Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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10.

Der Major Schwertes stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah in die Landschaft hinaus. Zum drittenmal seit er in diesem Vorort wohnte, sah er den Herbst kommen, und ein seltsames Gefühl, halb Schwermut, halb Erleichterung zog ihm durchs Herz. Wenn der Herbst und mit ihm die früher einbrechende Dunkelheit kam, wenn Sturm und Regengüsse die vorsichtige Bevölkerung dieses Erdenwinkels von ihren weiten Streifzügen durch die Natur abhielten, dann kam für ihn eigentlich erst die Zeit, in der er auflebte – dann war er in seinem Element. Nicht viel anders als ein Wild, das herausbekommen hat, daß niemand hinter ihm ist, daß es frei und unbekümmert sein Reich durchmessen kann.

Um seinen Mund ging ein schwaches Lächeln, eine einzige wilde Nacht hatte den Spätsommer zum tiefen Herbst gemacht. Wie verrückt das heute z.B. im Garten seines Nachbars aussah. Die Rosenstämme umgeworfen – das Laub in Haufen auf den Rasenflächen herumwirbelnd, und die Gaisblattranken von der Laube losgerissen. Freilich, dieser Garten war den ganzen Sommer über nicht recht instand gewesen – kein Mensch, der etwas von Gartenarbeit verstand, hatte sich darum gekümmert; nur das alte Weib, das früher von der Stadt hereingekommen war, um hier die Bedienung bei dem Ehepaar Breuer zu machen, und das seit einigen Tagen mit Sack und Pack für immer zugezogen war, hatte hin und wieder mit Rechen und Gartenschere ein wenig herumgewirtschaftet, aber etwas Rechtes war natürlich nicht daraus geworden.

»Merkwürdig,« dachte Schwertes, und das Bild Magdalenens schwebte ihm vor, »man könnte sich gerade von ihr vorstellen, daß sie viel Freude an einem blühenden Garten – an Blumen, Vögeln und an der Natur hätte – aber es scheint doch nicht so zu sein!«

Er pfiff leise vor sich hin. Der Regen schauerte gegen die Fenster und der Wind heulte ums Haus, daß es eine Lust war. Wenn er jetzt ging, dann begegnete er todsicher keinem Menschen – und da er die hohen Stiefel schon am frühen Morgen angezogen hatte, und da das alte Gespenst, die Haushälterin, unten in der Küche wirtschaftete und sein Fortgehen gar nicht bemerken würde, war ihm der Weg frei. Er trat vom Fenster fort, überlegte noch einen Augenblick, ging dann in den Flur und griff nach dem alten Lodenmantel, der am Kleiderständer hing. Federleicht war der und ließ doch den schlimmsten Regen nicht durch. Schwertes hatte fast zärtliche Gefühle für diesen alten Kameraden. An dem hafteten Erinnerungen – gute und schlimme – aber eigentlich doch mehr gute als schlimme.

So oft er mit der Hand in das weiche Gewebe hineingriff, erstand ihm die Bergwelt, fern – sehr fern vor hier –, die er nun seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sommersonne, über schneebedeckten Bergriesen leuchtend, – Gletscher – Seen – grüne Matten, und an seiner Seite das vermeintliche größte Glück seines Lebens!

Nun, hier gab es keine Bergriesen und keine Gletscher und überhaupt nichts, was überwältigen, was vom Alltag erlösen konnte – aber irgend etwas Gutes mußte doch hier sein, denn sonst würde er es nicht drei Jahre ausgehalten haben – nun schon volle drei Jahre! Und wahrscheinlich würde es sich im Laufe der Zeit so gestalten, daß man überhaupt nicht mehr fortkam –, daß man den armseligen Rest, der einem noch verblieb und der allmählich und hoffentlich dem Stumpfsinn entgegenführte, hier verbrachte, und sich dabei ganz behaglich fühlte.

Er stieg die Treppe mit nicht ganz so fest aufsetzenden Schritten wie sonst hinab; er wollte es vermeiden, daß das alte Weib, das er als notwendiges Uebel um sich dulden mußte, den Kopf zu irgendeiner Tür heraussteckte und irgendeine Frage, die ihr nicht zukam, an ihn richtete – und er hatte eine fast kindische Freude, als er dann wirklich unbehelligt aus dem Haus gekommen war und sich nun draußen im platternden Regen und mitten im pfeifenden Sturm befand.

