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I. Vorwort

Die Betrachtungen über die Beredsamkeit, welche wir miteinander anzustellen im Begriff sind, müssen, so scheint es, auf die Verherrlichung einer benachbarten Nation führen, welche durch die Gewalt und den Reiz der Rede eine Art von Weltherrschaft vorbereitet hat, – und auf eine gewisse Demütigung unseres deutschen Volkes, welches die Kunst, mit der lebendigen Rede zu zwingen und zu verführen, oder sonst den Augenblick zu ergreifen, eigentlich nie besessen, und welches das Wort nie bei der Hand gehabt, sondern meistenteils in der Feder erkalten lassen. –

Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen, nachdem längst aller höhere Verkehr bei uns stumm und schriftlich, oder in einer auswärtigen Sprache getrieben wird? – Wenn die gesamten Staatsgeschäfte einer Nation mit der Feder abgemacht werden; wenn alle größeren Geister, welche sich in ihr regen und sie ergreifen oder doch berühren wollen, statt der Rednerbühne einen Schreibtisch bereitet finden; wenn die heiligsten und erhabensten Ideen niemals mit der Gewalt, welche die Natur in die Brust des Menschen und in seine Stimme legte, unmittelbar an das Herz der Nation schlagen können; endlich, wenn in der höheren Gesellschaft, wenn da, wo sich alle besonderen Sitten der Nation in eine einzige Sitte vereinigen, wo sich aus unzähligen Beschränkungen und Rücksichten nun die eigentümliche, vaterländische Grazie des Lebens, des Umgangs und der Mitteilung ergeben soll; wenn in der Gesellschaft, da – wo nun endlich alles Vorlaute zur Ruhe gebracht ist, wo niemand reden darf, der nicht zu hören versteht, wo also Schicklichkeit und Anstand nun endlich eine wahre Schule der Beredsamkeit eröffnet hätten – wenn da die Sprache des Landes verdrängt ist von einer fremden, wo sollen die Redner herkommen? Etwa aus der kleinen Provinzialkrämerei des alltäglichen Lebens, oder aus der Gesprächigkeit des häuslichen Elends, – oder aus dem telegraphischen Verkehr, den die Philosophen und Gelehrten der einzelnen Sekten, jeder in seiner besonderen Terminologie, über die weite Fläche von Deutschland hin miteinander treiben? – Und wenn die Natur Talente für die Beredsamkeit über Deutschland so reichlich ausstreute, wie über den Boden irgend eines anderen Landes, so sind es ja in Deutschland nur einzelne, die hören; es gibt kein Ganzes, keine Gemeinde, keine Stadt, keine Nation, die wie mit Einem Ohre den Redner anhörte. Im Gespräch mit dem einzelnen sind wir zu ungebunden, zu unbeschränkt; wir lassen uns gehn, wir reden nachlässig, und so verliert sich aus der Sprache des Volks der allgemeine, bindende Geist; sie zerbröckelt sich in unzählige Dialekte und Idiome; jede Sekte und jede Kotterie verunstaltet sie in ihrer eigenen Manier. Nun mögen die Klopstock, die Lessing, die Schiller, die Goethe alle Strahlen dieser zerstreuten Sprache wie in einen Brennspiegel versammeln; das, was allen gemeinschaftlich ist in Wort und Klang, mag von einzelnen wirklich niedergeschrieben, auch ausgesprochen werden: die Nation liest sie, verschluckt sie, aber hört sie nicht, spricht ihnen nicht nach. – Wer überhaupt lernt reden aus dem Papier, aus der toten Schrift? Hören muß und gehört werden, wer sprechen lernen will. – Der Taubgeborne ist notwendig zugleich stumm.

