Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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16.

Wie hatte der Major Schwertes zu Magdalene gesprochen? Hatte er wirklich die Worte gesagt: »Ich habe nie in meinem Leben Vorsehung gespielt und habe niemals einem Menschen meine Freundschaft aufgedrängt!«

Er stand an einem der trübsten Tage, die das zu Ende gehende Jahr zu bringen vermag, am Fenster seines Arbeitszimmers. Trüb und trostlos lag die Welt vor ihm, grau und stimmungslos die Landschaft, die so heiter aussehen konnte, wenn die Sonne über ihr lachte! Kein Sturm – keine Bewegung in der schweren Luft – keine Wolke am Himmel – kein Laut ringsum – nur diese bleigraue, furchtbare Stimmungslosigkeit.

Er sah zum Nachbarhaus hinüber. Wie lange war es her, seit er zuletzt den Tönen einer Sonate oder eines Nocturnos gelauscht hatte! Seit der Sommer gegangen war, hatte das aufgehört. Die Fenster im ersten Stock, die er von seinem Haus aus sehen konnte, waren seit Monaten geschlossen. Am Abend schimmerte Licht aus des Doktors Stube und hin und wieder fiel über den Balkon ein Lichtstreifen – aber nie hörte man eine Stimme. Nur manchmal, wenn die Dunkelheit gekommen war, ging der Doktor wie ein schwarzer Schatten den Gartenweg entlang und verschwand in der nächsten Seitenstraße. Auch gestern, am Abend wieder – und nun stand der Major da und wartete, bis das letzte graue Dämmern zur Finsternis wurde –, wartete auf irgend etwas, was geschehen sollte, und war doch voll Ingrimm, voll Schmerz über das eigene unwürdige Tun.

»Bin ich ein Raubtier?« fragte er sich. »Gehe ich auf Beute aus? Warte ich nicht hier, ob sich daneben irgend etwas ereignen will – und wenn es geschehen ist, dann gehe ich hin und sehe zu, ob etwas geblieben ist, was mir zufallen könnte.«

Mit einem wütenden Ruck ließ er den Vorhang, den er in der geballten Hand gehalten hatte, wieder fallen, lief zum Schreibtisch, zündete sich eine Zigarre an und ging dann mit großen, erregten Schritten im Zimmer auf und nieder.

Wie war dieses in sein stilles, zurückgezogenes Leben eingedrungen? Wie war es möglich, daß Menschen, die ihn nichts angingen, daß Dinge, an deren Entwicklung er nicht das geringste bewirken, fördern oder hindern konnte, solchen Besitz von ihm genommen hatten? Und daß immer das Bild der Frau vor ihm stehen mußte – daß die Angst um sie Tag und Nacht nicht aus seiner Seele weichen wollte! Hatte das Kapitel »Frau« ihn nicht genügend in seinem Leben beschäftigt und hatte er nicht das volle Recht, für immer damit abzuschließen? Im Grunde waren sie doch alle dieselben, wenn sie auch in den Aeußerungen ihrer Handlungen verschieden sein mochten – die einen klug und vorsichtig, die anderen geradeaus und rücksichtslos auf ihr Ziel losgehend. Im Grunde aber doch alle mit der großen Begabung zur Unwahrheit, zur Heuchelei – und alle voll von Eigennutz, immer nur bestrebt, Genuß und Freude für sich selbst zu erhaschen!

Er zog heftig an seiner Zigarre. Im Zimmer war es jetzt dunkel geworden, und er trat, ohne es zu wollen, wieder ans Fenster.

Man wurde so kindisch in der weltabgeschiedenen Einsamkeit dieses Ortes hier. Man freute sich schließlich, wenn der Nachtwächter kam und die Laternen anzündete. Richtig, da kam er mit seiner Stange. Unten in der Straße brannte schon eine Laterne und warf einen rötlichen Lichtschein um sich her. Nun war er am Hause der Breuers, und da ging denn zufällig auch gerade die Haustür. Eilige Schritte tasteten den Gartenweg entlang, die Gartentür kreischte auf und fiel wieder ins Schloß, und ehe noch die Laterne brannte, war der Doktor die Straße hinabgekommen und im Seitenweg verschwunden.

Schwertes blieb wie gebannt an seinem Fenster stehen.

Ein seltsames Gefühl, halb Zorn, halb Glück, zog durch sein Herz.

