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Es gibt eine Kunst des Hörens wie des Redens, und da der Redner, meiner Vorschrift gemäß, außer sich selbst noch die Person seines Gegners sprechen lassen soll, so ist klar, daß er die Kunst des Hörens, die Kunst des Innewerdens fremder Naturen, und ihrer Art und Eigenheit in demselben Maße besitzen müsse, als die Kunst des Eindringens in fremde Naturen vermittelst seiner Rede: diese beiden Künste bedingen einander; niemand kann größerer Redner sein als Hörer.
In der Musik wird die Welt diese meine Forderung leicht zugeben; wer singen lernen will, muß ein musikalisches Ohr haben; und wer Musik als Kunst und nicht als bloße Schmeichelei des Ohrs empfinden will, soll sein Ohr für die Musik ausgebildet haben, wie derjenige seine Stimme oder seine Instrumentalfertigkeit, der sie hervorbringt. Überhaupt glaubt man von allen Künsten, daß, um sie zu genießen in der Fülle dessen, was sie gewähren, man sie selbst üben müsse. Nur in der Redekunst soll es hinreichen, daß der empfangende Sinn, das Ohr, offen stehe und über sich ergehen lasse. Man setzt vielleicht dunkel voraus, daß ein Sinn, der täglich geübt werde, durch eine Kunst, wie die des Redens, die in keiner Lage des Lebens ganz entbehrt werden könne, keiner absichtlichen Nachhilfe bedürfe, und daß die Seele, diese Künstlerin aller Kunst, schon von selbst kluge und eifrige Türhüterin des Haupteinganges, der zu ihr führt, sein werde. –
Zuvörderst aber übersieht man dabei, daß die ganze Welt durch die Rede ausgedrückt wird, wie denn überhaupt für alles, was die Welt dem Menschen gewährt, an Gütern, an Schätzen, an Genuß, an Erkenntnis, nur ein einziges würdiges Äquivalent von Seiten des Menschen an die Welt zurückerfolgt: nämlich die Rede, d. h. die vermenschlichte Welt: man übersieht also, daß durch diesen Sinn des Ohrs Großes empfangen wird und Kleines, Gewaltiges und Schwaches, Unermeßliches und Geringfügiges, daß also in sehr verschiedener Art, bald in großer bald in leichter und flüchtiger Manier empfangen werden muß; daß also dasjenige Ohr, welches nur gewöhnt ist zu empfangen: – guten Morgen oder wie geht es? oder was kostet das? – um deswillen nun noch nicht grade geeignet ist, eine Rede von Johannes Müller an die Schweizer, oder von Gentz für das europäische Gleichgewicht oder irgendeinen andern Wortredner der Völker nach Würden anzuhören. Nicht etwa weil die Kenntnisse, die wissenschaftlichen Vorbereitungen fehlen, die zum Verständnis dieser Redner gehören, sondern weil das Ohr an großartige Wendungen der Rede nicht gewöhnt ist, weil von den breitgetretenen, zerbröckelten Tönen des gemeinen Lebens, worin kein Gesetz herrscht, als das der Not, kein Takt, als der der Faulheit, eigentlich kein Übergang stattfindet zu dem harmonischen Ganzen, was ein überlegender Geist mit Freiheit und rhythmisch angeordnet hat. –
Ferner übersieht man, indem man dem Ohr an und für sich schon die gehörige Bildung zutraut, die Eitelkeit der Menschen; sich untätig verhalten, über sich ergehen lassen, ist keine Kunst, aber zu leiden, mit Verstand und Würde zu empfangen, ist überall eine ebenso große Kunst, als zu handeln, oder mit Geist, mit Geschmack und mit Kraft zu geben. Aber weil die Kunst des Handelns und so auch des Sprechens sichtbar ist, weil die Wirkung von ihr auszugehen scheint, weil sie ganzen Massen von Menschen und Kräften angenehme Gewalt anzutun scheint; dagegen die Kunst des Leidens und des Hörens weniger in die Augen springt – so ergibt es sich, daß zuletzt in jeder gegebenen Gesellschaft viel mehr Personen reden als hören wollen, während die Natur das ganz Entgegengesetzte zu wollen scheint, indem sie angeordnet hat, daß zwar viele hören können was einer spricht, unmöglich aber einer hören kann, was viele zu gleicher Zeit reden. Die Eitelkeit der Menschen macht, daß das Sprachorgan viel mehr geübt wird als das Ohr, daß man von der Seele, die, wenn irgendwo, so in der Mitte zwischen diesen beiden erhabenen Organen liegt, sich mehr und mehr entfernt, und auf mechanischem Wege die höchste Wirkung hervorbringen will, die dem Geist über den Geist je gelingen kann.
