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VIII. Das Hochzeitsfest

Leontinens Brief empfing Irma an ihrem Hochzeitstage, als schon der Brautkranz in ihrem Haar befestigt war, das glänzende weiße Brautgewand schon ihre Gestalt umhüllte. Ein Schauer durchrieselte sie bei diesen finstern Prophezeiungen, die sie wieder und immer wieder las, bis sie jedes Wort derselben glühend in ihrem Herzen empfand. Dann zerriß sie langsam das traurige Papier, und streute die Stücke mechanisch um sich her.

»Das sind traurige Blumen, die mir an meinem Ehrentage gestreut werden,« sagte sie mit einem herzzerreißenden, melancholischen Lächeln, und ihr Antlitz zeigte sich farblos und todesbleich. »Levotine mag Recht haben, aber es ist zu spät!« – Sie senkte ihr Haupt auf ihre Brust und stand lange schweigend, sinnend da. Dann richtete sie sich auf, und aus ihren Augen blitzte das edle Feuer der Entschlossenheit und Kraft.

»Wenn es denn zu spät ist, zurückzutreten,« sagte sie mit einer Stimme, in der ihre ganze Seele zitterte, »wohlan, so will ich muthig vorwärts schreiten. Leontine soll an mir eine falsche Prophetin werden. Bei Gott, ich will glücklich machen, und wo eine Menschenseele ernstlich Etwas will, da giebt Gott seinen Segen und seine Stärke!«

In diesem Augenblick ward die Thür geöffnet, und Irma's Vater trat herein. Sie schritt ihm lächelnd entgegen, und reichte ihm die Hand dar. Der Geheimrath blickte sie an, dies wunderbare Aufleuchten ihrer Blicke, ihres ganzen Wesens überraschte und rührte ihn zu gleicher Zeit, und diese Rührung zu bergen sagte er scherzend: »Wie eine Königin so stolz und sicher stehst Du da. Ja, es scheint mir, Du seist größer, schlanker geworden.«

»Dies mag sein, mein Vater,« sagte Irma lächelnd, »meine Seele ist auch gewachsen in diesen Tagen, und ich fühle noch die Schmerzen dieses Wachsthums!«

»Solche Wachsthumsschmerzen sind Kinderkrankheiten, aus denen man zum Glück und Lebensgenuß hervorwächst,« sagte der Geheimrath seine Tochter umarmend. »Aber komm, Irma, damit diese Ceremonie bald beendet werde! Die Gäste sind Alle schon versammelt, und Arnold harrt Deiner in meinem Studirzimmer, um Dich zum Traualtar zu führen.«

Irma legte ihren Arm in den ihres Vaters, und folgte ihm dahin. »Sind viele Gäste versammelt?« fragte sie zitternd vor der Antwort.

»Alle unsere Freunde und Bekannte, und mit einer lobenswerthen Pünktlichkeit, die ich, wie Du weißt, sehr hochschätze. Urban war, wie gewöhnlich der Letzte, aber gewiß nicht der Gleichgültigste. Er scheint wirklichen innigen Antheil an uns zu nehmen, und konnte nicht müde werden, mir seine Freude, seine Theilnahme an dieser Verbindung zu schildern.«

Sie standen bei diesen Worten vor der Thür des Studirzimmers, in welchem Arnold ihrer harrte.

»Einen Augenblick, ich bitte,« flüsterte Irma, kraftlos an die Thür sich lehnend, und der Geheimrath erschrak über die Todtenblässe, den tiefen Ausdruck des Leidens in dem Antlitz Irma's, während ein krampfhaftes Zittern ihre ganze Gestalt durchbebte.

»Wie, eben noch so freudig vertrauensvoll, zitterst Du jetzt vor der nahen Entscheidung?« fragte der Geheimrath, sie sanft an sich drückend. »Aber dies Bangen ist natürlich, ist Deiner edlen, jungfräulichen Seele werth. Wer zitterte nicht, die Schwelle zu überschreiten, hinter der ein unbekanntes, fremdes Leben ihn erwartet!«

»Es ist schon vorüber,« sagte Irma, sich aufrichtend, mit farblosen Lippen, aber ruhig und gefaßt. »Kommen Sie, mein Vater!«

Sie öffnete selbst die verhängnißvolle Thür, und nickte Arnold freundlich lächelnd zu. In diesem Augenblick ertönte in der Ferne die erhabene, feierliche Weise einer Choralmelodie, und die ziehenden, halb verklingenden und seufzenden Waldhornklänge schienen Irma zu rufen, und zugleich sie zu trösten mit Luther's schönem Choral: »Wer nur den lieben Gott läßt walten«. Sie lehnte ihr Haupt an die Schulter Arnolds und hörte lautlos und still, ohne sich zu regen, diesen Klängen zu, die immer näher und näher erklingend, jetzt mit mächtigem schmetterndem Posaunenklang wieder dieselbe Weise begannen.