Magdalene sah ihn und staunte und Breuer sah ihn auch und sagte zu seiner Frau: »Von diesem Menschen hab' ich das Gefühl, daß er ein kurioser Kauz ist, obwohl ich doch nicht das Geringste von ihm weiß und über seine äußeren Verhältnisse auch nichts zu wissen wünsche. Aber vielleicht wäre das der Mensch, mit dem man mal ein vernünftiges Wort reden könnte, wenn einen danach gelüstet!«

In Magdalenens Gesicht leuchtete irgendeine Freude auf.

»Vielleicht hat er denselben Wunsch dir gegenüber!« sagte sie, nicht ganz sicher. »Er soll sehr einsam sein, viel arbeiten und im allgemeinen die Menschen meiden!«

Breuer wandte sich ärgerlich ab.

»Ich sagte dir soeben, Magdalena, daß ich nichts über seine äußeren Umstände und seine Lebensart zu erfahren wünsche. Aber ihr Frauen versteht das nicht. Ihr könnt Geist und Materie nie von einander trennen.«

Sein Gesicht hatte den verächtlichen, von seiner Höhe mit Widerwillen herabschauenden Ausdruck, den Magdalene so gut kannte und der ihr immer von neuem das Rot der Scham in die Wangen trieb. Sie schwieg und blieb still am Fenster stehen.

Auf Breuers Wunsch saß sie jetzt manchmal bei ihm unten in seiner unfreundlichen Stube, die er mit keiner andern tauschen mochte, und sah zu, wenn er arbeitete. Sie hatte versucht, sich mit einer Handarbeit zu beschäftigen, aber Breuer vertrug es nicht, wenn sie den Faden hochzog oder wenn er überhaupt ihre Hände in Bewegung sah. Ganz still sollte sie bei ihm sitzen – aus keinem andern Grunde als aus dem, ihm das Gefühl der Einsamkeit zu nehmen.

Stunden um Stunden saß sie auf dem Korbstuhl neben seinem Schreibtisch – die Hände im Schoß verschlungen – verzweifelt oft – gejagt von einer inneren Unruhe, für die sie keinen Grund wußte – saß da wie ein armes gefesseltes Tier, dem man seine Freiheit genommen hatte und dem jede Minute zur Ewigkeit wird.

Breuer fühlte vielleicht ihre Ungeduld, mochte ahnen, daß dies stille, stumme, untätige Sitzen eine Qual bedeuten mußte – aber er nahm es doch an, daß sie immer wieder kam, wenn er sie rief –, erklärte es ihr nicht durch Worte, sondern ließ sie es nur durch Blick und Geste erkennen, daß er ihre Gegenwart für seine Arbeit benötigte – daß sie eine Lücke ausfüllen, eine Unruhe in ihm beschwichtigen mußte.

Die Glücksstunden, die Magdalene während der nun achtjährigen Ehe genossen hatte, waren zu zählen – ja – sie wären überhaupt nicht vorhanden gewesen, wenn sie das, was man »Glück« nennt, nach allgemeinem Maßstab bemessen hätte.

Glück bedeutete für sie etwas ganz anderes als für andere Frauen – etwas durchaus Geistiges! Zufriedenheit ihres Mannes – seltene – aber dann mit großer Sicherheit aus Souveränität ausgesprochene Zukunftsaussichten – hin und wieder eine kleine, kaum zu fühlende Zärtlichkeit – ein leichter Kuß – ein Streicheln über Haar oder Wangen – das war das, was sie unter »Glück« zu verstehen gelernt hatte.

Sie war bescheiden und klein an seiner Seite geworden, – klein oder auch groß – wie man es nennen mochte. Der Pastor nannte sie »groß«, wenn er seiner Frau gegenüber von ihr sprach – denn er hatte einen Blick in Magdalenens Seele geworfen, wußte, daß sie im tiefsten Grund nicht zu solch bitterer Entsagung, zu solchem Dulden geboren war, sondern daß täglich neue Kämpfe nötig waren, um ihr die Kraft zum stillen Ausharren an der Seite eines überaus schwierigen Mannes zu geben.

