsten Gefühle unsrer Zeitgenossen an sich zu reißen pflegt? Hat dieses Spiel mit der heiligsten Flamme des Lebens, worin die Seele so leicht ihre Flügel versengt, – so wie es alle Romane der Welt darstellen – seinen Reiz anderswoher als aus dem Geheimnis, das in diesem innigsten Gespräche über Frage und Antwort schwebt? In dem Verhältnis der Geschlechter zu einander, da wo die Natur die höchste Verschiedenartigkeit der Neigungen, der Ansichten, der bürgerlichen und sittlichen Eigenschaften angeordnet hat, wo sie am meisten mit sich selbst zu streiten, und sich selbst zu widersprechen scheint, zeigt sich das lebendigste und unwiderstehlichste Gefühl des für einander Bestimmtseins. Hier ist von beiden Seiten so viel Unerwartetes, Herausforderndes, Antwortendes, daß ein lebendiges Gespräch, der höchste Genuß des Lebens, erfolgen muß, und daß, wenn ein mündiges Talent diese Gespräche ans Licht bringt, sich alle Blüten der Beredsamkeit zeigen müssen! Diese tiefere dialogische Natur der Liebe gibt der Fiametta, der neuen Heloise, der Clarissa und dem Werther ihre Lebensfrische und ihren Glanz. –

Worin endlich liegt der Reiz und die Art von Genuß, die das Regieren, das Anordnen der Verhältnisse der Völker gewährt? – Sicherlich nicht in der Nachgiebigkeit der Völker, in ihrer Unterwürfigkeit und mechanischen Abhängigkeit? Gewiß nicht darin, daß ein kalter, einsamer Herrschergedanke, in breiten Massen, in einem gigantischen Stoffe ausgedrückt wird; gewiß nicht darin, daß der Regent ein riesenhaftes Gespenst von sich selbst neben sich herwandeln und in der Außenwelt nichts sieht, als die kolossalen Schriftzüge seiner eignen Gedanken. Es ist das Antworten der Völker; es ist das Geheimnis ihrer Eigentümlichkeit, es ist die Beredsamkeit ihrer Freiheit, welches die große Seele reizt, sich mit ihren Geschäften und Sorgen zu befassen. Kurz, das Gespräch ist der erste aller Genüsse, weil es die Seele aller anderen Genüsse ist: auf diese einfache Formel reduziert sich das ganze verschlungene Treiben unsers Lebens. Was uns in allen Geschäften des Lebens reizt, anspornt, erhebt, was wir aber dort erst zusammengreifen und in einen einzigen Körper zusammenbauen müssen, damit es wie mit einer Stimme uns antworte, steht in dem lebendigen, freien Gespräch schon verkörpert als Freund und Gegner gegen uns über; in der Brust des Freundes streiten alle feindseligen Mächte, die sich draußen im Felde und auf dem Forum nur irgend begegnen können; das Geheimnis eines einzigen Herzens ergründen heißt die Welt ergründen.

Zu einem wahren Gespräch gehören gewisse Erfordernisse, die sich, zumal in unsrer Zeit, seltner beisammen finden, als man denken sollte. Zuvörderst zwei durchaus verschiedene Sprecher, die einander geheimnisvoll und unergründlich sind; dann zwischen beiden eine gewisse gemeinschaftliche Luft, ein gewisser Glaube, ein Vertrauen, ein gemeinschaftlicher Boden der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Beide Forderungen sollte der Mensch eigentlich erfüllen, inwiefern er Mensch ist: indes finde ich besonders die heutige Generation so einförmig und so zerrissen, von dem, was sie vereinigen sollte, nämlich den Ideen, so abgewendet, und in den Formen des Geistes, darin sie sich brechen sollte, so gleichartig, daß es mich nicht befremden kann, wenn es überhaupt viel mehr Redende als Hörende, viel mehr Lehrende als Lernende, und wenig wahres Gespräch gibt. Die ein Gespräch führen sollen, müssen einander etwas zu sagen haben, etwas Freies, Eigentümliches; die Form des Geistes in ihnen muß eine durchgängig verschiedene sein; jedermann gibt das auf den ersten Blick zu. Aber daß ein ebenso mächtiges Gemeinschaftliches zwischen ihnen sein müsse, so wie ich eben von dem Verhältnisse der Geschlechter bemerkte, daß neben dem höchsten Zwiespalt, den die Natur angerichtet, sie ein desto gewaltigeres Streben nach der Vereinigung und dem Frieden gelegt, also, ein wahres und inniges Gespräch begründet habe, – bedarf einer näheren Auseinandersetzung. –