Nun war sie allein in dem dunklen Haus, das in schweren, kaum erkennbaren Umrissen vor ihm lag. Aus keinem Fenster schimmerte Licht. Dunkel und totenstill war alles um ihn her.

Magdalenens Gestalt erstand vor seinen Augen. Das schmale, feine Gesicht war dicht bei ihm. Die leise, etwas wehmütige, aber unendlich wohlklingende Stimme war dicht an seinem Ohr.

Er sprach ihren Namen aus, trat vom Fenster zurück und saß dann um Schreibtisch. Vor ihm lagen leere Bogen; ein aufgeschlagenes Buch war von einer kleinen Bronzefigur beschwert, ein angefangener Brief war von der Haushälterin so zurechtgelegt worden, daß er dem Major in die Augen fallen mußte. Seit zwei Tagen lagen diese Dinge unberührt, genau an demselben Platze vor ihm, und seit zwei Tagen hatte er – der Mann, der daß Erleben hinter sich geworfen hatte, dessen Haare sich lichteten und ergrauten – nichts anderes tun können, als denken – denken – immer im Kreise dieselbe Gedankenkette wieder durchwandern, bis eine Art von Lähmung in seinem Hirn eintrat, bis er, betäubt und erschlafft, auf seinem Sessel saß und ins Leere starrte.

Was war das? Was hatte das zu bedeuten?

Verliebt? Wie in den Jugendjahren verliebt? Und dazu in die Frau, die einem Anderen gehörte?

Nein – nicht verliebt. Ein sehr häßliches Wort »verliebt«!

Das ernste, schwermütige Wesen einer Frau, wie Magdalene eine war, lehnte sich gegen den leichten Sinn, der in diesem Worte lag, auf.

Also Liebe – in der ganzen Wucht ihrer Bedeutung?

Nein, auch das nicht! Oder wenn es schon Liebe war, dann doch nur eine allgemeine, große Menschenliebe, die sich zufällig auf ein einzelnes Wesen, das vielleicht großer, tiefster Anteilnahme bedurfte, übertragen hatte.

Aber keine Liebe, die besitzen will. Keine Liebe, die mit heißer Stimme redet und deren Worte lauten würden: Mag alles in Trümmer zerfallen – mag die Welt, in der sie jetzt lebt, zugrunde gehen, wenn es nur so kommt, daß mein Begehr gestillt wird, daß ich sie eines Tages in meinem Haus, in meinen Händen, an meinem Herzen habe! Nein so nicht! Das hatte er damals gefühlt, als er geglaubt hatte, der ganze Inhalt des Lebens hinge nur noch von dem Besitz der Frau ab, deren Tugend, deren Anmut und deren vermeintliche Seele ihn in Bann geschlagen hatten.

Nein, so nicht! Nicht sie besitzen! Nichts für sich selbst haben wollen! Nur beschützen dürfen, nur nicht ahnen, sehen, wissen müssen, daß ihr tiefer Glauben betrogen, daß zwei Menschen vielleicht heimlich über sie lachten – daß ...

Er hatte eine Schublade seines Schreibtisches aufgezogen – halb unbewußt und doch von einer bestimmten Absicht geleitet.

Die Hände bebten ein wenig, als sie in Briefen und Schriften suchten, als sie endlich eine Schnur öffneten, die um ein Bündel Papiere geschlungen war. Ein Bild lag vor ihm – das Bild der Frau, die jetzt irgendwo in der heiteren bewegten Welt der Genußfreudigen ihr Leben weiterleben mochte.

Es war das einzige von den vielen Bildern, das er von ihr besessen, das er aufgehoben hatte – und auch dies sollte nicht ein Pfand der Liebe sein, sollte ihm nicht in weichmütigen Stunden die Erinnerungen an vergangene Zeiten zurückrufen, sondern es sollte eine ganz andere Mission erfüllen.

Warnen sollte es ihn für alle Zeiten, sollte ihn davor behüten, jemals wieder an eine, die ihm gefiel, weil sie ein hübsches Gesicht, anmutiges Wesen und eine glatte, verführerische Art besaß, zu glauben, wieder sich Welten auszumalen, die nur in der Phantasie bestehen konnten. – Er sah auf das Bild und fühlte, wie die alte Bitternis in ihn einzog. Gottlob, daß es so war! Gottlob, daß die Wirkung heute nicht versagte. Das Bild kam in seine Lade zurück. Der Major zündete sich eine neue Zigarre an und trat wieder ans Fenster.