Das Auge empfängt alle Bilder, alle Farben, alle Eigentümlichkeiten der Welt: was gibt es der Welt zurück als seinen zwar ausdrucksvollen, aber stillen Glanz? Der Geschmack, der Geruch, für welche die Natur die zartesten Verhältnisse der Körperwelt zu mischen scheint, was geben sie der Natur zurück? Womit antwortet der Mensch auf alle Wohltaten und Schmeicheleien seines Gefühls und aller dieser Sinne? – Alle seine Schuld bezahlt er, all dieses unendliche Empfangen vergilt er, auf alle Fragen der Natur antwortet er mit dem Vermögen der Rede: aus allen diesen Bildern, diesem Glanz, diesem Duft, diesem Wohlgeschmack, diesen tausendfältigen Anregungen des Gefühls bereitet sich ein einziger, einfach-unendlicher Stoff: das Wort. Der Sinn also, dem die Natur das Vermögen der Antwort beigegeben, der nicht bloß zum Leiden bestimmt ist wie die übrigen, hat einen höheren Beruf als die übrigen. Auch zeigt sich die Wahrheit dieser Behauptung deutlicher darin, daß unser Ohr das Gesetz der Welt ganz für sich, und fast ohne Beihülfe der übrigen empfinden kann: an der Musik ist wahrzunehmen, und die meisten musikalischen Virtuosen bestätigen es, daß dieser Sinn der unabhängigste von allen ist, ja, ich möchte sagen, daß der ganze Mensch sich in das Ohr zurückziehn, mit diesem einen Organe leben, denken und dichten, und alle andere Organe im tierischen Zustande hinterlassen kann. Wie Großes haben die Alten gemeint, als sie von einer Harmonie der Sphären redeten, als wenn die Gesetze der wunderbaren Anordnung des Weltbaus doch eigentlich nur das Ohr empfinden könnte! –
Die Eitelkeit der Menschen nun will lieber auf diesen Sinn wirken, als Eindrücke durch ihn empfangen; darüber geht das Vermögen, höhere Eindrücke dieser Art zu empfangen, und natürlich auch die Kunst, sie durch die Rede zu bewirken, allmählich verloren. Und gesetzt auch, die Natur sorgte für die Bildung des Ohrs, so verdirbt sie der Mensch durch das eitle, unglückliche Bestreben, mehr auf die Welt zurückzuwirken, als diese auf ihn einwirkt. –
Endlich übersieht man, indem man unsrem, der heutigen kultivierten Europäer Ohr von selbst schon die gehörige Bildung zutraut, die Verwirrung und Verkehrung im Reiche der Geister, welche die Buchdruckerkunst angerichtet. – In den Zeiten vor dieser segensreichen, aber auch verderblichen Erfindung, wurde die Kunst der Schrift nur angewendet für die Abwesenden und Nachkommen: für die Gegenwärtigen hingegen, für die Zeitgenossen, für alles, was man mit seiner Brust und Stimme erreichen konnte, galt die lebendige Rede. Es war wie mit den Geldverhältnissen: wo man sich erreichen konnte, da vergalt man einander mit der Kraft seiner Hände und mit Diensten, man zahlte dem Gegenwärtigen und Zeitgenossen mit der Person: nur für die Entfernten, für die Abwesenden, für die Zukunft bediente man sich des Goldes und Silbers. – Gold und Silber verhält sich zur lebendigen Tat grade wie die Schrift sich zu dem lebendigen Worte verhält. Als sich alle praktischen Verhältnisse des Menschen in Geldverhältnisse, und alles Reden der Menschen in den höheren Geschäften des Lebens, nämlich im Regiment der Staaten und des Reiches der Wissenschaften in schriftliche Verhandlung auflöste; als nunmehr keine unbezahlte, persönliche Hilfsleistung im ganzen Gebiete des bürgerlichen Lebens, als etwa zwischen Eltern und Kindern zurückblieb, als die lebendige Rede nur in den ganz gemeinen und alltäglichen Verhältnissen des Lebens ihr Recht behielt – wem möchte es befremden, daß von da an die Tatkraft dieses Geschlechts gelähmt, die Gewalt des göttlichen Organs der Rede gebrochen und gebeugt, und das Ohr für alle höheren Eindrücke, die man höchst unnatürlicher Weise dem dechiffrierenden Auge zuwies, verschlossen wurde? –
