Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.

Ehe der Winter vollends ins Land gezogen war, hatte die Pastorin doch noch erreicht, wonach sie im geheimen trotz der Warnungen ihres Mannes und trotz des passiven Widerstandes, den Magdalena ihr geleistet hatte, unablässig gestrebt hatte: das Breuersche Ehepaar war gefügig geworden und hatte zugesagt zu einer geselligen Zusammenkunft im Pastorenhause zu erscheinen.

»Wie ist das möglich?« fragte Magdalene sich und vermochte keine Freude zu empfinden, »wie ist das möglich und zu was für einem Ende wird das führen?«

Aber Breuer selbst war es gewesen, der die Zusage gegeben hatte.

Wie es der Pastorin gelungen war, noch einmal einen Sturmanlauf auf das Breuersche Ehepaar zu machen, und zwar auf den Doktor in höchsteigener Person, als sie ihm bei Wind und Wetter irgendwie in einer Promenade begegnet war, das vermochte Magdalene sich nicht zu erklären. Die Pastorin war mit ihrem Mann unterwegs gewesen, hatte den durchnäßten Doktor, der sie natürlich übersehen wollte, angerufen und hatte auf ihn solange eingesprochen, bis er ganz still und gefügig wurde.

Ja – daß sie alle im Ort so traurig seien über diese fast kränkende Zurückhaltung des Doktors und seiner Frau; sie habe erst vor ein paar Tagen mit dem Major Schwertes darüber gesprochen und habe dem deutlich angemerkt, daß auch er die Gefühle der Allgemeinheit in diesem Punkte teile – und wie sie ihn dann endlich so weit hatte, daß sein Gesicht statt des schroff ablehnenden einen etwas hilflosen Ausdruck annahm, war sie flott aufs Ganze losgegangen, hatte ihm gesagt, daß sie für den Sonnabend dieser Woche ein paar Gäste bei sich habe – nur ganz wenige – unter andern den Major Schwertes und noch ein junges Ehepaar, das erst vor einem Jahr hier herausgezogen sei – und daß er es doch einmal versuchen möchte, ob es denn wirklich ganz unmöglich für ihn sei, die Menschen hier durch seine Anwesenheit zu erfreuen.

»Ja – und ich verspreche es Ihnen feierlich, Herr Doktor – wenn es nicht geht, wenn es sich mit Ihrer Arbeit und Ihren Ansichten nicht vereinen läßt, dann sollen Sie für alle Zeiten von uns befreit sein, ohne daß wir Ihnen deshalb unfreundlich gegenüberstehen werden!«

Der Pastor hatte zu dem großen Redestrom seiner Frau verlegen geschwiegen, aber seine Blicke hatten ängstlich am Gesicht des offensichtlich gepeinigten Doktors gehangen, bis dieser endlich die Antwort gab – eine fast unerwartet liebenswürdige und zusagende Antwort.

Der Pastorin wären fast ein paar Tränen der Freude aus den Augen geflossen; sie reichte dem Doktor stumm die Hand und hatte nur noch leise, aber flehend hinzugefügt:

»Nur um das eine bitte ich Sie, Herr Doktor – halten Sie Wort! Kränken Sie uns jetzt nicht doppelt, indem Sie uns vielleicht nachträglich noch eine Absage schicken!«

Der Doktor hatte die Sache seiner Frau mitgeteilt, so gut es gehen wollte – immer mit dem verlegenen Ausdruck im Gesicht, den Magdalene sich nur zu gut deuten wußte, und aus dem sie nie etwas Freudiges schließen konnte.

Sie hatte ihm nahegelegt, daß es doch und trotzallem noch möglich sein würde, unter irgendeinem Vorwand abzusagen, da sie ja doch wisse, welch ungeheures Opfer es für ihn bedeute, der etwas zudringlichen Bitte der Pastorin zu willfahren, aber Breuer hatte ungeduldig abgewinkt:

»Laß nur; man muß es versuchen! Vielleicht hat sie recht – vielleicht tut es wirklich auf die Dauer nicht gut, sich in der Einsamkeit zu vergraben!«

Nun war der Tag da – ein grauer, schwerer Novembertag, und Magdalene hielt das Kleid in der Hand, das sie anziehen wollte oder mußte, denn es war das einzige, das sie für gesellschaftliche Zwecke besaß.

Es war ein kostbares Kleid, nicht modern, aber von einem Schnitt, der soweit von allen Moden abwich, daß es sich behaupten konnte, und Magdalene freute sich nun doch ein ganz klein wenig und mußte daran denken, wie gern sie früher unter Menschen gegangen war, besonders wenn es solche waren, mit denen sich reden ließ, und der Pastor sowohl wie seine Frau waren beide keine Menschen, bei denen die Unterhaltung sich an der Oberfläche bewegen mußte.