War er nun frei geworden? Konnte er das Nachbarhaus ansehen, ohne von dieser albernen, unangebrachten Teilnahme von neuem erfaßt zu werden?

Ein wenig kühler war das Herz ihm geworden; die Gedanken nicht mehr so erregt. Die Welt und ihr Geschehen lag nüchterner vor ihm.

Auf dem Balkon des Breuerschen Hauses zitterte jetzt ein matter Lichtstrahl, als müßte sie in einem der Zimmer des ersten Stockes sein, und nun hörte Schwertes leise Klänge – sehr zart und leise – kaum noch vernehmbar für ihn und doch das ganze Herz erfüllend.

Er lauschte mit angehaltenem Atem. Er sah sie im Geiste an ihrem Instrument sitzen. Die Mauern des Hauses waren verschwunden – nichts trennte ihn von ihr. Er sah sie, wie sie in großer Schwermut, vom Leid gebeugt, dasaß, und wie ihre Hände kaum die Tasten berührten – wie das, was er hörte, mehr ein Klang aus ihrer Seele heraus, als das Tönen eines Instrumentes war.

Dann war plötzlich alles still. Der Lichtschein erlosch, und der Major trat nun vom Fenster fort, fühlte daß das Zimmer, daß das ganze Haus zu eng für ihn geworden war, nahm Hut und Mantel und lief zum Hause hinaus.

Schwertes war ohne irgendwelche Absichten auf die Straße, ins Freie hinausgegangen. Mit großen, erregten Schritten war er ein Stück die Promenade am See entlang gegangen, um dann wieder umzukehren und eine andere Richtung einzuschlagen.

Nein, kein Wille, keine Absicht war dabei gewesen – höchstens eine unbewußte Macht, die ihn des freien Entschlusses beraubt hatte. Aber plötzlich fand sich Schwertes vor dem Gitter des Rallingschen Gartens stehend und sah da etwas, was ihn zuerst mit Groll und dann mit einem tiefen Mitleid erfüllte.

Die Hände um die kalten Eisenstangen geklammert, in einer Haltung, aus der äußerste Erschöpfung, aus der etwas wie Verzweiflung sprach, stand der Doktor Breuer vor der Gartentür. Die Augen sahen nach dem Licht, das aus ein paar Fenstern in den Garten hinabfiel; sie tranken dies Licht, sie waren wie hypnotisiert davon. Der ganze arme Mensch, der da gebückt, elend, alles Körperliche vergessend, stand oder vielmehr kauerte, war hypnotisiert, war einer von denen, die den Boden unter den Füßen so vollkommen verloren haben, daß man zu ihnen gehen, sie am Arm packen, sie rütteln und aus ihrer entsetzlichen Erstarrung erlösen möchte. Schwertes war nahe daran, dem armen Breuer diesen Dienst zu erweisen – aber dann war die weiche Regung in ihm schnell wieder vorüber, und er blieb abwartend in der tiefen Finsternis, die ihn umgab, stehen und blickte unverwandt zu Breuer hin.

War es nicht möglich, daß hier doch eine Verabredung war, daß sie ihn nur warten ließ, wie Frauen es lieben, den Mann, der ihnen ergeben ist, vollends zum Sklaven zu machen!

Oder war es nicht möglich, daß sie um sein Hiersein wußte und aus irgendeinem Grunde das Haus nicht verlassen konnte?

Es war ja nicht zum erstenmal, daß er den Doktor bei einbrechender Dunkelheit aus dem Haus gehen sah, und daß der Zweck immer nur der sein sollte, hier unten in Wind und Kälte zu stehen und zu ihren Fenstern heraufzublicken, das wollte Schwertes nicht in den Kopf.

Ihn fror, er hatte einen leichten Mantel an, und die feuchtkalte Luft kroch in seine Kleider, vom See her kam Nebel gezogen, ein scharfer Wind schnitt ihm ins Gesicht.

Herrgott, der Mann hier, der arme magere Doktor Breuer stand und stand bewegungslos da und starrte nach oben, war wie ein Soldat, der auf seinem Posten ausharrt und gar nicht merkt, wie die Natur um ihn her beschaffen ist, dem Kälte oder Hitze, Sturm, Regen oder glühende Sonne nichts anhaben dürfen.

