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V. Vom guten Geschmack

In dem Umgang mit der Poesie, habe ich gesagt, schleift die Beredsamkeit ihr allzu rauhes, männliches Wesen ab, sie dämpft und mäßigt ihre Leidenschaftlichkeit, sie erfüllt sich von jenem Geiste des Anstands, von jenem Sinn für sittliche und gesellschaftliche Beschränkung, der mit dem Worte Geschmack bezeichnet wird. Das Beispiel Frankreichs, des Vaterlands des guten Geschmacks im heutigen Europa, scheint mir zu widersprechen: vielmehr aus dem Umgang mit der Welt, aus den Berührungen des gesellschaftlichen Lebens, aus der Protektion glänzender Höfe, aus dem Wetteifer ausgezeichneter Talente, die sich anerkennen, also achten, also gegenseitig beschränken müssen, wenn sie miteinander bestehen wollen, scheint die eigentliche Blüte des Geschmacks hervorzugehen. In Frankreich scheint vielmehr sich aus der Beredsamkeit der Nation die geschmackvolle Form der Poesie zu entwickeln, als die Beredsamkeit sich im Umgange mit der Poesie zu veredeln und zu läutern. – Aber, könnte man fragen, sind es nicht eigentlich die Alten, deren Studium im heutigen Europa und zumal in Frankreich die Bildung des Geschmacks erweckt hat; war vor dem Wiederaufleben der griechischen und römischen Literatur und Kunst in Europa vom Geschmack die Rede? Hat sich nicht eigentlich das siècle de Louis XIV. nur angeschlossen an das Jahrhundert Leo X., dieses an das Jahrhundert Augusts, wie früher das Jahrhundert des August an das Zeitalter des Perikles, und fließen also nicht alle Schönheiten der Form, die wir in der französischen Literatur entdecken, und die jene geheimnisvolle Forderung des guten Geschmacks befriedigen in letzter Instanz, aus jener griechischen Quelle? Nirgends aber haben sich Poesie und Beredsamkeit gleichmäßiger entwickelt, als in jenem griechischen Vaterlande der Beredsamkeit, nirgends ist die Grenze beider strenger gezogen worden als dort: nirgends fühlt man wie im Studium der griechischen Literatur, daß sie in einem Geschlechtsverhältnis zueinander stehn, daß sie sich untereinander veredeln und vermenschlichen, nirgends sind die Zwittergattungen der poetischen Prosa und der prosaischen Poesie so unerhört, oder doch der Gegenstand eines so entschiedenen Abscheus. Nirgends läßt sich so deutlich nachweisen, daß die später vollendete Beredsamkeit zwar von dem gesellschaftlichen und politischen Leben erweckt, aber nur im Umgange mit der Poesie veredelt, und den Forderungen eines reinen Geschmacks gemäß ausgebildet worden sei. – Aus dem Kampfe der Parteien, aus der vielfältigen Berührung des gesellschaftlichen Lebens, muß sich ein lebendiges Gespräch, also auch die Beredsamkeit entwickeln, aber der Sinn für die Schönheit muß weit verbreitet sein, er muß wie Luft und Himmel alle Parteien, alle Glieder der Gesellschaft umfangen, wenn die Erzeugnisse der Beredsamkeit jenen unaussprechlichen Reiz erwecken sollen, der umso wunderbarer wirkt, als er unsichtbar, unbegreiflich nur im Ebenmaß, in den Verhältnissen, in der Ruhe des Werks besteht. Das was den Geschmack befriedigt an einem Werke, ist eben jenes Unsichtbare, was alle folgende Jahrhunderte reizt und anspricht: die Zeiten mögen sich ändern, andre Forderungen, andre Sitten, andre Wünsche mögen kommen, den Durst, die Sinnlichkeit des Tages mag man auf andre, mag jede Zeit auf ihre eigentümliche Weise befriedigen – was aber den Geschmack der Seele, den guten Geschmack einmal wahrhaft befriedigt hat, befriedigt ihn immer. Wie die kommenden Zeitalter äußerlich gestaltet sein werden, wissen wir nicht, – daß ihnen Thucydides, Platon, Demosthenes gefallen werden, wissen wir.