Wurde dieses Geschlecht um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, wo diese große Verwandlung vor sich ging, plötzlich so gebrechlich, ohnmächtig, oder durchdrungen von dem Gedanken seiner Vergänglichkeit, daß es sich an dem Golde und an der Schrift, an den bleibenden Eigenschaften dieser Dinge festhalten wollte, oder ist es nur durch den Mißbrauch jener beiden Gaben, des Geldes, wozu Amerika, der Schrift, wozu die Buchdruckerkunst verleitete, in Tat und Wort so zurückgekommen? – Ich will es nicht entscheiden – aber ich weiß, daß jedes gesunde Gemüt diese Umkehrung der Natur mit mir empfinden und beklagen muß. –
Seitdem die Buchdruckerkunst gemein wurde, verschwindet nun nicht mehr das Schlechte, Falsche und Unbedeutende, wie ehemals gleich nachdem es gesagt wurde, zerfließt nicht mehr in die gemeine Luft, der es mehr angehörte als dem Geist: es bleibt, es rückt in ganzen Geschwadern, nach beschleunigtem Verhältnisse wachsend, wie die Bibliotheken unsrer Zeit zeigen, auf die unglücklichen Nachkommen los; genau ebenso wie das ökonomische Unglück, welches in früheren Zeiten von dem Geschlecht, das es betraf, unmittelbar getragen, abgeschüttelt wurde, und dann mit den Leidenden dahinstarb, sich nunmehr, seitdem alle Tat und Handlung in Golde ausgedrückt wird, in schweren und immer schwereren Schuldenmassen auf die Nachwelt wälzt. –
Die Organe der Sprache und des Gehörs sind ihrer edelsten Funktionen beraubt, sie feiern, sie verrichten unnütze Dinge oder doch nur den allergemeinsten Hausdienst; nur ganz auf der Höhe des europäischen Lebens, im Privatleben der Franzosen, und im öffentlichen Leben der Briten, den beiden besten Früchten, welche die letztvergangenen Jahrhunderte erzeugt, dauert, wie ich neulich gezeigt, ihre alte Bedeutung fort. Wie kann man also voraussetzen, daß das Ohr schon von selbst hinlänglich gebildet werde, in einer Zeit, wo von allem Klange der Rede, von aller Lebensfülle, von allem Brausen der bürgerlichen Taten, von allem Gesange der Poesie früherer Jahrhunderte nichts zurückgeblieben, als ein einförmiges Rauschen der Bücherblätter in einsamen Gemächern, wie ein ähnliches totes Rauschen der Blätter im Herbst statt allen fröhlichen Tumultes der schöneren Jahreszeit zurückbleibt! –
Nachdem die Rede aus dem Gebiet des Ohrs in das Gebiet des lesenden Auges, nachdem sie aus dem Gebiete der Stimme in den Wirkungskreis der schreibenden Hände einmal höchst unnatürlicherweise versetzt worden, so erstirbt sie nun auch, schrumpft zusammen, vertrocknet mehr und mehr: Das Wort schwindet ineinander und wird mehr und mehr zur Zahl. Alle Wissenschaften, alle bürgerlichen Geschäfte lehnen sich, halten sich an der geliebten Zahl, sie verpuppen sich, wie gefräßige Insekten, in Gespinsten von Zahlen und Formeln. Die Popularität der Kartenspiele zuletzt parodiert auf eine sehr zierliche Weise das ganze sonderbare Wesen, die ganze Zeit spiegelt sich in diesem einfachen Vergnügen: eine Kombination gewisser Zahlenverhältnisse statt des gesellschaftlichen Gesprächs, und ein kleiner Geldkommerz statt der persönlichen Berührung.