»Wer nur den lieben Gott läßt walten,« flüsterte Irma leise, und langsam flossen ein paar Thränen über ihre bleichen Wangen. – Jetzt verstummte die Musik. Die Thüren zum Salon wurden geöffnet, und an der Hand ihres Verlobten schritt Irma mit gesenkten Blicken durch die Reihe der Versammelten zu dem kleinen in der Mitte des Zimmers errichteten Altar, vor dem der Priester ihrer harrte.

Die Trauungsceremonie war vollendet; Irma hatte mit fester, tönender Stimme das bindende Ja gesprochen, und empfing jetzt mit anmuthigem Lächeln, und zugleich mit stolzer Ruhe die Glückwünsche der Gesellschaft. Aber sie hörte kaum, was man ihr sagte, sie wußte kaum, was sie erwiederte, ihre Seele zitterte einer bangen, entsetzlichen Minute entgegen; hatte Urban den Muth gehabt zu kommen, so würde er auch, vielleicht um sie zu kränken, zu prüfen, ihr seinen Glückwunsch sagen, und ihm gefaßt, ruhig und ernst entgegen zu treten, das forderte sie von ihrer Kraft, ihrem gekränkten Stolz, ihrer verrathenen Liebe. Aber schon hatte sie die Glückwünsche aller Gäste empfangen, und noch immer stand Urban fern; sie fühlte seine Blicke auf sich gerichtet, sie fühlte, daß er sie beobachte, und dies Gefühl gab ihr Muth und Stärke.

»Er soll mich nicht schwach und kleinlich finden,« sagte sie sich selbst, »er soll auch nicht glauben, daß ich ihn meide und das Begegnen mit ihm fliehe.«

Sie ging an ihm vorüber, und lehnte sich in die Fensternische, unfern von ihm. Jetzt trat Urban zu ihr, und wie sich ihre Blicke begegneten, lasen sie einander in denselben weder Schmerz noch Liebe, nur trotzigen Stolz und Zorn.

»So einsam, schöne Braut?« fragte Urban mit einer Stimme, die so herbe war, daß Irma es wie einen Stich in ihrem Herzen empfand. »Aber freilich,« fuhr er fort, »wer sollte die Einsamkeit suchen, wenn nicht die Glücklichen. Und Sie sind glücklich, wie wäre dies anders möglich! Herr Arnold ist Geheimer-Regierungsrath geworden, mit bedeutender Gehaltszulage. O, eine glänzende Parthie das, und Sie thaten ganz Recht ihn allen Ihren andern Verehrern vorzuziehen. Ein unermeßliches Unglück nur, daß wir Sie verlieren! Denn Ihr überaus glücklicher Herr Vater sagte mir, daß Sie heute noch abreisen. Ist das wahr, Frau Geheimräthin?«

»Ich glaube!« sagte sie, anscheinend gelassen.

»Sie glauben! O, wie rührend ist dieses unterwürfige, schüchterne: ich glaube! Die stolze, gefeierte Irma ist gedemüthigt durch Liebe, sie hat keinen eignen Willen mehr. Sie ordnet sich in Allem dem Geheimrath, ihrem Gemahl, unter. Man sehe dieses Wunder der Liebe. Wahrlich, der Geheimrath ist beneidenswerth. Er wird doch kurzweg Geheimrath genannt, nicht wahr?«