– Wie aber wird der Sinn für die Schönheit allgemein, so daß er den Redner im Tumulte des Forums bezwingt, daß er den Sturm der erhabensten Leidenschaft selbst, der Leidenschaft für das Gemeinwesen, für die Gesetze, für das Vaterland mäßigt, daß der Rhetor die gewaltigsten Mächte in seiner Brust ruhen läßt oder der Schönheit zum Opfer bringt? – Die Beredsamkeit muß oft gastlich einkehren dürfen in jener höheren Region, in jener Heimat der Poesie: oft dasselbige Vaterland, in dessen Parteiungen sie lebt, mit dem klaren Auge, mit der ruhigen Seele des Dichters unter ihren Füßen erblicken: sie muß sich oft erhoben haben über ihre Zeit, wenn auch in ihren Werken jede kommende Zeit etwas empfinden soll, was erhaben ist über die Zeit. Also der Konflikt der Kräfte allein, die Bewegung des Marktes, der Reiz der Gegenwart allein ruft nicht hervor, was hinauszuklingen verdient über die Gegenwart: die ewige Schönheit selbst, oder doch ihr Geist, ihre Enthaltsamkeit, ihr Maß, wie die Werke der Poesie es niedergelegt haben für den edelsten Sinn, den Sinn der Rede und des Wortes, – muß den Redner ergreifen. Nun sagt er, was, sobald es gesagt worden, allen kommenden Jahrhunderten gehört, was also niedergeschrieben zu werden, in die Literatur seines Volks, ja in die Literatur der Menschheit, möchte ich sagen, überzugehen verdient.