– – Sie sehn, ich gehe etwas weit in der rhetorischen Wendung, mit der ich diese Vorlesungen eröffnete, – nämlich in den Anklagen dessen, was zu verteidigen meine Schuldigkeit und meine Absicht ist: zuerst war es Deutschland, in dessen Sprache und in dessen Sinn ich doch eigentlich rede, nun ist es gar das gesamte Zeitalter, das ich doch eigentlich nicht fallen lassen darf, aus dem einfachen Grunde, weil ich einmal nicht heraus, und mir ein andres suchen oder schaffen kann. Aber ist es denn so etwas Kleines, einen vergeßnen, stiefmütterlich vernachlässigten Sinn des Menschen zu verteidigen und zu reiten, da nur noch vier andre sich, gar nicht einmal zu schließen, sondern nur auf ähnliche Weise abzustumpfen brauchen, damit von dem ganzen Geschlecht, seinem Tun und Treiben nichts Redenswürdiges mehr übrig bleibe? Ist die Kultur dieses adligsten Sinnes und mit ihm die Beredsamkeit wieder herzustellen durch bloße Vorlesungen und Regeln über die Beweisführung, über die Erregung der Leidenschaften usw. in Blairs und Priestleys und Batteuxs Manier? Ganz Griechenland hat Jahrhunderte hindurch sprechen müssen, erst mußte das letzte Bauerweib auf dem Markte von Athen durch bloße Bildung des Ohrs unterscheiden können, was attisch und was schön griechisch war, was nicht, bevor Demosthenes kommen durfte. Dass ein Einziger sprechen kann wie es sich gehört, dazu muß beitragen die Nation, müssen beitragen die Weltumstände, so gut als der, der die Beredsamkeit lehrt. Weil ich eine einzelne Wissenschaft, eine einzelne Kunst erlernen will, so schließt sich deshalb auf so lange die Welt nicht zu, noch steht sie unterdes stille: weil ich nun aber nicht sprechen kann, wenn mein Volk nicht mitspricht, und weil die Welt aber, indem sie fortläuft, stören könnte mein Werk und mein Lernen, und weil sie zuletzt doch all mein Lernen erst erfrischen, beleben muß, und weil es ihr zugute kommen soll, so habe ich mich früh gewöhnt, die lebendige Welt mit der Wissenschaft und Kunst von vornherein zu verweben. Das Band der Dinge ist ja was wir eigentlich suchen; in dem was das Wort und die Tat, den Gedanken und das lebendige Leben miteinander verknüpft, liegt das Geheimnis der Beredsamkeit; läge es in den Häkchen und Fäden, welche Worte an Worte und Redensarten an Redensarten binden, so wäre es von der Silbenstecherei unsres Jahrhunderts längst entdeckt. – So viel zur Entschuldigung, wenn ich oft von etwas mehrerem rede, als der Beredsamkeit.