Dunkler und eisiger ward die Nacht; das Licht, das bis zu Breuer hingeschienen hatte, erlosch plötzlich, durch den Doktor fuhr es wie ein Ruck, die Hände lösten sich von dem Eisengitter, der Kopf fiel auf die Brust hinab, und mehr schleichend als gehend, trat er den Heimweg an.

Schwertes schüttelte den Kopf, als er ihm nachsah. Er wußte nun wirklich nicht mehr, was er daraus machen sollte, sah noch, daß der Doktor vom See abschwenkte und durch eine einsame, völlig dunkle Birkenallee ging, und schritt dann kräftig aus, um die erstarrten Glieder wieder zu durchwärmen. Als er nach Hause kam, war der Abendbrottisch längst gedeckt; die Haushälterin hatte ein Gesicht, in dem allerlei Unerquickliches zu lesen stand, aber sie schwieg, weil alle Worte bei ihrem Herrn doch keinen Eindruck hervorbrachten, besonders wenn er so in sich gekehrt und abweisend aussah wie an diesem Abend.

Schwertes hatte beim Vorbeischreiten gesehen, daß Licht in des Doktors Zimmer war, hatte auch dessen Schatten erkennen können und saß nun da vor dem appetitlich gedeckten Tisch, ohne rechte Lust, die Speisen anzurühren. Nur von dem heißen Tee trank er ein paar Tassen schnell hintereinander, denn es war immer noch ein Frieren in ihm, und wenn er an den Doktor dachte, der fast zwei Stunden da draußen in der schneidenden Luft gestanden hatte, mußte er wieder den Kopf schütteln.

Wie war so was möglich? Denn nun zweifelte er nicht mehr, daß dieser Abend vielleicht nur zufällig anders ausgefallen wäre, wie die vorangegangenen, an denen er den Doktor um dieselbe Stunde das Haus verlassen sah, sondern er wußte plötzlich mit voller Bestimmtheit, daß überhaupt von seiten dieses Mannes kein anderer Zweck vorlag, als der, vor dem dunklen, stillen Haus in dem sie wohnte, zu stehen und zu ihren Fenstern hinaufzusehen.

»Wie ein schwärmerischer Jüngling,« sagte er, aber sein Gesicht bekam einen milden, nachsichtigen Ausdruck dabei und das Bild des Doktors stand in völlig veränderter Gestalt vor ihm.

»Aber um dieser Frau willen!« mußte er denken, als er spät am Abend in seinem Bett lag – um solch einer Frau willen, wenn man diese andere, wenn man Magdalene an seiner Seite hat!

Worte fielen ihm dann ein, wie die Frau, die ihn verlassen und betrogen hatte, einmal zu ihrer Verteidigung ausgerufen hatte.

»Ich kann es nicht ertragen, daß ein Tag wie der andere dahingeht, daß immer nur du es bist, den ich sehe, mit dem ich Wohnung, Essen und überhaupt alles, was das Leben bringt, teilen muß. Man kann auch nicht immer dasselbe Kleid tragen, nicht immer dasselbe Bild ansehen oder immer dieselbe Speise essen! Ich bin müde von dir – weiter nichts; es ist keine Schuld, es ist Krankheit!«

Aus dem Mund dieser Frau hatten ihn diese Worte angewidert; er hatte ihre Berechtigung auch nie begreifen können. Aber nun, da er all dies auf den Doktor im Nachbarhaus anwandte, wollte ihm doch etwas wie ein Verstehen kommen.

»Nicht Schuld, sondern Krankheit!« fügte er vor sich hin. »Verirrung, geistige Hypnose. Seelenkrankheit!« Und ist der Begriff »Liebe« nicht überhaupt etwas, was niemals eine vernünftige Erklärung finden kann? Ist Liebe an sich nicht überhaupt Krankheit, die je nach der Veranlagung des Betroffenen sehr leicht auftreten, die aber ebensowohl tödlich wirken kann?

Der Major Schwertes dachte viel und sehr angestrengt während vieler Stunden dieser Nacht über eigene Erlebnisse, über Leiden und Erfahrungen nach, er dachte über Dinge und Begriffe, die abstrakt erscheinen und doch sehr sichtbar und faßbar in unser Leben eingreifen können, nach, und immer, wenn er am Schluß einer langen Gedankenkette angekommen war, sah er das Breuersche Ehepaar vor sich und hatte das Gefühl, als müßte er diese beiden armen Menschen von irgendeinem Abgrund, auf den sie zusteuerten, zurückreißen.