Die Pastorin aber – ein wenig enttäuscht über die gar nicht zu besiegende Zurückhaltung der jungen Frau, nannte sie ein kleines Schäfchen, dem nicht zu helfen sei und das sich in seiner Sklaverei, in diesem dumpfen Dahinvegetieren vielleicht ganz wohl und behaglich fühle.

Magdalene dachte oft und immer mit einer gewissen Sehnsucht an die kernfeste und lebensfrohe Pastorin – aber ein großes Angstgefühl hielt sie von dem vertraulichen Verkehr, den die Pastorin ihr vorgeschlagen hatte, zurück.

Das Alleinsein war ihr jetzt bitterer als es ihr je gewesen war, und wenn sie am Nachmittag diese langen schweren Stunden neben dem Manne sitzen und ihn in seiner Arbeit beobachten mußte, dann war eine Unruhe in ihrer Seele, die sie kaum noch zu beschwichtigen vermochte.

War denn das, was ihr Mann tat – überhaupt Arbeit zu nennen? War das nicht eher ein Rasen, ein wildes Sichherumschlagen mit drängenden, immer neu auf ihn einstürmenden Gedanken, deren er nicht Herr werden konnte?

Warum stöhnte er, fuhr er sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, stützte den Kopf in die Hände und sah oft für Viertelstunden und länger mit dem Ausdruck der Verzweiflung in den Augen ins Leere? War Arbeit etwas so unendlich Schweres, solch ein furchtbarer Kampf, der immer mit Niederlagen enden mußte? Denn das Ende eines jeden Tages schien doch immer nur die Vernichtung des Geschaffenen sein zu sollen, und während Breuer mit einer fast fanatischen Freude, die Fetzen Papier von seinem Tisch hinabwarf, kam über Magdalene ein solch grenzenloser Jammer, daß sie kaum einen Aufschrei ersticken, kaum des aufsteigenden Schluchzens Herr werden konnte.

Das Bild des Vaters stieg vor ihr auf; sie sah ihn, wie sie ihn an jenem letzten Besuch in dem Fabrikbureau gesehen hatte, als sie ihn gebeten hatte, ihnen zum Ankauf des Hauses hier zu verhelfen.

Damals hatte sie noch mit einem schwachen Rest ihres einstmals so felsenfesten Vertrauens glauben können, hatte den Vater zu überzeugen gesucht und hatte ihn vielleicht – auch wenn er es nicht zugeben wollte, überzeugt.

»Vater,« dachte sie mit einer wehmütigen Zärtlichkeit, »wie bin ich heimatlos geworden! In die Welt, aus der ich stamme, finde ich wohl nie den Weg zurück, auch wenn diese hier, in die ich hinüberging, eines Tages in Trümmer zerfallen soll. Aber in dieser harten Welt der unfruchtbaren Arbeit kann ich mich auch nicht heimisch fühlen – und möchte es doch – möchte zu ihm stehen können mit der ganzen Kraft meiner Seele und meines Geistes. Aber wie kann ich sein Leben teilen, wenn er es mir nicht offenbart. Wenn er mir nur Bruchstücke gibt und das Ganze – das Ziel – den Endzweck ängstlich verheimlicht!

Breuer sah, daß Qual und Angst aus dem Gesicht seiner Frau sprach, wenn er vernichtete – wenn zu dem Stoß der Schriften, die er in Jahren mühsam angesammelt hatte, nichts Neues hinzukam. Ein leichtes Mitleid ging durch seine Seele.

Armes Ding – arme kleine Magdalene, die sich nach bürgerlicher Ruhe, Behagen und Versorgtsein sehnte! Wie mochte der lange, graue, aussichtslose Weg an seiner Seite ihr schwer fallen!