Für sich allein oder für jedermann, – ist niemand ein Redner: wem nicht gewisse Personen, gewisse Arten des Widerspruchs den Mund verschließen, der mag ein geübter Sophist sein, aber ein Redner ist er sicherlich nicht. Wer nicht über gewisse Dinge mit mir einig ist, mit dem kann ich über die anderweiten nicht streiten. Glaubt ihr an mich, so bin ich ein Redner; zweifelt ihr an mir, so bin ich stumm: nicht etwa aus Absicht oder mit Vorsatz, aber weil mir wirklich das Vermögen, das Talent der Rede im Munde verlöscht. Glaubt ihr an mich, kann wohl nichts anderes heißen, als, glaubt ihr, daß ich etwas Höheres will als mich: nämlich die Wahrheit, oder die Gerechtigkeit. Die beiden Sprecher also im Gespräch müssen aneinander glauben, eine Luft des Vertrauens muß sie beide umfangen, ein Boden der Gesinnung muß sie beide tragen; mindestens muß ein gemeinschaftliches Gesetz des Anstandes und Wohllautes zwischen ihnen obwalten.

Jenes große französische Gespräch über die höheren Angelegenheiten des Lebens, welches im Jahrhundert Ludwigs XIV. begann, zuvörderst alle ausgezeichneten, kräftigen, besonders aber alle galanten und liebenswürdigen Naturen jener Zeit mit sich fortriß, dann alle Höfe von Europa und von dort aus die Sitten und Meinungen der Völker ergriff, von einer Reihe glänzender Schriftsteller an allen Enden der gesitteten Welt wiederholentlich von neuem angefacht wurde, und erst seit zwanzig Jahren allmählich zu verlöschen und in ein totes Formenwesen zu zerfallen scheint, wie hätte es sich erhalten und eine Art von Weltherrschaft vorbereiten können, ohne ein gewisses Gesetz des Anstandes, dem sich die verschiedenartigsten Naturen mit Neigung unterwerfen konnten. Es ist dies Gesetz jenes geheimnisvolle Wesen, womit die Kritik des XVIII. Jahrhunderts sich vielfältig gequält, ohne es ergründen zu können: guter Geschmack wird es genannt, sehr sinnreich und bezeichnend, für eine unbekannte und unergreifliche Eigenschaft vielmehr der Verhältnisse der Dinge untereinander, als der Dinge selbst. Wir werden es im Verfolge näher betrachten: es ist das Element, es ist die gemeinschaftliche Luft, ohne welche die höhere französische Konversation nicht zu denken ist. –

Ferner, was erhält, was belebt jenes beinahe tausendjährige britische Gespräch über das Recht, die Freiheit und alle Heiligtümer der Menschheit, dessen Herd und Mittelpunkt das Parlament ist, von wo es sich unaufhörlich verbreitet über die Gerichtshöfe und über alle Gemeinden und Familien, und alle Gewerbe und Gespräche jener wunderbaren Insel? Nicht bloß, daß sich Charaktere von seltner Vortrefflichkeit und Eigentümlichkeit in jenem Lande begegnet sind, sondern daß frühe der Sinn für ein großes Gemeingut erweckt worden, worüber alle Parteien einverstanden waren, für die Verfassung nämlich. – Daß man über eine gewisse Grundform des öffentlichen Lebens einig war, war die Bedingung des britischen Gesprächs, wie, daß es eine gewisse sittliche, von niemandem bezweifelte Grundform des Privatlebens gab, die Bedingung des französischen Gesprächs, seiner Verbreitung, seiner Belebung.

Kurz, man muß über gewisse Hauptsachen einig, man muß an Geist, an Sinn, an hervorstechender Zuneigung und Abneigung wenigstens von einerlei Art sein, um über das andre recht lebhaft, innig und ohne Ende streiten zu können. Mit dem Türken und allem, was außer der großen europäischen Glaubensverbindung stand, gab es nach den Ansichten unsrer Vorfahren keine Negoziation, kein Gespräch – und es ist sicherlich ein Sophist und kein Redner, der nicht bloß schweigt, aber dem nicht das Talent der Rede ohne Absicht, ohne Vorsatz im Munde verlöscht, wenn er sprechen soll mit Gegnern, die dieses Gemeinschaftliche verleugnen.