Die gesamte deutsche Literatur zerfällt in zwei Teile: der eine und bei weitem größere Teil begreift die wissenschaftlichen, die Lehrbücher; in diesen zeigen sich Redner, die eigentlich niemanden anreden, sondern in sich selbst hineinsprechen. Während man nämlich in den wissenschaftlichen Werken der Franzosen, z.B. eines Montesquieu, Buffon, d'Alembert, oder Diderot, oder auch in denen der Italiener ganz deutlich im Lesen fühlt, daß man angeredet wird, daß der Autor einen bestimmten Menschen von Fleisch und Bein vor sich hat, den er überreden, den er überzeugen will; während die leichteste Flugschrift der Engländer, wenn es sich nur irgend tun lassen will, an einen bestimmten Menschen, an eine bestimmte Gemeinde oder Korporation gerichtet wird; während die abstraktesten Werke der Alten unser Ohr bezaubern und uns zum Gespräche wohltuend einladen, weil sie für ein lebendiges Ohr geschrieben sind; während nach dem Ausdruck des Quintilian und dem Gefühle der Alten kein Wort zur Audienz der inneren Empfindung oder des Verstandes gelangen konnte, welches im Vorzimmer des Ohrs beleidigt hätte, – baut der deutsche Gelehrte ein Gebäude von Chiffren, sinnreich aber einsam, unerwärmend, unerfreulich, ohne Antwort oder Erwiderung von irgendeiner Seite her! Dies ist der eine, der wissenschaftliche Teil unserer Literatur. Wir finden es auffallend, wenn in einer gewöhnlichen Gesellschaft jemand laut mit sich selbst redet: hier hätten wir viele tausend Redner, die sich öffentlich vor ganz Deutschland sprechend, und weitläufig sprechend, hinstellen, – ohne irgend jemand anzureden.

Der andere, der schöne Teil unserer Literatur, die insonderheit sogenannte Literatur, bietet eine ebenso befremdende Erscheinung dar: Hier zeigen sich nun Redner, die wirklich anreden, welche die Nation oder wenigstens die Edelsten der Nation wirklich vor sich hinstellen im Geiste, die es auf Begeisterung, auf ein Ergreifen der Persönlichkeit anlegen; ja es zeigt sich einer, der, die Seele ganz erfüllt von der Herrlichkeit wie von den Leiden, von dem Beruf wie von dem Mißgeschick seiner Nation, eine Antwort herausschlagen will aus ihr, wie einen Funken, oder einen Quell, oder irgend etwas Lebendiges aus dem Felsen; es zeigt sich Schiller, ein Dichter, oder vielmehr ein Redner, der noch überdies in allen seinen Werken und unter den größten und mutigsten Gedanken so stolz und so gebeugt, so wehmütig zugleich klingt, wie, ich möchte sagen, Deutschland selbst Man erinnere sich, daß diese Reden 1812, ein halbes Jahr vor dem Brande von Moskau, und geraume Zeit vor der Schlacht von Leipzig gehalten wurden. klingen müßte, wenn es reden könnte: – dieser ganze Teil unserer Literatur wird nicht gelesen, wird nicht etwa mißgönnt dem Papier, nicht etwa herausgerissen aus den toten Lettern von einer auf ihre Zierden eifersüchtigen Nation, nicht etwa der Buchdruckerkunst zum Trotz zu einer lebendigen Tradition, so wie alle Abdrücke von Corneille und Racine und Ariosto und Tasso heut untergehen könnten, und nichtsdestoweniger sie selbst vollständig fortleben würden in der begeisterten Überlieferung ihrer Mitbürger; – sondern er wird dechiffriert und verschluckt, und wenn sich nicht etwa das Theater einzelner Werke erbarmte, so hätten wir die ganz eigne Erscheinung einer Literatur von wenigstens vierzig Autoren vom ersten Range, die es mit allen Vierzigern (Quarantes) der Welt aufnehmen könnten, und deren Werke kaum ein einziges Mal Von einer menschlichen Brust in den angemessenen, artikulierten Tönen wirklich ausgesprochen worden wären.

Es gibt also nicht bloß lebendige Literaturen und tote Literaturen, sondern auch stumme Literaturen, und unsere Betrachtungen über die Beredsamkeit mußten mit der Klage anfangen, daß die deutsche Literatur bis auf die neuesten Zeiten zu den stummen Literaturen gehört hat.

Ein gewisser allgemeiner Drang zum Vorlesen und Deklamieren der Nationaldichter, so ungeschickt er sich mitunter auch äußern mag, so vielen Anteil auch zuzeiten noch die Eitelkeit und der Eigennutz daran haben mögen, ist dennoch ein erfreuliches Zeichen, daß sich die Verzauberung unsres Ohrs und unsrer Stimme wieder allmählich lösen will, und daß unsre schöne Literatur von dem lebendigen Odem der Rede wieder ergriffen werden soll. Würde in der Erziehung die Hälfte des ungebührlichen Eifers, den man in neueren Zeiten auf den Mechanismus des Lesenlernens gewendet hat, auf den Ausdruck des Tons und die Gebärde der Brust und der Seele im Lesen gewandt, so würde der deutschen Redekunst damit vielleicht mehr gedient, als mit Vorlesungen über die Beredsamkeit.