– – Es gibt also eine Kunst zu hören, und ich bin fest überzeugt, daß wer sie in gehörigem Maße besäße, durch bloßes Ausüben dieser Kunst, durch bloßes sinnreiches und lebendiges Anhören einen andern zum Redner machen könnte. Man kann in jedem Theater bemerken, wie viele Grade gesteigerter Aufmerksamkeit es in einer Versammlung von Menschen gibt, und wie viele Grade der Stille, die in gewissen Momenten jene Atemlosigkeit der ganzen Natur erreicht, die man auf den Gipfeln sehr hoher Berge wahrnimmt: man kann unzählige Arten der Aufmerksamkeit und des Anteils bemerken, und man wird innewerden, daß der Mensch deshalb, weil, und solange als er hört, nicht auch stumm ist. Der große Schauspieler weiß, was er von den bestimmten und hergebrachten Manieren der Antwort von seiten des Publikums, vom Händeklatschen, und von dem eigentlich schreienden und brausenden Beifall zu denken hat: aber wenn eine große Versammlung von der Macht der Rede so überwältigt wird, daß sie die konventionelle Antwort vergißt, daß sie wie mit einem einzigen Ohre horcht, und jeder Atemzug nur sorgt, wie er sich in die gelegentlichen Pausen der Rede fügt, und einzelne leise, kurze Laute der Bewunderung mit unverabredeter und doch überraschender Gleichförmigkeit aus der immer tieferen Stille heraustreten, wenn die ganze Versammlung sich unsichtbar, aber ganz deutlich aneinander lehnt, jeder empfindet, daß er nur Glied eines größeren Menschen ist, der angeredet wird, dann ergreift auch den Künstler auf der Bühne etwas ihm selbst Unerwartetes, größer als Menschliches, nicht etwa eine gemeine Verwandlung in das was er darstellt, nicht etwa eine Trunkenheit der Begeisterung, aber eine gewisse göttliche Ruhe; das ganze Gerüst von Vorübung und Studium seiner Rolle verschwindet, die Bemühung wird unnütz, das Talent selbst tritt zurück; es ist als wenn ein höherer Geist, der Dichter oder irgendwer sonst den ganzen irdischen Apparat dieser Kunst entrückt hätte, als wenn er durch den Mund des Künstlers redete, und als wenn derselbige Geist in seligem Anschaun seines eignen Werks auch durch das Ohr der Versammlung wieder horchte; es ist als wenn jene glückliche Gemeinschaftlichkeit des Bodens und des Himmels, von der wir in unsrer vorigen Unterhaltung sprachen, alle überkäme, und als wenn zwischen Parterre und Bühne die Grenze des Proszeniums verschwände, welche die Kunst eigentlich immer aufheben sollte, wie die Alten andeuteten, indem sie die Bildsäule des Gottes, die Neueren, indem sie die Musik an diese Grenze hin verlegten. –
Dies sind die Augenblicke, wo jeder im Hören empfindet, daß auch er reden könne: in solchem Moment mag Schiller sich selbst, und außer sich etwas Göttliches, und somit seinen ganzen Beruf in seiner Brust empfunden haben. Wenn wir uns aber erinnern, daß dieser Zustand der Vereinigung in dem Wort, der uns in den dermaligen betrübten Umständen unsres Lebens nur selten, und dann zufällig und vorübergehend befällt, der eigentlich natürliche Zustand des Menschen ist, daß wie das Element des Fisches das Wasser, des Vogels die Luft – so das Element des Menschen die lebendige, die gesprochene, die empfundene Sprache ist; wenn wir uns ferner erinnern, daß wir die gegenwärtige unmittelbare Gewalt der Töne, und somit das eigentliche Element unsres Daseins aus allem höheren Leben verdrängt haben, daß wir dieses Element, das nur gehört werden kann, sehen wollen in Zeichen und Schriftzügen, daß selbst die Franzosen in ihrer glänzendsten Zeit es doch auch nur geschmeckt haben – so müssen wir eingestehn, daß wenn auch von Deutschland insbesondre, doch nicht weniger vom ganzen Zeitalter die Klage unsres Dichters gilt: Spricht die Seele usw. – Sie ist um so wahrer, als sie auch vollständig gilt, wenn man sie umwendet und sagt: Hört die Seele usw.