»Ich denke wohl,« sagte Irma, ihren Schleier über ihre Schultern ziehend, als solle dieser sie schützen gegen die boshaften Pfeile ihres unerbittlichen Feindes. Unendlich rührend und schön war sie in dieser stillen ergebungsvollen Ruhe, das Haupt leise und matt seitwärts geneigt, als erwarte sie den Schlag des tödtenden Schwertes, auf ihrem bleichen sonst so stolzen Angesicht die Klarheit und Milde eines Engels. Und wie Urban sie so anblickte, fühlte er seine Brust zerrissen von tausend Qualen, schrie und klagte Alles in ihm, und erfüllte ihn mit unsäglicher, peinigender Wuth des Schmerzes. Vielleicht hatte er sie nie so sehr geliebt, als eben jetzt, wo er zugleich so glühend sie haßte! O er hätte sie in seine Arme drücken, mit seinen Küssen sie betäuben, ersticken mögen, um ihr dann mit zornigem Schmerz den Dolch in die Brust zu stoßen. All sein Blut gährte und wallte in ihm. Er fühlte sich wie berauscht, taumelnd und schwindelnd, es schwirrte vor seinen Blicken, und seine düstern flammenden Augen erschienen geröthet von dieser furchtbaren, innern Kraftanstrengung, ruhig zu scheinen bei diesem rasenden Sturm in ihm. Ihre anscheinende Ruhe erhöhte nur noch seinen Zorn. O, er hätte sein Herzblut, sein Leben darum geben mögen, diesen Augen Thränen zu erpressen, diesen stolzen, ruhigen Zügen den Ausdruck der Angst, der Pein zu geben, sie zittern zu machen vor Zorn oder Schmerz.

»O, ich will ein Gedicht schreiben,« sagte er mit funkelnden Augen, »ein Gedicht zum Lobe geheimräthlicher, gagenerhöhter Liebe, und das Mädchen, das einen gagenerhöheten Geheimrath liebt, soll meiner Poesie beständiges Ideal sein. Sagen Sie mir einen Namen für dies hochherzige Mädchen meiner Träume! Einen Namen für diese neue Priesterin der Ehe!«

»Nennen Sie sie Irma!« sagte sie ganz ergeben.

»Ich danke Ihnen! O wie Sie gütig sind! Ja, Irma soll diese Heldin meines Gedichtes über die moderne Ehe heißen, Irma das freie, stolze, göttliche Weib, das mit einem kühnen Heldenlächeln Herzen mit dem Fuße fortstößt, um über das Schlachtfeld gemordeter Schwüre dahin zu schreiten zu dem gagenerhöheten Geheimrath, zur himmelstürmenden Siegesfeier von Belle-Alliance. Ich danke Ihnen für Ihren Namen, für die Begeisterung, die an diesen Namen sich knüpfen soll.«

»Ich bin schon belohnt dafür durch Ihre sichtliche Freude,« sagte sie, sich zusammen raffend.

»Und alles Gold, das hinfort ausgemünzt wird und jeder neue Titel, den ich höre, er soll mir mit dem Namen: Irma! klingen, und nur diese will ich feiern, nur diese zu verklären suchen, fluchen will ich den empfindsamen, demüthigen frommen Weibern, die lieben nur um der Liebe willen, nur um glücklich zu machen, nur um den Geliebten alle Wonnen und alle Entzückungen Himmels und der Erde kosten zu lassen. Und es giebt deren, denken Sie, Geheimräthin, es giebt deren, die solchem thörichten Wahn veralteter Liebe noch anhängen. Aber eine Priesterin der neuen Zeit ist aufgestanden, eine Verkündigerin der glücklichen neuen, emancipirten Ehe. Nicht wahr, der erste Cultus dieses neuen Gottesdienstes ist das Kniebeugen vor Titel und Würden?«

»Ich glaube!« sagte Irma müde, und lehnte, die Augen schließend, ihr Haupt zurück an das Fensterkreuz, wie eine gekreuzigte Märtyrerin, bleich und still, und gottergeben.

»Dank Ihnen, daß Sie durch Ihr entscheidendes Wort meine Ahndung bestätigen! O, dieser Tag soll mir ein ewiger, unvergeßlicher, heiliger sein, dieser Tag, an dem ich Sie zum ersten Male in dem Würdenschmuck Ihres Priesterthums sah.«

»Wovon sprecht Ihr denn hier so eifrig?« fragte in diesem Augenblick der Geheimrath, Irma's Vater.

»Von der Wiedereinführung der Tortur!« sagte Irma nicht ohne Bitterkeit.