– Wie die höhere Gesellschaft aller Nationen des heutigen Europa eine Neigung zeigt sich untereinander zu verbinden und zu verähnlichen; wie ungeachtet aller schroffen Gegensätze in den Meinungen der einzelnen Völker auf der Höhe sich alles wieder ausgleicht, und nach einerlei Form und Geschmack, wenn auch nicht grade nach Einheit der Gesinnung strebt, – dieselbe magnetische Anziehung untereinander zeigen die vier erwähnten Epochen des Perikles, des Augustus, Leo X. und Ludwig XIV., die ich die vornehmen Epochen der Weltgeschichte nennen möchte. Es ist Griechenland, welches in der Weltgeschichte den vornehmen Ton angibt, wie es im heutigen Europa Frankreich ist: Rom und Frankreich eigneten sich nur das Allgemeingültige aus den griechischen Formen an, so wie die heutigen europäischen Höfe das Allgemeingültige von den französischen Formen: wir hätten also die Genealogie des guten Geschmacks nachgewiesen, das Eigentümliche jener vier Epochen war eine höhere Blüte der Beredsamkeit, ihre nächsten Veranlassungen eine lebhaftere Berührung und Wechselwirkung der verschiedenartigsten Talente, aber alles daran was den guten Geschmack befriedigte, die unhandgreifliche Schönheit, welche die Welt bezauberte, ist aus der harmonischen Bildung der Griechen und dem Umgange ihrer Beredsamkeit mit ihrer Poesie herzuleiten. So groß war der Einfluß der griechischen Bildung auf die Nachwelt, daß die Franzosen, welche die Werke der Griechen von den Römern, also aus der zweiten Hand empfingen, noch Gesetzgeber des guten Geschmacks für ein ganzes Jahrhundert und für einen ganzen Weltteil werden konnten. – Ich will nicht leugnen, daß in den drei letzten Epochen des August, Leos und Ludewigs der jedesmaligen Blüte des Geschmacks eine gewisse Einheit der Gesinnung vorausgegangen war, die bei Erklärung dieser Epochen am allerwenigsten vergessen werden darf, und die dem Geschmack einer jeden dieser Zeiten eine ganz eigentümliche Sicherheit, wie seinen Werken einen ganz frischen, unerborgten Glanz mitteilt. So in dem Zeitalter des August der gewaltige Nachklang römischer Freiheit, ein gewisses Heldentum des Herzens, ein Panzer der Gesinnung, den die weiche Brust eines Virgil noch mit Anstand zu tragen weiß, eine gewisse Ritterlichkeit, die in harmonischer Verbindung mit einem so sanften Gemüt zumal auf Frankreich eine unwiderstehliche Wirkung machen mußte: so ferner im Jahrhundert Leo X. das Bewußtsein der großen vorangegangenen Glaubensverbindung und der Größe des christlichen Italien, welche den Häuptern der Literatur und Kunst eine Sicherheit, ein Selbstgefühl und eine unzerstörbare Jugendlichkeit gibt, wie die anderen Epochen nicht aufzeigen können: so endlich würde dem Zeitalter Ludwig XIV. ohne die vorhergegangene höchste Ausbildung des Rittertums und der Galanterie, ohne Franz I. und Bayard grade der höchste Reiz mangeln. Aber was ist es, das, wenn durch solche nähere, auch mitunter größere und heiligere Veranlassungen ein Jahrhundert seiner selbst bewußt wird, unmittelbar an die früheren Epochen erinnert? Wie kommt es, daß jede spätere dieser Epochen eine innere Notwendigkeit empfunden hat, sich anzuschließen an die frühere? Wie kommt es, daß grade bei der Verschiedenartigkeit der näheren Veranlassungen der republikanischen Größe der ewigen Stadt, des Glanzes der katholischen Religion im späteren Italien, und der ritterlichen Galanterie von Frankreich, die Führer dieser verschiedenen Literaturen doch solche Verwandtschaft fühlen, daß sie sich aneinander fügen, daß Virgil, Tasso und Racine, daß Cicero, Macchiavelli und Bossuet, kurz, daß alle großen Geister der einen Epoche unwillkürliche Freundschaft empfinden für die der früheren, und daß jede kommende Zeit an diesen Bund des Geschmacks sich notwendig anschließen muß? – Es ist der alte griechische Wein, der sich notwendig im Fasse wieder rührt, wenn es draußen Sommer geworden ist und die Reben wieder blühen. – Es ist die griechische Poesie und ihr harmonisches Verhältnis zu der Beredsamkeit jenes Volks; der gute Ton für die Geister aller Jahrhunderte ist einmal angegeben, sie können der eignen Größe, der eignen Anmut sich nicht bewußt werden, ohne diesen reinsten Formen der irdischen Schönheit zu huldigen! – Sie empfinden mit unmittelbarem Wohlgefallen was sie sind, aber sie erkennen es nur an dem Maßstabe, welchen sie von den Griechen empfangen. – Übersehen wir neben dieser historischen Darstellung des Einflusses der Poesie auf die Beredsamkeit nicht, daß die Forderung des Geschmacks eigentlich nur an die Beredsamkeit gemacht wird oder an die rhetorischen Dichter, an die vornehmen Dichter: man fühlt einen Mißbrauch des Wortes Geschmack, wenn man es auf Homer, auf Dante, auf die Nibelungen, ja selbst auch auf Ariosto und Shakespeare anwenden wollte, zum deutlichen Zeichen, daß von diesen Dichtern, welche unzertrennlich sind von dem Geiste der Poesie, verschmolzen in die Harmonie der Natur, welche sie aussprachen, vielmehr alles Gesetz des Geschmacks abgeleitet wird, als daß sie selbst irgend einem solchen Gesetze unterworfen werden könnten. – Versetzen wir uns also in unsre Zeit, in eine Zeit, die sich dem Gesetze des Geschmacks unterwerfen möchte, wenn sie es selbst zu finden und auszusprechen imstande wäre; nehmen wir an, wir wüßten von Griechenland so wenig als von Virgil und Tasso und irgendeinem andern Zeitalter, als dem Ludwigs XIV., und versuchen wir aus der instinktartigen Forderung und Nachfrage der gebildeten Leute unsrer Zeit, bloß mit Hilfe der französischen Literatur, das Wesen des guten Geschmacks aufzufinden.