Jeder von uns hat es erfahren, daß, wenn es darauf ankommt, einen andern zu überzeugen, und alle Gründe und alle Beweise, welche der kalte Verstand gesammelt hat, nunmehr erschöpft und an der verschlossnen Herzenstür des Gegners ohne Wirkung umgekehrt sind, sich, vielleicht bei der zufälligen Erinnerung an etwas gemeinschaftlich Verehrtes oder Geliebtes, plötzlich ein Verständnis eröffnet. Dies ist der Augenblick, wo wir den Geist der Beredsamkeit über uns kommen fühlen, wo das eigentliche Gespräch beginnt, und wo nun jedes Wort seine Stelle findet. Deshalb verfehlen die Rührungen, auch in dem Munde des schlechten Redners, so selten ihren Zweck: sie bereiten ein gemeinschaftliches Element zwischen dem Redner und seinem Hörer, worin sich dann alles übrige leichter berührt.

Die erste Konversation mit einem neuen Menschen hat etwas Unerfreuliches, Beschwerliches, bis man ein Gemeinschaftliches zwischeneinander gefunden: das Wetter, die Beschaffenheit der Luft wird gern benutzt, als wenn man ahndete, daß jede Verbindung, jede Freundschaft, jedes Gespräch, eine eigne kleine Welt für sich werden müsse, mit ihrer eignen Luft, mit eignem Element, darin sie sich bewege. Man tastet umher nach gemeinschaftlichen Bekannten, nach Gegenständen der Zuneigung oder Abneigung, worin man sich etwa berühre; unsre Voreltern rechneten in solchen Fällen gern die wirkliche Blutsverwandtschaft herbei. Alle diese Fäden der Unterhaltung aber pflegen wieder zu zerreißen, bis man sich über Ideen berührt: von dem Augenblick an ist der Boden der Unterhaltung fest, und wölbt sich, ich möchte sagen, ein gemeinschaftlicher Himmel über beide. Nun, da das Gemeinschaftliche gefunden, muß die Verschiedenartigkeit der Naturen das schöne Werk fortsetzen, ja verewigen: Die Grundharmonie ist gegeben, ein Gesetz der beständigen Wiederkehr zueinander; beide Stimmen können sich mit Freiheit voneinander entfernen, jede kann ihre eigentümlichen Modulationen verfolgen; der Grundton hält sie fest; jede Stimme hört sich selbst, zugleich aber, was viel mehr sagen will, den Akkord, den sie mit der andern bildet, und was noch mehr sagen will, sie empfindet in allen Labyrinthen der Gedanken und Töne ein allgegenwärtiges harmonisches Gesetz. – Die Musik kann es verdeutlichen, wie sich an dieses erste Gespräch eine neue Stimme über die andre anschließen, und wie endlich eine ganze Nation es eingreifend fortbilden und vollenden kann. Übersehen wir den Hauptumstand nicht: ist das harmonische Gesetz für zwei gegeben, so ist es für Tausende da und für die Welt: zwei Liebende, sagt der Dichter in diesem Sinne, bilden ein versammeltes Volk – und je verschiedenartiger die Stimmen, je eigentümlicher die Instrumente, um so gewaltiger und tiefer wird der harmonische Eindruck.

Darin nun liegt das Geheimnis der Leichtigkeit aller geselligen Berührung, alles Abords im ehemaligen Frankreich; es gab ein gewisses harmonisches Grundverhältnis in dem gesamten Gespräch jener Nation, in allen seinen Verzweigungen und in allen Ranken, die es über Europa ausstreckte: durch eine leichte Berührung der Zunge gleichsam, wie es das Wort Geschmack sehr sinnreich ausdrückte, war entschieden, was in die Sphäre dieses Gesprächs, d. h. überhaupt in diese harmonische Welt gehörte und was nicht. Die Bewegung aller Konversation war so einfach und natürlich regelmäßig, daß sie, ich möchte sagen, eins wurde mit dem körperlichen Pulsschlag der Nation: der Takt war leicht gefunden, ja es wurde schwer ihn zu verletzen.