Als der Herbst rauher und dunkler wurde, kam über Breuer derselbe Drang nach weiten, einsamen Wanderungen, der auch den Major Schwertes überfallen hatte. Auch in ihm war das befreite, triumphierende Gefühl: »Jetzt, da die Natur euch andern, euch, die ihr lieber Kleider und Schuhe schont, als das herrlichste, was das Jahr bietet, zu genießen – jetzt, da sie euch kein freundliches, mildes Gesicht mehr zeigt, soll sie mir gehören – jetzt nehme ich mir das, was ich fast Dreiviertel vom Jahr euch überlassen muß!«

Und Breuer lief und auch Schwertes lief, gleichviel ob der Regen in wilden Güssen vom bleigrauen Himmel herabkam – gleichviel ob der Sturm ihnen fast den Atem benahm und die Wege grundlos waren. Sie holten nach, was sie den Sommer über versäumt hatten, und in jedem der beiden Häuser seufzte heimlich eine Frau, wenn die Wanderer ausrückten. Die Haushälterin des Majors seufzte der Kleider und der Stiefel wegen, die sie putzen mußte und Magdalene seufzte aus einer ungewissen Angst heraus – seufzte vielleicht auch deshalb, weil er sie allein in dem einsamen Hause ließ, da doch auch in ihr der Drang lebte, ihre große Unruhe in die Natur hinauszutragen.

Breuer lief rücksichtslos, wie es ihm behagte – oft kam er spät in der Nacht zurück – sah nicht das zerquälte Gesicht der Frau, die auf ihn gewartet hatte, fand kein Wort der Erklärung, kein freundliches Wort des Bedauerns – fühlte nur, daß das ungehinderte Laufen ihm wohltat, und sein schmales bleiches Gesicht ward ein wenig voller und roter, und die Augen hatten nicht den müden, schweren Ausdruck.

»Aber die Arbeit?« fragte sich Magdalene und kniete vor einem kleinen Aktenschrank, der seine Schriften barg und war einer großen Versuchung nahe – der Versuchung, die so nahe lag: endlich zu wissen – endlich zu erfahren, was es denn eigentlich war – wie das Große, Unantastbare – das den Inhalt ihres und seines Lebens bildete, aussah!

Aber so groß und lockend die Versuchung war, sie widerstand ihr. Sie wußte, daß sie den Blick des Mannes nicht mehr ertragen würde, wenn sie klein – frauenhaft – unehrlich war. Sie wußte auch, daß er es wissen würde, selbst wenn die Blätter genau so ordentlich daliegen würden, wie er sie zu legen pflegte. Ihr Wesen würde es ihm verraten, denn er war ja kein gewöhnlicher Mensch, den man täuschen konnte. Er blickte durch den Körper hindurch in die Seele – das hatte er ihr oft gesagt – und sie glaubte daran und fürchtete sich davor.

Aber ihre Hände strichen über die Blätter in einer wehmütigen Art, wie wohl eine Mutter über das Haupt eines Kindes streicht, um das sie sich Sorgen macht und dem sie helfen möchte.

An einem dieser Herbsttage geschah es, daß die beiden einsamen Wanderer, die Haus an Haus nebeneinander wohnten, aufeinanderplatzten. In einer Waldhütte war es, in die beide sich vor dem Wolkenbruch, der sie überrascht, geflüchtet hatten.

Der Major Schwertes kauerte auf einer schmalen Holzbank, als der Doktor eintrat: er sah kaum auf und hatte kein Interesse für den Ankömmling, sah nicht einmal, daß Breuer den Hut zog und einen leisen Gruß murmelte. Breuer aber hatte den Nachbar auf den ersten Blick erkannt und schien etwas Angenehmes dabei zu empfinden, denn ein flüchtiges Lächeln kam um seinen Mund und er überlegte einen Augenblick, ob er auf den Major zugehen und ihm seinen Namen nennen sollte.

Aber da der so still und in sich gekehrt in seiner kauernden Stellung verharrte, und – wie es schien – nicht die geringste Notiz von ihm nahm, verging ihm schnell die Lust zu einer Annäherung und er setzte sich in einen andern Winkel der Hütte.

Der Major war mit seinen Gedanken weit fort von seiner Umgebung; der hatte heute den ganzen Weg über in alten Erinnerungen herum gekramt, hatte ganze, längst versunkene Welten vor sich erstehen sehen und war dann jählings auf einen Gedanken gekommen, der ihm große Freude verursachte. Warum trug er sich eigentlich mit so großen, abstrakten Ideen – warum wollte er die Ueberfülle von Zeit, die ihm sein jetziges Leben zubilligte, dazu verwenden, um ein Werk zu schreiben, das außer ihm selber nur ein ganz kleiner Bruchteil aller Menschen verstehen würde?