Indes sind auch solche öffentlichen Vorlesungen über Gegenstände der Wissenschaft oder der Kunst vor einer Versammlung von Personen, die weniger die Absicht, zu erlernen oder Kenntnisse zu erkaufen, als ein allgemeines, wahrhaft menschliches und gesellschaftliches Interesse an den Fortschritten der Bildung vereinigt, förderlich für die Belebung unsrer Sprache, und überhaupt eine neue, sehr ehrenwerte Gattung in Deutschland. Auch der erste, der wissenschaftliche Teil unserer Literatur, will also endlich gesellig werden; es soll nicht mehr ins Blaue und Unbestimmte hin, es soll nicht mehr den Wänden und Wüsten gepredigt werden, man will ein Lebendiges, ein Ganzes, eine würdige Stellvertretung des Publikums, zu dem man spricht, sich gegenüber haben; man sucht die Schranken, man verlangt Antwort und Urteil: die deutsche Wissenschaft zeigt sich auf dem Wege nach einer großen Wahrheit, die bei uns mehr als irgendwo sonst vergessen worden ist, nämlich

daß es nur ein einziges Kennzeichen des Verständigen gebe, nämlich die Verständlichkeit, und daß man nur in demselben Grade selbst verstehe, als man verstanden wird.

Die größten wissenschaftlichen Autoritäten Deutschlands in und außer den hohen Schulen haben in den letzten zwanzig Jahren die Form solcher Vorlesungen gewählt, und haben sie in dieser kurzen Zeit weiter ausgebildet, als es in Frankreich und England, wo sie längst in Gebrauch waren, gelungen ist. Die hier anwesenden, verehrungswürdigen Personen haben mir durch die Güte und Nachsicht, mit der sie auf meine Einladung erschienen sind, die Befugnis eingeräumt, so großen und guten Mustern nachzustreben.

Ich habe meine Rede angefangen mit einer Anklage der deutschen Literatur, sogar mit einer verdeckten Verteidigung derer, die in den höheren Verhältnissen der Gesellschaft sich einer fremden, und dem vaterländischen Sinne nicht eben angemessenen Sprache und Manier der Beredsamkeit bedienen. Denn die Schuld der Verwahrlosung unsrer Muttersprache liegt so wenig in der Gleichgültigkeit der höheren Gesellschaft gegen sie, als in der Nachlässigkeit, der barbarischen Gesinnung der übrigen. Was vermöchte unser, der Kinder dieses Augenblicks, Unart, Wohlwollen oder Abneigung über das innerliche Wesen und die Kraft und das äußere Ansehn einer Sprache, die von Karl dem Großen bis heut, und von dem Gipfel der Alpen bis an die Küsten des Finnischen Meerbusens geredet worden, in der sich alle großen Ideen und Weltschicksale des letzten Jahrtausends ausgedrückt, und die eigentlich zu groß und zu gewaltig ist für irgendeine fürstliche oder akademische Pflege? – Die Schuld liegt in den dermaligen öffentlichen und bürgerlichen Verhältnissen der Nation: daß der ausschließend schriftliche Betrieb der Staats- und gelehrten Angelegenheiten und die Anwendung der französischen Sprache in den höheren Sphären des gesellschaftlichen Lebens, wo allein sich die vaterländische Sprache und Rede würde ausbilden und verfeinern können, die Entwicklung der Redekunst in Deutschland verhindre, habe ich zeigen dürfen, was uns aber in allen redenswerten Dingen entweder zur Schrift oder doch zu einer fremden Sprache verdammt, kann ich nicht zeigen, ohne Dinge zu berühren, über die man nie halb, sondern lieber gar nicht reden sollte.