»Und meint Ihr, daß diese Barbarei erneuert werden könnte?« fragte ihr Vater. »Gott sei Dank, in unserm Lande mindestens wird dies unmöglich sein!«

»Doch, mein Vater! Fragen Sie nur Herrn Urban! Er ist ein eifriger Anwalt der Tortur, und hat schon einige kleine Versuche gemacht!«

»Aber in einer neuen Weise,« sagte Urban mit kaum unterdrückter Heftigkeit. »Ich würde die Tortur nicht anwenden, um die Schuld oder Unschuld zu erforschen, sondern als Strafmittel für überwiesene Verbrecher!«

»Aber welch ein Gegenstand der Unterhaltung am Hochzeitstage!« rief der Geheimrath. »Wirklich, man sollte meinen, daß die Acten da nebenan in meinem Studirzimmer aufgestanden sind und als grinsende Gespenster hier Euch umschwirren! Nein, nichts mehr von so finstern Gedanken und Gesprächen. Herr Urban, haben Sie schon eine Dame engagirt? Das Diner wird sogleich beginnen! Ich muß doch sehen, ob –«

Und fort schwirrte der Geheimrath.

»Noch Eins!« sagte Urban. »Es war mir eine süße Genugtuung, Ihren Ehrentag auch für mich zu einem Festtag der Erinnerung zu machen, und denken zu dürfen, daß sich unsere heiligen Gelübde der Liebe und Treue da droben vor Gottes Throne begegnen möchten! Heute in aller Frühe habe ich mich vermählt mit der Schauspielerin Leonore Kostenda.«

»O, ich danke Ihnen!« sagte Irma aufathmend.

»Sie danken mir, und wofür?« fragte Urban befremdet, und wie er sie anblickte, erstaunte er über die plötzliche Veränderung, die in ihren Zügen vorgegangen. »Mein Gott,« sagte er, bebend vor Zorn, »dies Mitgefühl meines Glückes beschämt mich fast. Wirklich ich hatte nicht auf so viel Theilnahme gerechnet! Sie haben das Ansehen einer Verklärten, so freudig und selig glänzt Ihr Antlitz.«

»Ich bin es auch!« sagte sie mit einem liebreizenden Lächeln. »Ich bin ganz freudig und selig, Urban, und ich hoffe, Sie werden es auch sein?«

Sie nickte ihm freundlich und innig, und ging Arnold entgegen, der eben kam, um sie zur Tafel zu führen.

Aber diese Freude über die Nachricht seiner Verbindung stachelte Urban nur auf zu neuem zornigen Schmerz, zu erhöhetem wüthenden Hasse!

»Ich will, ich muß sie demüthigen!« schwur er sich selbst während dieser langen, todeslangen Stunden des Mittagsmahles, und konnte doch nicht müde werden, zu ihr hinzuschauen. Zuweilen rührte ihn ihr Anblick fast zu Thränen, und es war ihm, als müsse er zu ihr hinstürzen und knieend zu diesem bleichen, durchsichtigen Angesicht beten um Vergebung, um Liebe!

»Sie ist ein Engel!« sagte er sich selber, »kein irdisch Weib hat solche Hoheit, mit weiblicher Milde gepaart, solche Blicke voll unendlichen Stolzes und tiefer Demuth zugleich, solch ein Lächeln, voll Schmerz und Güte! Sie ist ein Engel! O Irma, reiner, herrlicher Engel, löse mir doch dies Räthsel, das Dich mir verhüllt, und das mit seiner Undurchdringlichkeit meine Brust zerfleischt! Sage mir doch, wie es kommen kann, daß Du Dich plötzlich vor mir verhülltest, und vor Deine reinen Züge die Maske einer Kokette legtest.« – Aber diese Erinnerung regte ihn wieder auf zu neuem Zorn, und er dachte: »O, so ist ein böser Dämon mit verlockendem, trügerischem Engelsangesicht. O schändlich, schändlich, daß solch ein Antlitz lügen kann, daß ein gemeines, kokettes, lügnerisches Weib so blicken, so lächeln kann, daß die Götter selbst niederfallen und sie anbeten möchten! Pah, sie ist nichts als eine Buhlerin, eine gemeine Kokette, die heute ewige Liebe schwört, und Dich morgen in den Armen eines Andern verlacht, wenn nämlich dieser einen höhern Titel, oder bedeutenderen Gehalt aufzuweisen hat.«

Das lange, glänzende Diner war endlich beendet, man hatte sich von der Tafel erhoben, und stand in einzelnen Gruppen umher. Der Geheimrath hatte sich mit seinem Schwiegersohn auf einen Moment in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, und es drohte eine jener Pausen einzutreten, die bei großen feierlichen Versammlungen so leicht und unvermeidlich sind, als Urban mit erhobener Stimme sagte: »Sie wollen uns heute noch verlassen. Frau Geheimräthin, und es mögen Monate vergehen, ehe wir Alle der Freude Ihres Anblickes wieder theilhaftig werden. Geben Sie für diese lange Entbehrung uns einen Trost mit, und lassen Sie uns noch einmal Ihren köstlichen Gesang vernehmen.«

Man stimmte lebhaft ein in diesen Wunsch und bestürmte Irma mit Bitten.