Warum wählte er nicht eine Form, die der Allgemeinheit zugänglich war, warum sollten die Erfahrungen, die guten und schlechten Dinge, die das Leben ihm gebracht hatte, nicht dazu dienen, andere zu bereichern – sie froh oder doch wenigstens teilnehmend zu machen? Warum Menschenfeind sein, da ja doch die Menschen in der Allgemeinheit ihm nichts getan hatten, ja – da selbst die eine, die ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war, vielleicht nicht einmal aus bösem Willen so gehandelt hatte!

Warum sich jetzt auf einen Kothurn stellen, der so hoch war, daß er lächerlich wirken müßte, wenn nicht etwas Fundamentales – etwas, was ungeheure Trotze in sich trug, ihm das Recht dazu gab!

Er – der Mensch – der ehemalige Major und jetzige Einsiedler Schwertes – er konnte es nicht mehr fertig bringen, sich harmlos mit seiner schwerfällig gewordenen Art unter die Menschen zu begeben – aber der geistige Schwertes, der konnte schließlich doch noch den Weg zu ihnen zurückfinden, konnte zu ihnen reden – konnte ihnen alles Gute, Weise, Versöhnliche, das trotz allem noch in ihm lebte, geben und sie an dem, was er erlebt, und wie er es erlebt, lernen lassen!

Aber während er sich mit diesem menschenfreundlichen Gedanken trug, und während er das Werk, das Menschengüte und -liebe predigen sollte, schon im Geist vor sich erstehen sah, trug sein Gesicht durchaus nicht den Ausdruck der guten Gefühle, die ihn bewegten, sondern war finster und verschlossen, und dem Dr. Breuer, der ihn beobachtete, kam mehr und mehr der Mut, hier eine Bekanntschaft anzuknüpfen, abhanden.

Der Regen ließ nach; der Sturm pfiff zwar noch ein wildes Lied, aber Schwertes hatte es plötzlich eilig, nach Hause und an seinen Schreibtisch zu kommen und da sah er denn im Vorüberschreiten dem Dr. Breuer in das ihm zugewandte Gesicht, stutzte einen Augenblick und zog dann grüßend seinen Hut.

Breuer hatte sich erhoben, und mit Ueberwindung zwar, aber einem starken Drang folgend, sagte er:

»Wir sind Nachbarn – seit dem Frühjahr Nachbarn und begegnen uns heute zum erstenmal.«

Dabei ging ein etwas verlegenes Lächeln um seinen Mund und auch Schwertes war ein wenig hilflos und antwortete, nur um etwas zu sagen: »Ja – es ist sonderbar – oder auch nicht sonderbar, denn ich mache meine Spaziergänge gewöhnlich zu einer Zeit, in der die andern sie nicht zu unternehmen pflegen!«

Breuer schloß sich ihm auf dem Weg durch den Wald an, sah an der großen Gestalt des Majors hinan und studierte das etwas undurchdringliche, aber gütige Gesicht.

Dem Major war es keineswegs lieb, daß er einen Begleiter hatte – gerade in dieser Stunde einer inneren Umwandlung hatte er die Einsamkeit nötiger als sonst. Er verhielt sich schweigsam, und dem Dr. Breuer fiel die ungewohnte Rolle zu, der Redende sein zu müssen.

So sehr er nun auch der Allgemeinheit fern und in all seinen Ansichten und Gepflogenheiten über ihr stand, so fiel ihm in dieser Lage doch nichts anderes als ein paar sehr allgemeine Redensarten ein, die vom Wetter – von der Schönheit des Herbstes und der Gesundheit der Luft hier draußen handelten. Der Major mußte mit seinen Gedanken erst einen weiten Weg machen, bis er sich endlich zu der Person des Dr. Breuer hinfand, und nachdem ihm das mit einiger Anstrengung geglückt war, staunte er und sah sich diesen Mann sehr eingehend an.