Es hat Zeit gebraucht, bevor wir Deutsche in dem Bewußtsein unsers ernsten und heiligen Willens, zu der gerechten Anerkennung dieser Vorzüge unsrer Nachbarn gekommen sind. Das ist die große Beschwerde unsers Lebens: statt jenes harmonischen Ineinandergreifens wirbelt es durcheinander bei uns wie der Gesang der Vögel im Walde, jede von den befiederten Familien hat ihren eignen Grundton, jede ihren besondern Takt, und wenn das Ganze auch den Eindruck gäbe, und die Vorahndung, daß der Frühling kommt, wenn es auch Vorgefühle erweckte von einer viel tieferen Harmonie, wer hört dieses Ganze, wer hört es vor seiner eignen Stimme? Jenes Element von Musik, jener eigentümliche Charakterzug unsers Planeten, welches noch außer der Atmosphäre, wie ein zarterer Dunstkreis in jenem gröberen, wie ein irdischer Äther diesen Wohnplatz der Menschheit umfängt, jenes Element von Musik, das keine Nation empfunden haben kann wie die, welche Gluck und Mozart und Haydn und Bach und Händel geboren, ist wirklich als Vorgefühl oder Nachgefühl in jedem deutschen Herzen, es lebt in unsrer Kunst, es regt sich an tausend Stellen unsrer Sprache, aber im wirklichen und gegenwärtigen deutschen Leben, d. h. im Gespräche und in den gesellschaftlichen Verbindungen entbehren wir es. –

Die Dialekte unsrer Sprache sind, zumal was Betonung und Akzent angeht, schöne Denkmale vaterländischer Treue, festen Beharrens an dem Boden, der uns erzeugt, und an die Weise, wie seine Berge und Wälder, und die Herzen, die er trägt, den Ton der Herzlichkeit zurückgaben; aber wie schroff stehn sie untereinander, wie sperren und spannen sie die einzelnen Gebiete von Deutschland gegeneinander; so auch die Gesinnungen, die Gedanken: ein gemeinschaftlicher Grundton der Harmonie nirgends, wenn nicht etwa in dem Nachklang dessen, was wir einst waren, und in der Ahndung dessen, was wir werden können. Man werfe uns nicht vor, daß jeder Einzelne von uns nach dem Unendlichen strebe, alles umfassen, sich eine eigne Welt bauen wolle: er sucht, er strebt nur nach der Ganzheit, nach der Fülle seines zersplitterten Volks; im Innern seines Herzens will er umfassen, was sich in der äußeren Welt für den kurzen Zeitraum seines Lebens nicht hat finden und binden wollen; er versammelt die zerstreuten Züge des deutschen Gemeinwesens, wie eines abwesenden Freundes; er möchte, was in die Schicksale, in die Gedanken dieser großen Nation eingegriffen – und was hat denn nicht eingegriffen? – in ein großes Gebäude, in ein Vaterhaus für die deutsche Nachwelt zusammenfügen; er kann nichts Geringeres unternehmen als den Bau einer Welt, weil die Welt, für die er geboren worden, wirklich zerfallen ist.