Es gibt nichts abgeschmackteres als das deutsche Wort geschmackvoll; man kann einen Kunstrichter, einen Philologen, einen Dichter, ein Gemälde, ja die unbedeutendste Gartenanlage, oder ein Zimmerameublement nicht schlechter empfehlen, als wenn man sie geschmackvoll nennt. Es ist als wenn sich der Deutsche die Schönheit nur unter der Gestalt großer Vorräte, oder den Wohlgeschmack überhaupt nur bei einem vollen Munde denken könnte. Die Seele, indem sie ihren Geschmack veredelt, wird nicht etwa erfüllt, sondern sie wird vielmehr geleert, sie entäußert sich des unnützen Überflusses, sie ordnet sich, sie fügt sich unter gewisse Verhältnisse, die mit dem mehr und weniger durchaus nichts zu schaffen haben. Durch das Aufhäufen der Erscheinungen und Werke, die im Rufe stehn den guten Geschmack zu befriedigen, wird in der Regel grade der Reiz, den sie einzeln für sich haben mochten, wieder zerstört. Der gute Geschmack offenbart sich vielmehr in dem was verschwiegen, als in dem was gesagt wird, vielmehr im Vermeiden, im zierlichen Ausweichen als im Schaffen, im Geben – vielmehr in der Resignation als im wirklichen und im positiven Genuß. –

Das Wort Geschmack ist uns Deutschen im Anfange des vorigen Jahrhunderts zugleich mit den freien Künsten selbst aus Frankreich zugekommen, in einem Augenblick, wo wir völlig uneingedenk waren des Großen und Unermeßlichen, was wir selbst in früheren Zeiten im Gebiete der Kunst geleistet, und so haben wir denn den unverhofften Reichtum nicht recht zu sortieren gewußt: es war uns in dem Zustande der gelehrten Austrocknung etwas blühendes angeflogen, ein Füllhorn von Schönheit war über uns ausgeschüttet worden, und so wußten wir denn in dieser Wohltat eine geraume Zeit hindurch nichts wahrzunehmen als die Fülle: ein Stil voller Bilder, ein sogenannter blühender Stil hieß ein geschmackvoller Stil; ein Philolog, der seinen alten kritischen Kram mit Exklamationen über die Schönheit seines Autors durchspickte, hieß ein geschmackvoller Philolog; ein Pedant, der den alten hergebrachten Schulverstand mit einigen eleganten gesellschaftlichen und artistischen Leichtfertigkeiten versetzt hatte, hieß ein geschmackvoller Gelehrter und Kunstrichter.

Es ist offenbar, daß der Mensch an wahrem Reichtum nicht zunehmen kann, ohne sich zugleich immer mehr zu beschränken; jeder Besitz eines geliebten Gegenstandes nimmt vielmehr ungefälliges von uns, schleift vielmehr rohe Seiten unsres Wesens fort, schäumt den unnützen Überfluß ab, als daß er den Vorrat unsrer Güter vermehrte: wir erkennen immer bestimmter unsre Schranken, werden das was wir sein können und sollen, und so schmeckt zuletzt die Welt uns an, sie spürt es jeder Bewegung unsrer Person, jeder Wendung unsrer Werke an, daß wir in vielfältiger Berührung mit ihr gewesen sind. Der gute Geschmack ist eine Eigenschaft, welche sowohl Personen als Werke nur in der menschlichen und bürgerlichen Gesellschaft erlangen können. Von der Schönheit eines Kindes oder irgendeines reizenden Gegenstandes, der entfernt von der bürgerlichen Gesellschaft in seinem eignen Gesetze lebt und blüht, wäre die Forderung des guten Geschmacks so unpassend als von Homer. Diese natürlich schönen Gegenstände können den Geschmack bilden helfen, aber ewig nicht seiner Regel unterworfen oder danach beurteilt werden.