»So mag es sein,« sagte Irma gelangweilt von diesem Drängen, und schritt, ihre Handschuhe ausziehend, in's Musikzimmer. Sie wählte stumm unter den Noten, unschlüssig, was sie singen wolle.

»Keine große Arie!« bat Urban, »Sie sind unübertrefflich in diesen kleinen Chansons und Liedern, zu deren Vortrag es einer Seele, eines Herzens bedarf. Ich hörte Sie kürzlich ein Lied singen, dessen Einfachheit und stille Schönheit mich fast zu Thränen rührte.«

»O singen Sie uns dies Lied!« bat man von allen Seiten.

»Es war eine Art Klagegesang,« fuhr Urban fort, »eine Todtenklage um ein entschwundenes, verstoßenes Glück.«

»Ach das!« sagte Irma gleichgültig, und blätterte weiter unter den Noten. »Er will mich prüfen,« dachte sie, »er will mein Herz zerfleischen, um endlich einen Schrei der Angst, der Verzweiflung von meinen Lippen zu hören. O, es soll ihm nicht gelingen. Diese Freude mindestens soll er nicht haben!«

Sie setzte sich an's Clavier, und sagte ruhig: »Es bedarf dazu keiner Noten, ich singe es so!«

Urban stellte sich ihr gegenüber, und dachte: »Wenn jetzt tiefe Stirn so ruhig klar bleibt, wie sie ist, so ist sie ein Gott oder ein Teufel, so wohnt kein menschliches Gefühl mehr in ihrer Brust!«

Und Irma sang. Aber es war kein bloßer Gesang, kein bloßes Wiederholen einer vorgeschriebenen Melodie, eines bestimmten Textes, es war eine Apotheose des Geistes, ein wunderbares Mährchen, in den Himmel und Erde jauchzten, in dem alle Thränen, alle Seufzer der Welt schluchzten, die verlorene Liebe weinte und die Reue klagte und schrie. Ein ganzer verlorener Himmel zitterte in ihrer Stimme, als sie die Worte sang: »Ich trug mein Brautgewand, Zu dessen Bleich' ich paßte, Von Steinen glänzt mein Haar, Wie ich ihr Funkeln haßte!« – Wie ein leiser, zitternder Hauch, und doch Allen vernehmlich sang sie die Worte: »Die Welt nennt glücklich mich, Denn einsam nur ich weine,« und dann den Schluß wie den letzten verzweifelnden Aufschrei einer Verdammten, Verurtheilten.

Manches Auge war feucht geworden, manche Wange erblaßt während Irma's Gesang; als sie sich jetzt erhob, zeigte die tiefe Stille umher, welchen mächtigen Eindruck sie gemacht. Unwillkührlich schaute sie auf Urban. Der Pfeil, der sie hatte treffen sollen, war auf ihn selbst zurückgeflogen. Todesbleich, die Züge zerrissen von tiefem, unaussprechlichem Kummer stand er da, mit von Thränen verdunkelten Augen, unfähig eines Wortes, eines kalten, höhnenden Wortes, und doch hätte er die Welt darum gegeben, unter einem solchen seine Qual verbergen zu können. Wie Irma ihn so sah, fühlte sie nichts als das tiefste, heiligste Mitleid, das innigste Erbarmen. Sie hätte zu ihm hintreten, seine Hand nehmen mögen, und ihm sagen: »Urban, wir können uns nicht lieben und nicht besitzen. Aber die Erinnerung gehört uns! Die Stunden, wo wir glücklich waren, sind uns unverloren. Wir wollen sie nicht beweinen, und ihnen nicht fluchen, sie sollen uns versöhnen mit der Zukunft!« –

»Das ist eine traurige kleine Geschichte,« sagte, die Stille unterbrechend, die Baronin von Secken. »Eine Geschichte, die deshalb so tiefergreifend wirkt, weil sie so wahr und unmittelbar aus dem Leben ist. Es mag Wenige geben, die nicht, wenn auch in verschiedener Form, dieselben Empfindungen und Schmerzen gehabt haben.«

»Aber dieser Gesang war von der Art, daß man nur flehen und beten kann um eine Wiederholung oder Fortsetzung,« sagte mit süßlichem Ton einer jener Schönlinge, die in der Gesellschaft zu dem Unvermeidlichen gehören.