Jenes harmonische Grundverhältnis, welches die frühere französische Sprache, Konversation, Gesellschaft und Literatur auszeichnet, und welches noch heute, im Zustande der Barbarei und des Verfalls da, wo die großen Räder der europäischen Gesellschaft unter fürchterlichen Reibungen ineinandergreifen, wie ein geschmeidiges Öl die Bewegung erleichtert, war zu den Zeiten der Größe von Frankreich, allen Formen der Bildung, ja der tiefsinnigsten Entwicklung des Geistes, wie der leichtesten, vergänglichsten Blüte der Phantasie gleich günstig. Es ist falsch, daß in dem Geiste der französischen Konversation an und für sich etwas liege, was der Ergründung der Dinge in ihrer Tiefe, dem Haften und Beharren an ernsten Bestrebungen des Geistes ungünstig ist. Jener Charakter einer gewissen Nullität, den ihr Goethe zuschreibt, jenes libellenartige, farbenspielende Flattern an der Oberfläche des Lebens, mit gelegentlichem leichtem Eintauchen und Benetzen der Flügel, jene Scheu vor dem Ergründen, und vor allem Großen, Überlegenen und Herrschenden, – gilt nur von der gegenwärtigen weichlichen, kränklichen Reizbarkeit der Gesellschaft: es ist die Scheu des Alters vor dem gesunden Luftwechsel des Lebens; das siècle de Louis XIV. berührt dieser Vorwurf nicht. Freilich wird Maß und Takt begehrt; freilich wird begehrt, daß sich jeder Sprechende dem Gesetz der gesellschaftlichen Harmonie unterwerfe; freilich soll nicht mehr gesprochen werden als gehört, nicht mehr gelehrt werden als gelernt; freilich reißt dieser lebendige Strom alles stehende Gewässer mit sich fort, und leidet keine trübe, einsame, unnützliche Tiefe – aber sind dies nicht Eigenschaften der wahren Konversation, der echten Gesellschaft überall? Frankreich wäre nicht die Schule der Beredsamkeit geworden für ein ganzes Jahrhundert, wenn es seinen großen Geistern gestattet hätte, tiefsinnig zu sein ohne die Klarheit, welche das unendliche Gespräch gab, dahin sie fortgerissen wurden, eigentümlich ohne die Allgemeingültigkeit, welche jeden Gedanken und jeden besonderen Besitz, unsern neulichen Betrachtungen zufolge, bekräftigt, besiegelt, indem sie ihn zum Gemeingut erhebt. Daher nun ist für den ganzen Kreis des Bewußtseins und der Anschauung der Franzosen, ihre Sprache so vollendet, so ausgesprochen, so ausgespielt, wie man von musikalischen Instrumenten zu sagen pflegt. Unendlich ärmer an Worten als die deutsche, ist unter ihren Worten ein leichtes, graziöses Verhältnis: die Worte untereinander haben denselbigen leichten Abord wie die Personen in der Gesellschaft: bei allem Mißklang in den einzelnen Worten hört man ganz deutlich einen Wohlklang in den Zusammenstellungen der Worte. – Dies sind die Vorzüge einer Sprache, die aus dem lebendigen Gespräch hervorgegangen; die nicht wie die deutsche mehr geschrieben als gesprochen, und zu einem Signale einsamer Geister gemißbraucht worden ist. –

Ich glaube, daß aus meiner ganzen bisherigen Darstellung deutlich hervorgeht, was die bisherige Theorie der Beredsamkeit versäumt hat, und was sogar die französische Rhetorik, im eigentlichsten Verstände vor Bäumen den Wald nicht sehend, nicht nachzuweisen versteht. Die bisherige Redekunst fordert vom Redner, daß er beweise, und falls dieses, wie in den meisten Fällen, nicht viel verfangen will, so gibt sie ihm eine gewisse Nachhülfe, ein Kapitel von der Erregung der Leidenschaften: sie geht sehr weit, wenn sie dem Redner gestattet, gelegentlich einen Einwurf gegen sich selbst zu wagen. Ich habe die Protestation gegen sich selbst, das Mißtrauen und den Zweifel an der eignen Wahrheit, um der göttlichen und ewigen Wahrheit willen, zur ersten Forderung an den Redner erhoben: er soll die eigne Wahrheit unterwerfen der göttlichen Wahrheit, weil nur diese ihm die Macht geben kann, zweierlei Wahrheit, seine und seines Gegners Wahrheit, zu versöhnen oder wahrhaft zu überreden, zu überzeugen; er soll die Gegenstände irdischer Verehrung, die er zu verteidigen unternimmt, zuvörderst opfern, er soll sie anklagen, darbieten der ewigen Idee der Schönheit, damit diese durch seinen Mund rede, und ihn und seinen Gegner über den irdischen Gegenstand des Streits versöhne. Was heißt dies anders, als seinen Gegner auf den gemeinschaftlichen Boden herüberziehn, über sich und ihn den gemeinschaftlichen Himmel wölben, beide in eine und dieselbe Luft versetzen, einen Grundakkord zwischen beiden anordnen.