Magdalene fühlte und wußte es, daß des Majors Gedanken bei ihr waren. Sie wußte auch vom Pastor Lerch und von dessen Frau, daß sie in Teilnahme und herzlicher Freundschaft an sie dachten, aber in all der Trübsal, die diese dunklen Tage und Wochen ihr brachten, vermochte nichts ihr zu helfen.

Wenn das Leid den einen Menschen zum Reden bringt, ihn zu Freunden hintreibt, um sich Trost und Ruhe zu holen, so wirkt es auf andere wieder so, daß sie sich wie arme, verwundete Tiere verkriechen müssen, daß ihnen das Licht des Tages, jeder laute Ton und vor allem jeder Blick, der Teilnahme und Verstehen ausdrückt, eine Wunde zufügt, sie bis in die Tiefe ihrer Seele hinein verletzt.

Nach jenem Besuch beim Pfarrer Lerch, von dem Magdalene so doppelt trostlos nach Hause zurückgekehrt war, verlangte sie nach keiner Aussprache mehr. Sie wußte nun, daß niemand, auch nicht der beste und gütigste Mensch ihr etwas zu geben hatte, daß man ein Leid, wie das ihre eines war, allein tragen, und daß jede Erklärung, die man dritten Personen davon geben konnte, immer nur eine Verzerrung sein mußte.

Einmal, es war in der Weihnachtswoche gewesen, hatte Dietholm den Weg zu seiner Tochter hinaus gemacht. Er war in seinem Auto gekommen, der Chauffeur hatte einen Arm voll Paketen hinter ihm her ins Haus getragen, und dann hatte er bei der Tochter oben im blauen Zimmer gesessen. Unten in der Dunkelheit des Flurs hatte er ihr Gesicht nicht erkennen können, aber oben im Zimmer, unter der Lampe stehend, sah er mit offenkundigem Schrecken in dies geliebte Antlitz, das jetzt fast denselben Leidenszug trug, wie die verstorbene Frau kurz vor ihrer Erlösung. In Magdalenens Augen hatte eine tödliche Angst, eine Abwehr gelegen: »Frag nicht, sprich nicht aus, was du denkst! Laß mich allein; um Gottes willen, laß mich allein!«

Doktor Dietholm hatte die Sprache verstanden; ein heißer Schmerz krampfte ihm das Herz zusammen, mit trockenen Lippen hatte er gefragt:

»Bist du gesund. Magdalene? Ich meine, ist körperlich alles bei dir in Ordnung?«

»Ja, Papa, ja,« und hatte dann am Klavier gesessen, damit er den Klang des wundervollen Instruments, das sie seiner Güte und Großmut verdankte, endlich zu hören bekäme.

»Willst du Tee haben, Papa?« hatte sie dann gefragt und hatte mit ihm am Tisch gesessen, hatte nach allen, die zu ihm und zu ihr gehörten, gefragt und ihre Augen leuchteten dabei in einem seltsamen Glanz. Aber Dietholm hatte das marternde Gefühl: »Sie ist gar nicht bei dir! Nein, sie ist weit, weit weg von dir. Was du ihr bringst, was du mit Liebe und Zärtlichkeit für sie gekauft hast, um ihr eine Freude zu machen, erregt nicht im mindesten ihre Aufmerksamkeit. All ihre Gedanken, jeder Nerv ist aufs äußerste angespannt; es muß da etwas Neues, etwas ganz Besonderes sein, was zu dem, was sie für gewöhnlich zu tragen hat, hinzugekommen ist. Und dann stand es groß und wuchtig und erschreckend vor ihm: »Irgendeine Gefahr ist vorhanden, irgend etwas, was kein Mensch von ihr abwenden kann.«

»Magdalene,« sagte er mit unsicherer Stimme, »Kind, ich bin ganz gewiß nicht zu dir herausgekommen, um dir eine peinvolle Stunde zu bereiten; im Gegenteil, ich hoffte eine kleine, vorübergehende Freude in dein Leben zu bringen. Ich wollte nicht fragen, nichts erfahren, was du mir nicht aus freiem Willen sagst, aber seit ich hier in diesem Zimmer bin, seit ich dein Gesicht, deine Augen gesehen habe ... ich weiß nicht, Magdalene, was es ist. Liegt es vielleicht in der Luft eures Hauses, die etwas Beklemmendes hat ... sind es Ahnungen, die gar keine Begründung haben, ich weiß es nicht. Aber es muß irgend etwas sein, etwas, was dich gefangen nimmt, was alle deine Gedanken in Bann hält. Du warst ja oft fern von uns, wenn du mitten unter uns saßest, aber so wie heute, so wie in dieser Stunde ist es doch niemals gewesen!«

Ihr Gesicht war noch bleicher geworden, als es vordem gewesen.