– Es ist in dem menschlichen Gemüte eine dunkle Forderung, daß das gesellschaftliche Leben und alle Werke der absichtlichen Kunst das durch Bewußtsein, durch vielfältige Berührung der Außenwelt, und durch den Einfluß der Regel werden sollen, was jene natürlich schönen Gegenstände bloß dadurch schon sind, daß sie da sind. Der Jonische Himmel, die Jugendschönheit gesangreicher Völker, und alle die Umstände, aus denen die Homerischen Lieder entsprossen sind, wie Zweige aus dem Baume, treffen nicht wieder zusammen: aber alle diese Bedingungen leben, wenn auch zerstreut, fort in der menschlichen Brust; das Wesentliche in ihnen dauert. Nur die Seele des Homer war so einfach, daß sie alle Vielfältigkeit der Welt durch den klarsten offensten Sinn, den Sinn des Auges, in sich einströmen lassen konnte: die Töne, in welchen sie zurückgab, waren dennoch harmonisch. Wir Spätgebornen hingegen, die wir am Ende der Zeiten stehn, müssen gegen die Vielfältigkeit der Welt, gegen die erdrückende Masse der Erscheinungen die Augen schließen: denn wir bringen ihnen eine zerstreute Seele entgegen; wir schließen den klarsten Sinn, damit er uns nicht zerstreue, und öffnen dagegen den dunkelsten Sinn, den Sinn des Geschmacks, um die harmonischen Verhältnisse, die wir mit Absicht erreichen wollen, herauszuspüren. So richtig gewählt und so tief bedeutend ist das Wort Geschmack! – Wer vieles genießen will, sagt der Dichter, genieße jedes in seiner Art, so ist er am besten besorgt! Wollen wir Homer und Shakespeare und alle aus dem mütterlichen Schoß der Natur vollständig gerüstet entsprungene Dichter einerseits, aber auch andrerseits, die absichtlichen Werke des Virgil, des Tasso, des Racine, beide genießen, gegen beide gerecht sein, so lassen Sie uns den jedem von ihnen angemeßnen Sinn eröffnen. Es ist ungeschickt auf beiden Seiten, wenn man die Schönheit des Shakespeare bloß schmecken will wie die Franzosen, oder wenn man die Schönheit des Racine bloß sehen will wie die Deutschen. Die eigentümliche Schönheit eines Kunstwerks versteht niemand, der nicht in die Bedingungen eingeht, unter denen der Meister arbeitet, der nicht vorwalten läßt in sich den Sinn und die Gesinnung, die im Meister bei der Entstehung des Werkes vorwalteten.

– Ich darf nunmehr hoffen verstanden zu werden, wenn ich die Dichter der obenerwähnten vier glänzenden oder vornehmen Zeiträume der Weltgeschichte rhetorische Dichter nenne. Die eigentlichen poetischen Dichter, mit deren jugendlicher Schönheit ein gütiges Schicksal die alternde Welt immer wieder hat erfrischen wollen, fallen in die dunkleren Zeiträume zwischen jenen glänzenden. Die französischen Dichter des siécle de Louis XIV., so gut als Virgil, und in vieler Rücksicht auch Tasso gehören der Redekunst: sie stehn unter der Regel des Geschmacks so gut als die Beredsamkeit; sie veredeln sich, sie bilden die eigentümliche Schönheit im Umgange mit den eigentlich poetischen Dichtern; jedes poetische Zeitalter ruft ein rhetorisches hervor; die selbstzufriedene, in sich selbst lebende und blühende Schönheit des Homer ruft den Sophokles hervor, und noch mehr den Virgil, die Epoche des Dante das Zeitalter des Tasso, der Shakespeare den Pope: die rhetorischen Dichter sind nicht selbstzufrieden und göttlich in sich beschränkt wie die poetischen, sie haben einen äußeren Zweck wie der Redner, sie wollen das innre Leben jener, der poetischen Dichter, äußerlich, im Leben, in der Gesellschaft ausdrücken. Und so bietet die Kunstgeschichte der Welt eine schöne Reihe von wechselnden Zuständen dar, von poetischen Zeiten, die unerbeten, unerfleht, wie ein reines Geschenk des Himmels auf die Erde kommen, und das eigne Maß und Gesetz ihrer Schönheit mitbringen, und von rhetorischen, die in dem großen Stoff des Lebens, in der Gesellschaft auszudrücken, auszuprägen unternehmen, was sie in der Überlieferung aus den Händen ihrer Vorgänger empfangen. Die Gerechtigkeit zugleich gegen den poetischen Shakespeare und gegen den rhetorischen Racine kann also unmöglich schwer sein, da sie so natürlich ist, und das Gegenteil so unvernünftig, als wenn man neben der Blüte die Frucht, oder die Frucht neben der Blüte verachten wollte.