Das Anregen der Leidenschaften und Rührungen ist ein armseliges Substitut dessen, was ich hier meine: es heißt den Menschen bei seiner einzelnen schwachen Seite fassen, wo wir ihn zum Ausweichen nötigen, befangen, allenfalls verzaubern, aber nie besiegen können: es ist ein augenblickliches, fruchtloses Einweichen des Gegners, dessen Starrheit unmittelbar zurückkehrt, sobald ihn der austrocknende Hauch der Welt wieder berührt. Entweder ihr ergreift den Gegner bei seiner gewaffnetsten Seite, den Stier bei seinen Hörnern, indem ihr vorwegnehmt seine Gründe, sie verstärkt, sie durch den Zusammenhang eurer Anklage belebt, indem ihr alle die Wunden zeigt, die er erst schlagen will; und ihr erhebt euren Gegner an seiner schwächsten Seite, die nämlich, die empfänglich ist für das Göttliche, und an welcher stärker sein als er, euch zum Redner macht, und ihn zum Hörer – oder ihr ergreift ihn gar nicht, ihr spielt an der Oberfläche seines Herzens umher, ihr bestimmt das Tun seiner Hände, aber nicht seinen Willen, ihr habt Maschinen in Bewegung gesetzt, aber nicht Herzen. Was tut also der Redner anders, als mit Bewußtsein das, was in jedem wahren Gespräch bewußtlos geschieht: er stellt dar 1. den Streit zweier ganz eigentümlichen und verschiedenartigen Naturen, 2. das Gemeinschaftliche, Höhere, was in dem lebendigen Gespräch unsichtbar wie ein Schutzgeist des Gesprächs, oder wie die Grundharmonie in der Musik, zwischen den beiden Sprechenden waltet. Eine Rede ist also nichts anders als ein abgeschlossenes Gespräch, welches in allen seinen wesentlichen sichtbaren und unsichtbaren Teilen durch den Mund eines Menschen an die Welt tritt. Der Redner vereinigt drei Personen in sich, zuvörderst die beiden Sprecher des Gesprächs in ihrer eigentümlichen Farbe und Manier, dann aber beide gedämpft, veredelt sichtbar, und unsichtbar versöhnt durch eine dritte höhere Person, die Seele des Redners, die über dem Streite der Glieder thront. Von dieser unbefangenen, besonnenen Stellung über dem Kampf der Lebenselemente, den der Redner darstellt, finde ich in den Lehrbüchern der Redekunst nichts. Ich höre gern dem Streit der Klugen zu, sagt die Prinzessin in Goethes Tasso, wenn an die Kräfte, die des Menschen Brust so freundlich und so fürchterlich bewegen, mit Grazie die Rednerlippe spielt.

Daß diese Regel, dieser Kanon der Rede für alle Formen der Rede, für alle Bürger, für jede Art der Darstellung gilt, springt in die Augen. Der Kanzelredner, welcher das Gemeinschaftliche allein zur Sprache bringen wollte, der die göttlichen Wahrheiten, der die harmonische Regel für das höhere Leben unsres Geschlechts allein darreichen wollte, ohne die Parteien, ohne den Kampf der irdischen Wahrheit mit dem irdischen Irrtum, würde einsam bleiben in seiner Höhe, zurückschrecken, anstatt zu erheben. Der Sachwalter vor Gericht andrerseits, der bloß die Eigentümlichkeit seiner Partei zu verteidigen unternähme, der nicht von dem Geiste des Gesetzes beseelt über seinen Parteien schwebte, und ihren Handel mit einer gewissen heiligen Besonnenheit vor die Seele des Richters brächte, würde die Sache tiefer verwickeln als sie zum Spruche zu bringen. Was macht Macchiavelli und die Alten in ihren Geschichten so groß, als bei der Klarheit, mit der die handelnden Parteien in ihrer Eigenheit auftreten, der alles umfangende göttliche Hauch einer großen Seele, die ein Bestimmtes will, die ein höchstes Gut hat, die Freiheit oder das Vaterland, vor dem sich alle die streitenden Helden, die sie darstellt, beugen sollen: sie erhebt die Parteien, damit der Sieg des ewigen Gedankens über die vergänglichen Helden glänzender werde. Je mehr die Begebenheiten auseinander streben, um so gewaltiger rafft sie zusammen und bändigt sie der Gedanke, bei Tacitus.