Halten wir uns also vorläufig an die Erscheinung, wie sie einmal ist. Das Sprechen, das erste unter allen menschlichen Geschäften, wie der erfreulichste und edelste unter allen menschlichen Genüssen, wird in England, Frankreich und Italien mit der natürlichen Vorliebe getrieben, aus der sich notwendig Redner und eine Kunst des Redens ergeben müssen. In Deutschland wird dieses Geschäft im Durchschnitt mit dem anderweitigen Schaffen und Arbeiten, und Essen und Trinken ungefähr in eine Reihe gesetzt. Jene scheinen zu leben, um zu sprechen; wir nur zu sprechen, um die übrigen Lebensfunktionen zu befördern und im Gange zu erhalten. – Ich gestehe es ein, und vergebe dennoch, wie der Verfolg zeigen wird, der Ehre und dem alten Adel der Sprache nichts, in der ich das Wesen und die Natur der Beredsamkeit zu beschreiben unternehme.

Der größte Redner der deutschen Nation Friedrich Schiller, der die dichterische Form nur wählte, weil er gehört werden wollte, und weil die Poesie eine Art von Publikum in Deutschland hatte, die Beredsamkeit aber keines, – klagt über eine gewisse Flüchtigkeit, oder vielmehr über ein gewisses Verfliegen des Gedankens in der Sprache, klagt, daß die Seele, wenn das Wort ausgesprochen werde, schon weit über dem Worte, oder weit voran vor dem Worte sei. » Spricht die Seele,« sagt er, »so spricht, ach schon die Seele nicht mehr.« – Das ist in wenigen Silben das Unglück einer Nation wie die deutsche, die lange in sich und auf ernste und ewige Dinge gekehrt, nun auf einmal gewahr wird, daß sie das äußere Leben, Vaterland und Gesellschaft versäumt hat; daß ihre Gedanken unendlich weiter reichen als ihre Sprache; daß sie viel mehr besitzt, als sie mitzuteilen imstande ist – während sie zu fühlen anfängt, daß die Fähigkeit, ihn mitzuteilen, den Besitz erst zum Besitze; daß die Fähigkeit, ihn auszusprechen, den Gedanken erst zum Gedanken macht; und der wahre Ernst und die eigentliche Ewigkeit des Sinnes nur darin liegt, daß er sich mit dem bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben verträgt.

Es gibt in Deutschland ein Ringen mit der Sprache, ein Drängen des Unermeßlichen in Worte, ein unglückliches aber rührendes Bestreben, welches nie gelingen kann, nicht weil das Unternehmen etwa über die Grenzen der Sprache überhaupt ginge, aber weil der einzelne mit seinem Gedanken weit vorausgelaufen ist der Nation mit ihrer Sprache, und weil er nun mit den beschränkten Kräften seiner Brust ausdrücken will, wohin er erst die Nation erheben muß, damit er es sagen könne. Der Gesichtskreis der Deutschen, so habe ich das Unglück an einem anderen Orte ausgedrückt, ist unendlich größer als unser Wirkungskreis: unser Gedanke reicht weiter als unsere Sprache.

Die Worte Schillers: Spricht die Seele usw. gelten also nicht etwa überhaupt als eine traurige Wahrheit von aller Sprache, sondern von der dermaligen deutschen; die Seele ist nicht etwa an sich vornehmer und größer als die Sprache, sondern die Sprache ist das göttliche Siegel, wodurch alle sonderbaren, eignen und weitläufigen Gedanken des einzelnen Menschen erst zu ernsthaften und wahrhaftigen Gedanken werden. Das Schönste, was die Seele in ihrem einsamen Bezirke hegt, bleibt Vision und Traum, und ohne Einfluß auf die Welt, also ohne freundliche Bestätigung von außen, bis es deutlich gesagt werden kann, d. h. bis ein überschwengliches Wesen, worin alle vorangegangenen Jahrhunderte, und alle Geschlechter bis auf den Einzelnen, Ärmsten das schönste Erbteil ihres Lebens niedergelegt haben, die Sprache es bestätigt; bis der Gedanke durch dasjenige zum Gedanken wird, wodurch der Mensch zum Menschen wird. Kurz, es ist mit dem Besitz der Seele, wie mit allem Besitz; er ist nicht eher sicher, als bis er zum Gemeingut geworden; und dies wird er durch die Sprache. –