– – Nur unter großartigen Leiden lernt der Mensch großartig handeln, nur durch den Gehorsam lernt er herrschen, nur durch Hören lernt er reden. Das Handeln, das Befehlen an sich, etwa durch ein Vormachen und Vorbefehlen – läßt sich nicht lernen; ebensowenig das Sprechen durch Vor- und Nachsprechen, wie unser ganzes Zeitalter glaubt. Einem großen und beredten Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts ward ein vornehmer Zögling gebracht, daß er an dem immer gegenwärtigen Muster seiner Sprache und seiner Schrift die Kunst der Beredsamkeit sich aneigne: Schreibt, antwortete ihm dieser, so will ich Euch sagen ob Ihr schreiben könnt; mehr vermag ich nicht über Euch. Dieser Autor fühlte, daß in dieser erhabenen Kunst kein gemeines Übertragen stattfinde; noch sinnvoller aber hätte er sagen können: lest, so will ich euch sagen ob ihr schreiben könnt; hört mich an, und ich will euch bestimmt anzeigen, ob ihr reden könnt. –
Aber, höre ich mir einwenden, ist denn das Hören, und zwar selbst das recht künstliche Hören, mehr als ein geistiges Nachsprechen; ist denn das Hören nicht eben deshalb die Schule des Redners, weil es ein stilles Angewöhnen des Redens ist? – Was? Genügt es mir, wenn ich rede, daß sich jedes meiner Worte in dem Hörer eindrückt und abformt wie das Siegel in dem Wachs, und daß jede Wendung meiner Rede ihn bewußtlos und durch eine kalte Notwendigkeit stellt und richtet, wie die Wetterfahne der Wind? Ich verlange ja eine Antwort, ich will ja Freiheit gegen mir über, und Selbstbestimmung; keine Maschine, die zu regieren es ja noch mechanische Kräfte in der Welt gibt, und wozu nicht die Wunderkraft des Wortes erst auf eine lächerliche Weise gemißbraucht werden darf. Sie sollen ja nicht verstummen, sondern sie sollen hören! – Ich will ein Bestimmtes erreichen durch meine Rede – wohlan! weil ich ein Mensch bin; aber noch eifriger will ich, daß meine Rede andre Redner erwecke, daß sie entzünde das Gespräch meines Volks und meiner Zeit, daß sie andern den Mut gebe, zu sagen und auszusprechen die Leiden, die Hoffnungen und den Stolz dieses Jahrhunderts – warum? weil noch außer dem Menschen etwas Göttliches in mir ist, etwas, das ich selbst mit der Erreichung aller meiner Wünsche, und mit der Überredung aller meiner Gegner nicht zur Ruhe bringe! –
Das Hören ist eine Manier des Antwortens; und da in jedem gegebnen Augenblick die Natur, wie der Sprecher im britischen Parlament, nur einem einzigen, der grade zuerst aufgestanden ist, das Wort erlaubt, so hat sie andrerseits die, welche für diesen Augenblick nachstehn, schweigen und hören müssen, mit einer unsichtbaren Beredsamkeit begabt, mit Zeichen, mit einem stillen Widerstreben gegen jede rednerische Gewalttat, mit sehr vernehmlichen Andeutungen, mit sehr empfindlichen Belohnungen, und – was mehr als alles dies ist, in den Augenblicken wahrer Berührung mit dem Redner, oder des vollständigen Gelingens seiner Absicht – mit dem stolzen, verklärten Gefühl des Erfülltseins von demselbigen göttlichen Geist, der durch den Mund des Redners spricht. – Auch hier nötigt die Natur (grade in dem Augenblick des menschlichen Gelingens, wo die Abgötterung anfangen könnte dessen, dem es gelungen ist) sanft zur Gerechtigkeit. So überhaupt, wenn der Mensch am größten wird, so wird er gehorsames Instrument eines höheren Geistes; man kann ihn nicht achten, ohne zugleich etwas Höheres anzubeten; und in ihm selbst –, je mehr äußere Ursachen zum Stolz, um so mehr innere Gründe zur Demut; so wie ich oben zeigte, daß die Liebe zu einem irdischen Gegenstand am höchsten stiege, wenn sie fromm und gerecht würde.