Zum letzten Male nunmehr lassen Sie uns einen strengen, ungefälligen Blick auf Deutschland werfen. Also eine Sprache, die mehr gelesen und entziffert wird als gesprochen, in der viel mehr gelehrt wird als gelernt und gehört; ein Gespräch, das nur durch die Schrauben der Not zustande gebracht wird; ein Volk zersplittert in sich selbst, viel weniger das Ausland achtend, als sich selbst geringschätzend, und alle seine Institute, neben der allzu großen Erinnerung an ehemals, und der allzu ungemessenen Forderung an die Zukunft; alle seine größeren Geister entfernt, zerstreut über das unermeßliche Gebiet des Wissens, vertrauter mit dem Altertum als mit der Gegenwart, freundlicher verkehrend mit dem entferntesten Orient als mit der Nachbarschaft, lieber den Toten die Hand reichend als den Lebendigen, lieber mit denen redend, die nicht mehr hören und antworten können, und die, wenn sie hörten, uns zurückschrecken würden in unser Jahrhundert, hier dasselbige Tüchtige zu sein, was sie in dem ihrigen waren; endlich die wenigen, welche den Gram und die Größe dieses Volks zugleich empfinden, und dennoch nicht weichen können von diesem Boden oder aus diesem Gefängnis, die von der Gegenwart nicht lassen können, diese wenigen einsam bauend neue Welten aus den alten Materialien, welche das vergangene Jahrtausend hier reichlicher als auf irgendeinem andern Boden hinterließ; ohne Berührung, ohne Gespräch miteinander unternehmend, was nur die Begeisterung der Gemeinschaft, welche alles um sich her allmählich in ihren Strudel reißt, vollenden könnte. Ich frage Sie, ist es unter solchen Umständen nicht endlich Zeit, gründlich zu fragen, was Frankreich groß gemacht; was Frankreich vermocht und in Stand gesetzt hat, vollständig auszusprechen, d. h. nach meiner neulichen Erklärung ganz auszudrücken in Leben und Tat, was es gewollt hat? Ist es nicht Zeit, die Gründe der höchsten Mitteilung, die zwischen menschlichen Wesen möglich ist, die Gründe jenes Verkehrs durch Wort und Rede, in den sich alle Kriege, alle Arbeiten, alle Genüsse der Menschheit zuletzt auflösen, zu untersuchen; zu fragen, was uns den Mund gegeneinander verschließt, da tausend Zeugnisse niedergelegt sind in Schrift für die Ewigkeit, daß wir reden können?

Es ist ein schlechter Trost, den wir auf allen Straßen hören müssen, daß uns nämlich statt Deutschland das Instrument der deutschen Sprache verblieben sei. Was ist diese tote Schriftsprache ohne das lebendige Gespräch und ohne die deutsche Rede, die daraus hervorwachsen sollte. Ich wünsche Deutschland Glück, daß jenes Schrift- und Formelwesen allmählich zerfällt, daß das Ansehn der Druckerpresse durch den Mißbrauch allmählich abnimmt, daß die Liebhaber dieses Unwesens von den Zeitumständen mehr und mehr mit Auswahl zu kaufen, und anstatt zu lesen lieber zu sprechen genötigt werden; was echtes Gold ist, wird dennoch bestehen.

Wie könnte ich gezeigt haben, daß das Gespräch die Quelle der Beredsamkeit überhaupt sei, ohne jenes großen Deutschen zu gedenken, mit dem die deutsche Beredsamkeit erwacht, der mit der Flamme des Gesprächs alles ergriff, was dem deutschen Herzen nahe geht, und was, da er seine Stimme erhob, in unnatürlicher Verzauberung oder Versteinerung dalag, G. E. Lessing. Er ward gehört, er drang tiefer in das Ohr und in die Seele seiner Nation als irgendein Zeitgenosse; er zwang durch ein echtes Talent der Rede die Nation zur Antwort; streute über die Furchen, die ein unglücklicher Krieg in Deutschland hinterlassen, den Samen eines geistigen Krieges aus; weckte, wie es dem freien Geiste ziemt, der für die Freiheit der übrigen lebt, viel mehr Gedanken als er aussprach, und blieb als ein unbegriffenes Wunder in dem Andenken seiner Freunde zurück; was er geringgeschätzt hatte an sich, wurde zum Muster gewählt; der Schnitt und alle Äußerlichkeiten seines Wesens, und was niemand gründlicher verachtete als er, fand in allen literarischen Werkstätten Nachahmer und Sklaven, bis ein Freund in einem höheren Sinne des Worts, ein Pair seines Geistes, endlich einer neuen Generation, die indes aufgegangen, sagte, wer und wie er gewesen sei.

Es ist nicht unmerkwürdig, das Geschlechtsregister eines tüchtigen und gründlichen Gedanken zu wissen. Daß das Gespräch die Seele aller Rede sei, hat Lessing durch sein kriegerisches Leben betätigt, aber ausgesprochen, deutlicher empfunden als Lessing selbst und mir überliefert hat ihn der große Gelehrte, den ich als Muster, Freund und als unmittelbaren Vorgänger bei diesem Geschäfte der Vorlesungen auf gleiche Weise verehre. Friedrich Schlegel, der eben seine Vorlesungen über die Literatur beschlossen hatte, als die gegenwärtigen über die Beredsamkeit ihren Anfang nahmen.


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