Also das war dieser seltsame Dr. Breuer, von dem die Pastorin Lerch ihm eine lange, weitläufige Geschichte erzählt hatte! Das war der Mann dieser jungen Frau, die er in einer Mainacht, als der Vollmond geschienen hatte, auf dem Balkon ihres Hauses hatte sitzen sehen – mit zuckenden Schultern – den Kopf in die Hände vergraben – bitterlich weinend!

Ein Groll – ein Argwohn stieg in ihm auf. – Er sah auf den Mann, der fast um Kopfeshöhe kleiner war als er – ward dann, als er die von starker geistiger Arbeit zeugenden Züge dieses Gesichts sah, etwas besänftigt, und obwohl durchaus nicht in der Stimmung, eine behagliche Unterhaltung über Wetter und landschaftliche Vorzüge dieser Gegend zu führen, brummte er doch etwas über die eigenartige Schönheit des Spätherbstes hier draußen. Ein Zug um den Mund Breuers mißfiel ihm – ein unklarer Zug, der dem Gesicht mit das Gepräge gab.

So also sah dieser Mann aus, über den man in jeder Gesellschaft in diesem Nest sprach, seit die Pastorin ihn als den kommenden Stern am wissenschaftlichen Himmel gepriesen hatte! So sah der Mann aus, dessen Frau haltlos – verzweifelt geweint hatte –, dessen Frau noch jung war und die doch so müde und gleichgültig durchs Leben ging.

Schwertes wußte nicht, warum die feindlichen Gefühle in seinem Herzen immer stärker wurden, warum er mit Gewalt alle guten Stimmen, die sich für diesen Mann in ihm erheben wollten, niederschlug.

Konnte die Frau nicht aus irgendeinem Grunde geweint haben, der mit dem Mann überhaupt in keiner Verbindung stand?

Wußte er es denn nicht zur Genüge, daß Frauen unberechenbar sind, und daß ihre Tränen oft – ja meist – nur der Ausbruch böser Stimmungen und Launen sind?

Konnte sich die Sache zwischen diesen Eheleuten nicht ebensogut umgekehrt verhalten – konnte die Frau nicht der unduldsame Teil sein –, konnte von ihr nicht das ausgehen, was keine Harmonie aufkommen ließ? Ja – und woher wußte er denn überhaupt, daß keine Harmonie zwischen diesen beiden bestand – und wenn es so war – was ging es ihn an? Wie kam er dazu, über das Verhältnis zweier Menschen, die ihm beide völlig fremd waren, nachzudenken?

Freilich, die Pastorin hatte da manches durchblicken lassen, hatte von der süßen, mädchenhaften Innigkeit der Frau und der verschrobenen Art des Mannes gesprochen. »Verschroben« im guten Sinne! Das fügte sie jedesmal hinzu und erzählte dann von dem Werk, das er unter der Feder hatte, als ob sie selbst es Zeile für Zeile gelesen habe, und pries den Ort glücklich, der solch einen Mann unter seinen Einwohnern zählen dürfte.

Schwertes sah sich das gutgeschnittene Profil des Doktors immer eindringlicher an und er mußte zugeben, daß in diesem Gesicht vieles lag, was zu der Annahme, daß hier etwas Besonderes zu erwarten war, lag.

Nur der Mund widersprach. Aus diesem halbverbissenen, ironischen und doch in gewissem Sinn genußfrohen Zug, der um diesen Mund lag, wurde er nicht klug.

Breuer indessen merkte seinerseits, wie das Gefühl einer großen Hochachtung vor dem Major immer stärker in ihm wurde – vielleicht nur aus dem Grunde, weil dieser Mann sich nicht die geringste Mühe gab, das Gespräch aufrechtzuerhalten, irgendwelche Liebenswürdigkeit an den Tag zu legen – ja – weil viel eher eine starke Rücksichtslosigkeit von ihm ausging.

Der Pastor, der gleich beim ersten Begegnen so wortreich und zutunlich gewesen war – hatte ihm nichts bedeutet – den würde er, wenn er ihn wieder zu sehen bekam, mit der Geringschätzung, die er den meisten Menschen zuteil werden ließ, behandeln.

Vor diesem hier aber, der ihn schon körperlich um Haupteslänge überragte, hatte er ein fast beklemmendes Gefühl von Hochachtung, über das er staunte und das ihm keineswegs lieb war.