– Vergessen Sie gütigst für den Augenblick uns lesende, schreibende Redner, und alle gelehrte Barbarei und alle Stubenangewöhnungen unsrer Zeit. Denken Sie sich einen lebendigen, improvisierenden Redner, der nicht die eigentliche Rede schon zum voraus an das Papier gehalten hat, den nicht Bibliotheken und Drucklettern und der Flitterglanz des schriftstellerischen Ruhms, auch nicht weiter die stumme Natur mit ihren sogenannten Schönheiten zum Reden begeistert, sondern der menschliche Gesichtszüge vor sich haben muß, den zum Reden antreibt, was den wahren Helden zum Siegen, nämlich die Fähigkeit der Antwort, die Unüberwindlichkeit, die Freiheit, das Heldentum seines Gegners, der, wie die Helden der Ilias, nur redet, wenn er gefragt wird, oder angeredet, oder wenigstens angelächelt, oder doch von nichts Geringerem als einem Gott angetrieben wird. – Solchem Redner gegenüber läßt sich erkennen, daß der Hörer, wenn er schweigt, nicht stumm ist, daß er unaufhörlich eingreift und tragen hilft, daß er mit leisen Bewegungen des Blickes oder der Augenbraunen, mit leisem Zucken der Muskeln, mit unmerklichem Lächeln, mit Rührungen, die kaum den Kristall der Augen anhauchen, mit Atemzügen, mit Pulsschlägen möchte ich sagen, und mit allen den leichten Geberden, die von dem gewöhnlichen Tumult des Lebens übertäubt werden, den gewaltigsten Redner regiert. Glauben sie mir: jeder große Buchredner oder wahrhafte Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts wurde was er war hauptsächlich durch die Kraft seiner Phantasie, mit der er diese stillen Geberden eines aufhorchenden Volks in die Zwischenräume seiner Reden flocht, mit der er alles Geliebte, Geachtete, Verehrte, alles was je auf seine Bitten gehört, auf seine Fragen geantwortet hatte, im Geist um sich her versammelte: er wurde nur Redner inwiefern er die Kunst besaß in tausendfältigen Weisen und in der freien Manier der verschiedenartigsten Naturen sich selbst anzuhören; nicht die armselige Kunst sich mit gelehrter, einsamer Selbstgefälligkeit selbst im Geiste nachzusprechen, sondern die Kunst sich anzuhören wie ein Dritter, mit Protestation, mit Opposition, mit andern Gesinnungen, nicht bloß mit einem andern Ohr, sondern fast mit einem andern Herzen als dem seinigen. –
Darum gedeiht in Republiken die Beredsamkeit, nicht bloß, weil jedem mitzureden erlaubt ist, sondern weil jeder frühe gewöhnt wird einzugehn in die freie Gesinnung, in das Ohr des Nachbars, weil, wer herrschen will, so vieles Unabhängige, so viel eigentümliche Weise zu hören und zu empfinden, neben sich dulden muß, und so vielen gehorchen muß. Darum ist man auch in unsrer Zeit den Frauen gegenüber gewöhnlich beredter, als den Männern, weil man mit einem zarteren Ohre, mit einer gewissen Empfindlichkeit des Anstands und der Sitte, kurz mit einem fremden Ohre, dem sich keine Gewalt antun läßt, auf das hören muß, was man sagt. –