»Ach ja, singen Sie uns ein zweites Lied!«

»Fügen Sie diesem Vergißmeinnicht ein zweites hinzu!« rief eine empfindsame Schöne.

»Ja, singen Sie! Bitte, nur noch ein Lied!«

Irma nickte schweigend Gewährung und setzte sich wieder. Langsam, träumerisch ließ sie die Finger über die Tasten gleiten, dann belebte sich plötzlich ihr Angesicht, eine feine Röthe überzog ihre Wangen und wie getragen von innerer Begeisterung sang sie:

Ich hab' Dich viel geliebet,
Und Du begriffst es nicht;
Du hast mich tief betrübet
Und dennoch zürnt' ich nicht.

Ich hab' um Dich geweinet
Wohl manche bange Nacht,
Und Du, Du hast gemeinet,
Daß froh mein Auge lacht.

Ich hab' um Dich gelitten
Der Schmerzen ohne Zahl.
Es hat in mir gestritten
Lieb' und Verzweiflungsqual.

Du kanntest nicht mein Weinen
Und ich nicht Deinen Schmerz.
Drum konnt' uns nichts vereinen
Drum riß sich Herz von Herz.

Du gehest weit nach Norden,
Und ich nach Süden weit,
Doch sind vereint wir worden
Durch Schmerzens Seligkeit.

Stets wird uns eng verketten
Heil'ger Erinn'rung Weh,
Die wollen wir uns retten,
Die bleibt uns! Nun, Ade!

»Und wirklich im Ernst Ade!« sagte Arnold, der leise hinter ihren Stuhl getreten war. »Der Reisewagen hält vor der Thür, und der Geheimrath hat gestattet, daß wir aufbrechen dürfen.«

»So verzeihen Sie einen Augenblick.« sagte Irma aufstehend, »ich kehre sogleich zurück, Abschied zu nehmen.«

Sie nahm Arnold's Arm, und ging langsam durch den Salon. An der Thür blieb sie noch einmal stehen, und schaute rückwärts. Es war etwas Eigenes, Unaussprechliches in dem Ausdruck ihrer Züge, in ihren glänzenden, tiefernsten Blicken. Ob sie auf Urban geschaut, ob sie ihn gesehen, wie er einsam dort in der Fensternische stand, kaum seiner Sinne mächtig, fast wahnsinnig vor Zorn und Schmerz? Niemand hätte sagen können, wohin sie schaute. Ihr Auge schien in die Ferne und Weite gerichtet, ihr Blick schien zu beten und zu segnen.

Als die Thür sich hinter ihrer schönen stolzen Erscheinung schloß, sagte der Geheimrath mit einer Stimme, die fröhlich klingen sollte, aber zitterte vor Wehmuth: »Nun, meine Freunde, um des Himmels willen nur kein trauriger Abschied. Ich hasse nichts mehr als das Abschiednehmen, es hilft zu nichts, und schadet viel, denn es giebt eine so larmoyante Weichheit, und erzeugt allerlei unglückselige Gedanken. Zum Abschied sollte man stets ein heiteres Gesicht machen aus Menschlichkeit gegen sich und Andere. Also woll'n wir heiter sein. Sobald das junge Ehepaar abgereist, beginnt das Conzert, dem ein Ball folgt.«

Man bemühete sich, den Wünschen des Geheimraths nachzukommen, zu scherzen und zu lächeln, und froh zu sein, und was man anfangs geschienen, ward man bald wirklich. Da tönte von unten ein schmetterndes Posthorn herauf, dem das Davonrollen eines Wagens folgte.

»Hei, Musici, blast, blast!« rief der Geheimrath. »Sie sind abgereist! Laßt uns ihnen einen lauten Tusch nachsenden! Hier ist Champagner, meine Herren! Ein Lebehoch den Neuver–«

Hier stockte er, seine Stimme brach, er stürzte den Champagner hinunter, und trank mit dem brausenden Wein seine eigenen Thränen.


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