– Wir haben warnen müssen, daß man den Geschmack, der bloß mit der Form und den Verhältnissen der Schönheit zu tun hat, nicht mit ihrem Gehalt verwechsle; daß man den Geschmack nicht aufzuspeichern, aufzustapeln unternehme, wie unsre deutschen Pedanten; wir haben gezeigt, daß es dabei auf mehr oder weniger durchaus nicht, und wenn ja auf eines von beiden, gewiß vielmehr auf das weniger ankomme. Es gibt aber auch eine französische Art, das zarte Wesen des Geschmacks zu mißhandeln, da man ihn mit dem Konventionellen verwechselt, da man ihn fixiert, in Versteinerung übergehen läßt, oder wohl gar auf den konventionellen Geschmack eines einzelnen Jahrhunderts eine Theorie des Geschmacks zu begründen unternimmt. Noch mehr: viele Menschen wollen den Geschmack selbst wieder schmecken, zu welchem Zweck er erst Speise werden, also aufhören müßte Geschmack zu sein, so wie viele Deutsche ihr Sehen selbst wieder sehen wollen, aus welchem wunderlichen Bestreben sich dann beiderseits nur der Tod und das Nichts, aber nicht die Einsicht in die Wahrheit, nicht das Gefühl der Schönheit ergeben kann. Weil aber die Verwechslung des Konventionellen mit dem, was der gute Geschmack anordnet und verlangt, so viel weniger auffällt auf den ersten Anblick, und so viel verderblicher auf den Geschmack selbst wirkt, so verdient dieser Punkt eine besondere Erörterung.

Wir fragen z. B.: erfordert der gute Geschmack unerbittlich die Einheit der Zeit und des Orts auf der Bühne? – Der gute Geschmack erfordert, daß jede Kunst in ihren Schranken bleibe, daß sie nicht aus dem Bezirk heraustrete, in den sie gehört, daß sie sich nicht anders geberde als es sich für Ort und Zeit schickt. Es gehört zum Wesen der französischen Tragödie, daß die Einheit der Zeit und des Orts beobachtet werde; – etwa weil die Verwandlung der Szenen, und eine raschere Zeit auf der Bühne unwahrscheinlich wäre? Eine kurzsichtige Kritik hat diesen seichten Grund angegeben, und eine andre noch plattere Kritik hat sich die törichte Mühe geben wollen ihn zu widerlegen, und die Wahrheit gegen die Wahrscheinlichkeit verteidigen wollen. Was? es wäre die gemeine Scheu vor der Störung der Illusion; nichts mehr, nichts höheres? es wäre bloß flache Liebhaberei zur Natürlichkeit, bloß Scheu vor allem Gedanken der Kunst, was die Einheit der Zeit und des Orts zur Bedingung der französischen Tragödie machte, während der französische Zuschauer ja grade in allen andern Rücksichten nichts mehr auf der tragischen Bühne verabscheut, als die gemeine Natürlichkeit, während er verlangt, daß die Kunst grell heraustrete, und sich die Übertreibung sogar, wie der Grieche die Maske gefallen läßt, damit nur das worauf es ankommt, Wort und Tat gehörig, wie auf der griechischen Bühne, verkörpert werde. Hätte das französische Publikum für diese Forderung seines Gefühls wirklich keinen besseren Grund, so wäre sie bloß konventionell, eine schlechte Angewöhnung, ja sie wäre geschmacklos, weil sie allen übrigen Forderungen des französischen Zuschauers widerspräche. – Ich will einen bessern Grund angeben! Die französische tragische Bühne ist ein auseinandergelegter Rednerstuhl, aufgeschlagen für diesen bestimmten Ort, für diese bestimmte Zeit, für diesen Hof, für diese wahre Volksversammlung von Talenten, die über dem Jahrhundert Ludwig XIV. zusammenkamen. Die französische Tragödie geht nicht aus auf die allgemeine Erhebung des menschlichen Gefühls, sie will eine ganz bestimmte Wirkung, einen ganz bestimmten Zweck: Racine hat vor seinem Schreibtisch das Porträt seines großen Monarchen, und sein ganzes Gefolge von Heldentum und Schönheit steht vor seiner Seele; er buhlt weder um den Beifall der Welt, noch ist er sich selbst genug; er will Frankreich gefallen, und denkt nicht an mehr: er läuft in jeder Tragödie fünfmal Sturm auf das Herz von Frankreich, und wäre Sieger, wenn er durch die Gewalt der Rede seine Nation bezwänge, obschon die ganze übrige Welt unberührt bliebe von seinen Worten. Britannikus soll in dieser französischen Hoftracht erscheinen: das römische Kostüm beobachten wäre geschmacklos, weil der Redner aus seinen Schranken treten würde; die Verwandlung der Szene wäre geschmacklos, weil eine Prätension auf Natürlichkeit darin läge, die das ganze übrige Werk und seinen Charakter zerstörte. Die französische tragische Bühne verlangt im Ton aller Schauspieler eine Art von Gesang, der allen gemein ist: man will erinnert sein, daß eigentlich nur einer spricht: der Dichter, der rhetorische Dichter. Spräche jeder Schauspieler in seinem eignen Ton und Rhythmus, so wäre es ebenso geschmacklos, als wenn ein Redner seine Stimme verwandeln, seine Partei nachmachen wollte, während er sie redend einführt. Die französische Tragödie will den Tod nicht auf der Bühne dulden, wie überhaupt die rednerische Handlung durch kein Schauspiel, kein Spektakel irgendeiner Art, durch keine unnützen Requisiten unterbrochen werden soll. – Aus allen diesen Gründen, und weil beide Völker dieselbe Forderung an die Bühne machen, vertragen sich Aristoteles mit seinen Griechen und Frankreich sehr wohl. Es ist keine Forderung, die sich an die Beredsamkeit, an eine Rede, die an ein solches Volk und solchen Hof gehalten wird, machen ließe, welche die französische Tragödie nicht zu vollkommener Befriedigung des Geschmacks erfüllte; ja es läßt sich auf dem ganzen Gebiete der Kunst keine Erscheinung nachweisen, die nach Maßgabe der Umstände so vollständig wäre, was sie sein kann, und so genau der Absicht gemäß das was sie sein soll.