»Laß mich, Papa!« bat sie dann ruhig. »Ich will nicht sagen: es ist nichts! Aber es ist nichts in dem Sinne, wie du es dir vielleicht denkst. Die gesteigerte Angst um seine Arbeit ist es, um seine Gesundheit!«

»Ist er krank?« fragte Dietholm schnell.

»Er sieht sehr elend aus!« antwortete sie leise.

»Sonst nichts, Magdalene?«

»Es sind die Qualen, über die einer, der schaffen muß, der mit einer ganz großen Sache ringt, mit niemand sprechen kann.«

»Auch mit dir nicht, die du doch alles mit ihm trägst?« »Nein. Aber es ist vielleicht die letzte Phase, das letzte schwere Stück Leiden vor der Vollendung.«

»Glaubst du denn wirklich noch an eine Vollendung? Wirklich, Magdalene, hast du immer noch Hoffnung auf endliche Erfüllung all dessen, worauf er dich und uns alle nun schon so lange warten läßt?«

»Wenn ich nicht mehr glauben könnte, dann wäre ja alles zu Ende!« sagte sie sehr leise, und trotz ihrer Worte, die ihn verteidigen sollten, las Dietholm die tiefe Hoffnungslosigkeit aus ihrem müden, vergrämten Gesicht. Er zog sie an sich und küßte sie leise auf die Stirn.

»Du weißt, daß ich dein bester, treuester Freund bin, immer, Magdalene, was auch kommen mag!«

»Ja, Papa! Du hast es mir oft gesagt!«

Unten ging die Tür; erst das leise Knirschen der Gartenpforte – dann das geräuschvolle Zuschlagen der Haustür. Gleich darauf ward auch die Tür von Breuers Zimmer ins Schloß geworfen.

»War er fort?« fragte Dietholm.

»Ja, er geht jetzt manchmal am Abend.«

Die Beklemmung in beiden wurde drückender; es war, als ob das ganze Haus belastet sei, seit Breuer unten in seinem Zimmer saß. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und sie sprachen jetzt über Dinge, die weitab lagen, die völlig gleichgültig waren.

Der Mann, der gekommen war, um ein wenig Weihnachtsstimmung ins Herz seiner Tochter zu bringen, mußte einsehen, daß alle Liebe, alle Sorge, daß selbst ein Eingreifen in das Schicksal dieser beiden Menschen, die hartnäckig ihren Weg verfolgten, keinen Zweck, keinen Erfolg haben konnte. Er ging in etwas gebückter Haltung, mit einem Gesicht, aus dem auch der letzte Schimmer von Hoffnung erloschen war.

Seit jenem Tag mied Magdalene die Menschen, und sie tat es zum erstenmal mit einer großen Bitterkeit, mit einer gewissen Ueberhebung in Kopf und Herzen.

Hat es unter allen, die ich kenne, je einen gegeben, der mir Mut und Zuversicht predigte? Hat ein einziger von ihnen den Glauben an meinen Mann mit mir geteilt?

Der Pastor? Vielleicht ganz im Anfang, aber jetzt nicht mehr! Der machte dasselbe zweifelnde, mitleidvolle Gesicht wie alle anderen, wenn er jetzt zu ihr sprach.

Die Pastorin? Ach, die kam nicht in Betracht. Die war eine durch und durch praktische Natur, die etwas, was sich durch sichtbare Erfolge oder Zahlen nicht beweisen ließ, nicht begreifen konnte und wollte.

Der Vater hatte schließlich noch am meisten Recht, mit einem gewissen Ingrimm bei seinen Zweifeln zu verbleiben, denn er war ja der, der die ganze Tragödie über Wasser halten mußte und nur Undank dafür erntete, aber seit einiger Zeit wußte Magdalene auch, daß der einzige, von dem sie gehofft und geglaubt hatte, daß er ihren Mann verstände, auf die Seite der anderen getreten war. Der einsame Mann drüben im Nachbarhaus. Ja, auch der! Sie wußte es, ohne es von ihm gehört oder es aus seinen Mienen gelesen zu haben.


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