Der Deutsche ist in einem unbequemen Verhältnis zur Sprache, er ringt mit ihr, sage ich, er zwingt sie, wozu sie nicht geneigt ist, und sie ihrerseits zwingt ihn durch das ewige Gesetz der Reaktion wieder dahin, wohin er nicht will. So regiert der deutsche Gelehrte auf dem Papier den Staat, gibt Gesetze, verbessert die Sitten, erfindet Terminologien, martert die Sprache, und wird gegen den wirklichen Staat, die wirklichen Gesetze und Sitten nur immer feindseliger gestellt, von den äußeren Bedingungen des Lebens nur immer mehr gepeinigt, von der wirklichen Sprache zerrissen und von der eignen Terminologie verwirrt. In dem einen Augenblick hantieren wir mit der Sprache despotisch und eigenmächtig, als wenn sie ein erfundenes Wesen, eine Art von Chiffre oder Signal wäre, das man willkürlich verändert, wenn der Schlüssel in Feindes Hände gefallen ist; in dem anderen Augenblick hantiert dafür die Sprache mit uns, verwandelt wider unsern Willen die Gedanken unter unsern Händen, zähmt sie, bändigt sie. –

In welchem bequemen, schwebenden Verhältnis steht dagegen der Franzose zu seiner Sprache: Spricht die Seele – so hat sie auch genau im Worte Platz. Daher die gewisse Befriedigung im Sprechen, und in dem Gedanken des Gesprochenhabens und Sprechenwerdens, worüber sich wohl spotten läßt, und von Armut reden, die sich leichter in Schranken und zu Rate halten ließe, als der Reichtum –, während wir innerlich, wenn wir gerecht sein wollen, mit Neid anerkennen müssen, daß, wer erst die Sprache in solche Eintracht gebracht hat mit dem Gedanken, mit der Sprache auch zugleich viel anderes gewinnt, was wir entbehren müssen.

Zu dieser Harmonie der Sprache mit dem Gedanken lenken wir aber allgemach zurück, halb von der Not gedrängt, halb getrieben von einem alten, guten, ernsten und göttlichen Verlangen, das nie ganz von uns gewichen ist, und das die deutsche Kunst sogar in diesen letzten Zeiten der Barbarei und Sprachverwirrung bei Ehren erhalten hat. Der Mensch soll nicht denken über die Sprache hinaus, oder in Gedanken weiter schweifen als die Sprache reicht: Die Grenzen der Sprache sind die göttlichen Grenzen, die allem unserm Tun und Treiben angewiesen sind; und diese Grenzen sind keine Mauern; sie wachsen, wie die innerliche, treibende Kraft unserer Seele wächst. Wir sollen alles aussprechen können, was wir denken: denn nur die Gedanken, die das Vaterland mit uns denkt durch die Sprache, sind gute Gedanken. Der einzelne Geist, der hoffärtig heraustritt aus seiner Nation und ihrer Sprache, sich erheben will über sie, muß über kurz oder lang eben so weit unter sie hinab: um so viel er mehr verstehn will als sie, wird er auch weniger verstehn. Kurz, in jedem einzelnen Augenblick versteht er ganz in demselben Maße und nicht mehr, als er verstanden wird.

Ein einzelner deutscher Dichter und Werkmeister hat es auf diese Weise erreicht, im Niveau seiner Nation dreißig Jahre hindurch zu bleiben, und sich in ein bequemes, schwebendes Verhältnis zur Sprache zu setzen. Niemand wird es wagen, in der Größe der Absicht, in der Reinheit und Göttlichkeit des Willens Goethe mit Schiller zu vergleichen; aber es ist dafür auch ein Ebenmaß der Kräfte und des Stoffs, ein Verstand und ein Verstanden werden, kurz eine Wechselwirkung zwischen Goethe und der deutschen Nation, und ein Einfluß Goethes über diese, wie sie nicht leicht von einem einzelnen erfahren. Daß es die Nation selbst ist, nicht etwa ein vorübergehender akklamierender Haufe von Tagesgenossen, was von Goethe ergriffen worden, so erinnere man sich des nun bald vierzigjährigen Werther, der noch heute, nachdem eine ganze Generation und ein wirkliches Gedränge von Revolutionen in den Sitten und Ansichten, wie in der Sprache der Deutschen, vorübergegangen, mit derselben Frische der Beredsamkeit unser Herz anregt. Man erschrickt, wenn man in diesem Romane unverhofft etwa den Schnitt und die Farbe der Kleidung Werthers berührt findet, und nun erfährt, daß man ihn sich in der steifen, gespannten Eleganz jener Zeit denken soll, die uns eigentlich viel altertümlicher dünkt und viel entfernter liegt, als die Kostüme des Mittelalters. So erhaben ist die Beredsamkeit des Werther über die Mode, daß sie selbst wie die andern lebendigen Menschen die Mode wechselt. Aber das eigentlich Charakteristische in Goethe ist sein Gleichgewicht mit der Sprache, also mit der äußeren Welt, also vor allen Dingen mit der Nation; er hat alles ausgesprochen, ausgeschrieben, ausgedrückt, was er gedacht und begehrt und empfunden. Es war eine glückliche Sinnlichkeit in ihm, die sich von den lebendigen Gestalten des Lebens nie ableiten ließ, eine glückliche Genügsamkeit und Behaglichkeit, die ihn von allen geistigen und philosophischen Schwärmereien seiner Kunstgenossen zurückhielt.