– Sind aber deshalb die klaren hohen Weltgemälde William Shakespeares geschmacklos, weil sie sich nicht an die Einheit der Zeit und des Orts halten, weil die Schauspieler in Stimme und Kleidung sich verwandeln sollen, weil wirkliches Spektakel der Rede zu Hilfe kommt, weil die einzelnen Personen in dem Charakter ihrer Natur handeln und wirken, weil der Dichter sie wirklich entläßt, unabhängig, mündig heraustreten läßt an die Welt, weil sie wie Statuen freistehn: während die Personen der französischen Tragödie halb erhaben, wie im Basrelief, auf einem festen Hintergrunde, nämlich der Seele des rhetorischen Dichters erscheinen? Sie sehn in diesem Beispiele ganz deutlich, wie der poetische Dichter für Auge und Ohr, der rhetorische Dichter für das Ohr und den Geschmack, nach Art des Redners arbeitet: wie also auch jener nur durch jene, dieser durch diese Sinnenallianz gerichtet werden kann, Shakespeare – und dasselbe gilt von Homer und von allen poetischen Dichtern – ist nicht geschmacklos: sondern seine Werke fallen überhaupt nicht in das Gebiet des Geschmacks, weil die Klarheit seiner Gestaltungen, die tüchtigen, aus der innersten, geheimsten Tiefe der Natur nach außen hin gezeichneten Umrisse seiner Schöpfungen sich überhaupt nicht schmecken lassen, weil sich das Licht nicht mit einem dunkeln Sinne ergreifen läßt. Nicht er ist also geschmacklos, sondern das Urteil über ihn, welches, ganz gegen die sicher und schön durchgeführte Regel der französischen Bühne, verlangt, daß die Intention des Autors sich selbst widerspreche, verlangt, daß er ein andrer sein soll, als der er den Neigungen seiner Nation, seinen eignen Wünschen und seiner Elisabeth gegenüber sein kann – dies Urteil ist geschmacklos, und so liegt überhaupt in sehr vielen Fällen die Geschmacklosigkeit vielmehr in der Ansicht des Kritikers, als in dem Künstler, dem sie Schuld gegeben wird. –