Die Kunst zu hören besteht also in der freien Herrschaft, die man über diesen Sinn erhält, in der Fähigkeit im Sinn des andern zu hören, und doch zugleich sich selbst zu hören; kurz, sie besteht, wie alle Kunst, wie insbesondere die musikalische, in der Fähigkeit Akkorde, Harmonien zu empfinden, die nicht jedem angeboren ist, oder nicht etwa deshalb schon geübt wird, weil das Ohr offen steht und mit sich geschehen läßt. – Schärfer den Ton von dem Nichtton und einen Ton von dem andern unterscheidet der Wilde; das Tier sogar ist in der Fertigkeit, die Eindrücke der Sinnenwelt zu zerlegen, ohne weitere Lust kalt zu zerlegen, geschickter als der Mensch; aber den Wohlklang, die Akkorde unter dem was zugleich geschieht, das Ebenmaß, den Rhythmus, die Melodie zwischen dem was aufeinanderfolgt, die Macht, das Feindselige, das anscheinend Unvereinbare, durch ein Gesetz der Harmonie in seiner Brust zu versöhnen, die Kunst, aus den streitenden Kräften dieser Erde sich ein Gefühl der ewigen Ruhe zu bereiten, die Last zweier erbitterten Parteien wie zwei schwere Flügel auf seine Schultern zu nehmen, sich grade mit dem, was die andern Geschlechter der Erde dumpf zu Boden drückt durch sein Gewicht, durch Ebenmaß um so freier zu erheben – darin besteht die adlige Natur des Menschen. – Alle Sinne des Menschen sind für diese schönste Eigenheit empfänglich: aber ihre Lehrmeister, die selbst, ich möchte sagen, unmittelbar von Gott dieses große Gesetz empfangen, und es vor allen andern pflegen und bilden müssen, sind die Organe des Gehörs und der Stimme. Tiefsinnig schweigt die mosaische Offenbarung von allem andern Unterricht Gottes: er lehrt den ersten Menschen nichts weiter als die Sprache, das ganze harmonische Gesetz der Welt; die eigentliche Herrschaft über die Welt ist ihm hiermit übergeben, und die Schöpfung des Menschen ist nunmehr vollendet.
– – Es gilt also nicht von dem menschlichen Gehör, sondern nur von dem spürenden, unterscheidenden Instinkt des Wilden und des Tiers, daß es von Natur schon in der gehörigen Verfassung, und durch bloßes Offenstehn der Ohren schon so gebildet sei als es werden könne. Wie aber, fragen wir, soll das Ohr sich künstlerisch ausbilden, wenn nicht gesprochen wird, wenn das Zeitalter schreibt wo es reden sollte? Wohlan, üben wir diese wichtige Kunst zugleich mit der Gerechtigkeit gegen die großen verstorbenen, und die zu unsrer Freude noch fortlebenden Zierden der Nation, die einsam, ohne Berührung mit dem Volke, zu dem sie sprachen und für das sie lebten, ohne Antwort, als die sie selbst sich zurückriefen indem sie gehorsam eingingen in das Gemüt und die Denkweise der Mitbürger, ohne Belohnung, außer dem zweideutigen, vielbeneideten und viel verbitterten Lobe entfernter Zeitgenossen, denen sie nie ins Auge gesehn, und außer dem Zeitungsruhm, den sie mit den Unwürdigsten ihrer Zeit teilen mußten, die dennoch, ohne alle Gunst der Umstände, ohne alle Witterung des Glücks, diese deutsche Sprache so ausgesprochen haben, so erfüllt und beseelt, daß sie sich heut ganz behaglich anhört, ganz mutig neben die andern vielbegünstigten Sprachen Europas stellen kann. Seien wir gerecht gegen die Dichter und Redner der Nation, indem wir sie lesen lernen, was wir jetzt noch nicht können: ich meine lesen, mit lebendiger artikulierter Stimme, indem wir sie – damit ich mich selbst wiederhole, wo es an seinem Ort ist, »eifersüchtig mißgönnen dem Papier, herausreißen aus den toten Lettern, der Buchdruckerkunst zum Trotz mündlich, wie Frankreich und Italien die seinigen längst, mündlich überliefern« der deutschen Nachwelt, die uns dann, frühe geübt, frühe gewöhnt an die vaterländische Harmonie, in der Kunst zu hören, also auch in der Beredsamkeit übertreffen möge.