Der Major fühlte das, und es bereitete ihm eine gewisse grimmige Freude, zum wenigsten gab es ihm die Genugtuung, den Aussagen der Pastorin nicht einfach zustimmen zu müssen, denn die Pastorin hatte neben vielem anderem von diesem Manne behauptet, daß er den Hauch des Großen, des Unnahbaren – ja, den Stempel des Genies so stark um sich verbreite, daß man sich ihm nicht ohne eine gewisse Beklemmung nahen könne. Nun, eine Beklemmung fühlte Schwertes keineswegs, und auch als sie dann endlich in ihrem Gespräch die Oberfläche der Dinge verlassen hatten, und eine wissenschaftliche Frage erörterten, fand er durchaus nicht, daß er diesem Doktor nicht gewachsen sei.

Freilich –, die Menschen dieses Ortes –, der gute Pastor Lerch mit seinem astronomischen Steckenpferd – der genußfreudige Apotheker, der Amtmann, der in Standesvorurteilen erstickte, und die paar andern – was waren das für Menschen! Was bedeutete es, wenn man denen imponierte! Man brauchte sich nur ein wenig anders zu bewegen, als sie es taten – brauchte sie nur ein wenig von oben herab anzusehen – gleich war man dann für sie ein Besonderer – ein Talent – ein Uebermensch–ein Genie!

Schwertes lief rücksichtslos mit langen Schritten seinen Weg dahin, – dem Doktor, der zart und ein wenig engbrüstig war, fiel es schwer, gleiches Maß zu halten –, aber er tat es – fast wider Willen, immer von dem Drang beseelt, diesem Manne nahe zu kommen, ihn zu bezwingen, seinen Wert, seine Bedeutung zu erkennen. Aber Schwertes blieb kalt und unnahbar. Es stand etwas zwischen ihm und dem Doktor, das sie trennte, das kein Verstehen, keine Herzlichkeit zwischen ihnen aufkommen ließ, und so gestaltete sich der Abschied vor dem Hause des Majors denn auch sehr kühl und es fiel kein freundliches Wort, das von einem Wiedersehen oder dem Vorschlag eines gemeinsamen Ganges durch die Herbstnatur handelte.

Breuer trat verärgert, müde und gereizt in seine Arbeitsstube ein, rief nach Magdalene und quälte sie durch Schweigen und durch die zur Schau getragene Erschöpfung. Er mochte nicht essen, lag im Korbstuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, weit zurückgelehnt und blickte ins Weite. Magdalene wagte nicht zu fragen – aber sie litt sehr und ihre Hände schlangen sich nervös ineinander.

»Martin!« sagte sie einmal leise und zärtlich; aber als keine Antwort kam, senkte sie den Kopf, und grauer und schwerer noch als sonst lag das Leben vor ihr.

Im Nachbarhaus saß der Major ebenfalls vor seinem Schreibtisch – genau wie der Doktor in den Sessel zurückgelehnt und den Blick zur Decke gewandt. Er dachte über Breuer nach und fragte sich, warum sein Herz so hart und kühl ihm gegenüber geblieben sei – warum er ihn schroff und fast unhöflich behandelt habe und warum nicht der geringste Wunsch nach einem Wiedersehen mit diesem geistig doch offenkundig nicht unbedeutenden Mann in ihm war.

Er dachte lange und angestrengt, und der einzige Grund, den er für diese seltsame Stellung dem Doktor gegenüber fand, den wollte er nicht gelten lassen – schob ihn zur Seite und kam doch immer wieder darauf zurück.

Sollte es denn wirklich die Frau sein? Diese zarte, müde Frau, die er nicht kannte, mit der er nie ein Wort gewechselt hatte – sollte sie es sein, die ihn dem Mann entfremdete, daß er fast feindlich für ihn fühlte, und nichts von seinem Wesen und seiner Bedeutung wissen und erfahren wollte? Nur weil er diese Frau in jener Maiennacht weinend auf dem Balkon ihres Hauses gesehen hatte – vielleicht aus Laune, aus kleinlichem Eigensinn, aus Bosheit weinend, wie die Frauen doch meist zu weinen pflegen?«


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