– Die Fähigkeit: der Absicht, den Umständen, der Schicklichkeit, kurz den Bedingungen, welche die Gesellschaft auflegt, gemäß zu handeln, zu sprechen und zu sein, das zu viel zu vermeiden, und – dann immerhin auch – das zu wenige zu ergänzen – ist im allgemeinen genommen Gerechtigkeit. Im wirklichen Leben, wo sich tausend Gestalten im bunten Gewühle der Erscheinungen dem Richter aufdrängen, ihn zu verführen, zu bestechen drohn, schließt sie die Augen; dies ist die bekannte Gerechtigkeit, welche eine Binde trägt: sie schmeckt das richtige heraus. Es würde paradox scheinen, wenn man vom Oberrichter der Kingsbench in England, oder von den abstimmenden Zuhörern des dortigen Parlamentsgesprächs sagte: der Geschmack sei ihr höchstes Gesetz. Nichtsdestoweniger läßt sich von dem wahren Richter nichts bestimmteres, treffenderes sagen: er ist Richter der Beredsamkeit, die Advokaten, die Parlamentsredner, die Landesgesetze, die Landesgeschichte – alles spricht vor ihm – und über die Beredsamkeit gibt es kein andres Gericht als das des Geschmacks; in allen Verhältnissen des wirklichen Lebens kein unentbehrlicherer Sinn als der des Geschmacks. Im idealischen Leben der Poesie hingegen, wo die Gestalten schon geordnet sind, schon alle einem Gesetz, einer Regel, einem Rhythmus unterworfen, wo sie sich nicht mehr zerstreuen, nicht mehr zerfließen können in Gestaltlosigkeit, da müssen die beiden Haupteingänge der Seele, Auge und Ohr geöffnet werden: diese Gerechtigkeit kann keine Binde tragen, denn sie soll ja ihr Gesetz empfangen von der Poesie, die es aus einer schöneren Welt, aus einer höheren Ordnung der Dinge, sanft vermittelnd ihr herüberreicht.

– Es springt in die Augen, daß das Urteil des Geschmacks nie ruhen, nie stillstehen, nie zur konventionellen Regel werden darf. Wie die wirkliche Welt in rastloser Umgestaltung sich fortbewegt, wie heut in den Umständen dieses Tages unschicklich wird, was gestern schicklich war, in derselben Beweglichkeit folgt das Urteil des echten Geschmacks dem Wechsel der Welterscheinung; nur das Steife, das Starre, das Ungelenksame, die Versteinerung des Konventionellen, dann das Überfließende aus sich selbst, unaufhörlich aus seinen Grenzen herausschwankende, unsichre, ist das ewig Geschmacklose. Der Gipfel des Geschmacklosen ist zu verlangen, wie Lessing sagt, daß allen Bäumen eine Rinde wachse. – Daher sind es reiche Welterfahrungen, vielseitige Wechselwirkungen mit dem lebendigen Leben, die den Geschmack des Menschen anregen und bilden, weil sie ihn fortreißen in den Gang der Welt, weil, im Fügen unter tausend wechselnde Umstände des äußerlichen Lebens, auch seine Seele allmählich sich fügen lernen in die verschiedenartigsten Formen. So erwirbt der Mensch, was ich den à plomb des Geistes, die äußere Haltung in der Rede, wie in der Handlung nennen möchte: aber ganz sicher, und ganz bewußt der erhabnen Mitgift des Geschmacks wird der Mensch, zumal der Redner, nur durch den stillen Umgang mit der Poesie, d.h. mit dem Göttlichen.

Das Wesen des echten Geschmacks ist, glaube ich, angedeutet, indem seine Grenzen gezogen sind, was bisher noch nicht geschehen war: das Wesen der Beredsamkeit ist bestimmt, auch – indem ihre Grenzen gezogen sind – gegen das Gebiet der Poesie, von der sie streng getrennt sein soll, damit sie ewigen Umgang und innige Freundschaft mit ihr pflegen könne. Wir haben die rhetorische Poesie, die wesentlich auf unser Gebiet gehört, mit herüber genommen; dafür geben wir der Poesie was ihr gehört, die poetische Beredsamkeit, nämlich jene Meisterwerke zurück, welche durch eine äußere prosaische Form unsre rhetorische Betrachtung herauszufordern scheinen, wie Don Quixote und Wilhelm Meister, aber durch alle ihre inneren Eigenschaften, ihre Absichtslosigkeit, ihre Freiheit, ihre Ironie, ihren poetischen Bau, in jene Sphäre gehören, über die, da der Geschmack allein unsre Richtschnur sein muß, wir nichts vermögen.


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