Indes beweisen die Vorrechte einer einzelnen, hochbegünstigten Natur nichts gegen die Regel. Ein gewisses Mißverhältnis zwischen dem Wollen und dem Vermögen ist der charakteristische Grundzug unsrer Literatur. So leicht es wäre, grade in dieser Eigenheit den unvergleichlich hohen Beruf unsrer Nation nachzuweisen, und grade in der Ursache des Verfalls der deutschen Beredsamkeit die sichre Bürgschaft unsrer dereinstigen Größe zu finden, so habe ich dennoch vorgezogen, meine Betrachtungen mit einer unumwundenen Anklage der Deutschen zu beginnen, weil ich darauf ausgehe, sie gründlich und befriedigend zu verteidigen.

Es ist eine goldne Regel, eine Haupterfahrung, die uns bei allen unsern Erwägungen der Redekunst an keiner Stelle verlassen darf, daß nämlich das Gemüt des vollständigen und gesunden Menschen beständig in kriegerischer Disposition und zum Widerspruche geneigt ist. Wollen wir also mit den Waffen der Rede oder des Arms verteidigen, so müssen wir anzuklagen und anzugreifen wissen, was verteidigt werden soll. Der Sachverwalter eines Verbrechers muß die stärkste Anklage gegen ihn führen, um ihn mit wahrem Erfolge verteidigen zu können: der Sachwalter der Tugend muß alle Ränke kennen, die seinen Gegenstand verunglimpfen können, ebenso wie der wahre Gottesgelehrte ohne gründliche Erkenntnis des Teufels nicht zu denken ist. Dies ist die erhabene Kunst, welche unter den Lobrednern des letzten Jahrhunderts den großen Bossuet so weit über den Thomas, und die unter den gerichtlichen Sachwaltern den britischen Redner Erskine weit über alle seine Standesgenossen erhebt. Dies ist die zierliche Kunst, welche die Frauen mit dem sichersten und glücklichsten Erfolge üben, ja das ganze Geheimnis ihrer weltlichen Herrschaft: sie klagen an, was sie verteidigen, raten ab von dem, was sie erreichen wollen: sie verdecken Falten und Eigenheiten der Seele, die sie zeigen wollen, sie scheinen auszuweichen dem, was sie wünschen: kurz dies Geschlecht versetzt alles in die Disposition, es zu verteidigen.

Auf gleiche Weise kann man sicher glauben, daß überhaupt die Anhänglichkeit an einen geliebten Gegenstand noch nicht weit bei uns gediehen, so lange unser Lob noch unbegrenzt ist: aber wenn wir bescheiden werden, im Namen des geliebten Gegenstandes, wenn wir ihn mit Rückhalt, mit Einschränkung und Ausnahmen zu loben anfangen, so etwa, wie ein Bruder von der Schönheit seiner Schwester spricht, dann beschäftigt er uns ganz. Kurz, wo wir aus Liebe ungerecht werden könnten gegen die Welt, und ausschweifend und abgöttisch werden könnten im Lobe, da hat uns die Natur schon wieder sanft in die Bahn der Gerechtigkeit eingelenkt.

Was aber sagt diese ganze Regel: »Wisse anzuklagen, wo du verteidigen willst« – anders als in andern Worten meine frühere Regel: Wisse zu hören, wenn du reden willst; versetze dich in das Herz, dahinein du greifen willst, in den verwirrten Sinn, welchen du bekehren, in die Krankheit, welche du heilen willst. Verstehe, Redner, mich, deinen Gegner, wenn du dich verständlich machen willst: bist du verständlich, dann will ich glauben, dann werde ich es im innersten Herzen empfinden, daß du verstehst. Kurz, es gibt kein Mittel, den Verstand zu beweisen, als die Verständlichkeit; kein Mittel, das Geliebte und Verehrte und Angebetete wahrhaft zu verteidigen, zu erheben, als die Gerechtigkeit. Möge es uns gleichergestalt mit der deutschen Beredsamkeit überhaupt gelingen: mit Anklage haben wir ihr Lob und ihre Verteidigung eröffnet.

Wer wirken will, muß seinen Gegenstand zu ergreifen wissen: die gemeine Eroberung, Besitznahme und Unterwerfung genügt der größeren Seele nicht. Die Beredsamkeit will ergreifen, aber durch Reiz, durch Motive, die in der Brust dessen liegen, auf den sie es abgesehn: sie will ihre Beute nicht tot haben wie der gemeine Eroberer, aber im vollen Sinne des Wortes lebendig. Sie will eine freie Seele bezaubern und beherrschen; sie will ihren Gegner nur zwingen und reizen, niederzuknien vor der Wahrheit, die größer ist als sie beide. Sobald also der Redner allein spricht, ohne seinen Gegner, vielmehr sobald in der Rede des Redners nicht alle Argumente des Gegners enthalten sind, sobald ist er seines Gegenstandes Meister noch nicht und seines Sieges nicht gewiß. Jede wahre Rede ist also Gespräch: in dem Munde des einen Redners sprechen notwendig zwei, er und sein Gegner.

Das ist der Punkt, wohin meine ganze heutige Darstellung führen sollte. Um die Beredsamkeit in allen ihren unendlichen Formen zu verstehn, muß man das Gespräch verstehn. Dies ist es, was Schillern und auch Goethen und Lessingen unwiderstehlich auf die Bühne drängte, wo sich das Streben einer echten und wahrhaftigen Natur in tausendfältigen Wendungen und Gestaltungen des Dialogs auseinanderlegen konnte. Wie konnte das Theater einer zerrissenen Nation an sich reizen, solche Geister reizen; aber einstweilen, und bis sich das Zerstreute und Zersplitterte wieder fügte, und Deutschland wieder auferstand, und dann ein wahres Theater, ein heiliger Spiegel der Nationalschicksale und eine Durchsicht in die freie Zukunft eröffnet wurde, haben diese drei Helden unsrer Literatur das Wesen der deutschen Rede und der Beredsamkeit überhaupt, nämlich das Gespräch in seiner Würde, behauptet. Die dramatischen Werke Schillers, Lessings Nathan, Goethes Tasso und Egmont gehören viel mehr in die Gattung des Gesprächs, als des Dramas.

Ist es nicht ein größeres Gespräch, ein Wechselreden zwischen sich und seinem Gegner, welches der Feldherr in seinem Busen trägt, wenn er seinen Plan entwirft. Kann er siegen, wenn er an irgendeiner Stelle seines Kalküls die Antworten, die Gegenwirkungen seines Feindes unbeachtet gelassen, wenn der Feind ihm größere Argumente und Kräfte entgegensetzt, als von denen er selbst schon überzeugt ist. Mit der Idee des Gesprächs beginnen alle Wissenschaften: zwischen zwei ewig streitenden Formen der Wahrheit, die sich in tausendfältigen Metamorphosen der verschiedenartigsten Naturen, Neigungen, Ansichten und Lebensweisen darstellen, erhebt sich in steigender Herrlichkeit unergreiflich, unergründlich die Eine ewige Wahrheit; aus dem Feuer des Streits und des Gesprächs, bevor es noch zur Asche zusammensinkt, geht sie glänzender, überzeugender, empfundener hervor. Die einzelnen Sprecher verstummen, die Systeme, die sie in hoffärtiger Anmaßung selbst herrschend aufgetürmt, versinken, aber das Wort selbst, das lebendige Wort, das Gespräch und die darin als Seele waltende Wahrheit ist ewig.


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