Der Doktor selbst war zerstreut und nervös am Tage der Gesellschaft; er hatte das Gefühl, vor einer unglaublich großen Aufgabe zu stehen, und lief, da er nicht zu arbeiten vermochte, stundenlang in Regen und Sturm umher.

Am aufgeregtesten aber war die Pastorin. Sie hatte zu Ehren der so mühsam errungenen Gäste ein besonders festliches Mahl gerichtet und zitterte bis zum letzten Augenblick, daß der unberechenbare Dr. Breuer vielleicht imstande sei, im allerletzten Moment noch die gefürchtete Absage zu schicken. Auch der Pastor hatte ähnliche Befürchtungen, denn so oft die Klingel tönte, hielt er in seiner Arbeit inne und ward erst wieder ruhiger, wenn er aus Stimme und Art seiner Frau entnehmen konnte, daß das Gefürchtete nicht eingetroffen war.

Gegen 7 Uhr begann die Pastorin endlich die ersehnte Sicherheit in ihrer Seele zu verspüren – sie hatte ein seidenes Kleid angezogen–, und zwar dasjenige von ihren drei seidenen Kleidern, das ihr nach Aussagen ihres Mannes am vorteilhaftesten stand. Nicht, daß sie dem Doktor besonders zu gefallen bestrebt gewesen wäre – aber das Glücksgefühl in ihr war so groß, daß sie ihm auch äußerlich Ausdruck geben mußte.

Unten in der guten Stube sah es so festlich und feierlich aus, wie es nur aussehen konnte: die gut erhaltenen Ueberzüge der stets geschützten Polstermöbel leuchteten, als ob sie frisch aus dem Laden gekommen wären, die Bilder an den Wänden, die zahlreichen Nippessachen, die Napoleon- und Schillerbüste auf dem Kamin – alles strahlte und funkelte, und auch der Pastor Lerch war froher, junger und festlicher gestimmt, als er es sonst zu sein pflegte.

Durchs ganze Haus zog feiner Bratenduft, und weil der Pastor dieses Zeichen des Materialismus ein wenig dämpfen wollte, ging er mit einem würzigen Räucherpulver, das aus Italien stammte, durch die Zimmer und streute es auf die Teppiche, und die Pastorin lachte dazu und freute sich, und am liebsten wäre sie wie in früheren stürmischeren Zeiten ihrem Mann um den Hals gefallen und hätte ihm etwas Liebes und Gutes gesagt. Aber im Laufe der Jahre hatte sie sich diese elementaren Ausbrüche ihres Temperaments abgewöhnt, denn sie würde sich geschämt haben, wenn der Pastor sie vielleicht staunend oder fragend angeblickt hätte.

»Also du führst die junge Frau Breuer, und der Doktor führt mich zu Tisch!« sagte sie noch einmal mit etwas unruhiger Stimme. »Ja, eigentlich dürfte es ja nicht so sein, denn das Ehepaar Ralling ist ja auch zum erstenmal bei uns, und vielleicht legen sie sich diese Bevorzugung der Breuers etwas zu ihren Ungunsten aus. Aber schließlich: dieser Ralling ist ein zugezogener, reich gewordener Kaufmann, der doch wahrscheinlich keine besonderen geistigen Qualitäten hat, und während wir die Breuers mit Mühe und Not zu uns heranziehen mußten, haben die Rallings uns doch fast überlaufen – das mußt du doch zugeben, nicht?« Und der Pastor nickte und lächelte und freute sich. Dann ging die Klingel, und merkwürdigerweise war es der Major Schwertes, der sonst immer zu den Spätlingen gehörte, der heute als erster Gast erschien.

Das Pastorenhaus war wohl das einzige hier im Ort, in dem er sich ein wenig behaglich fühlte und das er nicht ungern betrat. An die redselige, etwas zudringliche, aber doch sehr wahrhaftige und herzliche Art der Pastorin hatte er sich im Laufe der Zeit gewöhnt und in Lerch selber schätzte er einen Mann, der – ohne ein Genie zu sein, doch zu den durchaus universell gebildeten Menschen gehörte, bei dem die Unterhaltung nie auf einem toten Punkt geriet.

Er hatte geglaubt, an diesem Abend ganz in der Familie zu sein und war daher erstaunt, daß das Mädchen ihn nicht ins behagliche Wohnzimmer, sondern in die festlich hergerichtete gute Stube führte, und noch größeres Erstaunen zeigte sich in seinem Gesicht, als die Pastorin ihm im seidenen Gewand mit einem fast jugendlich strahlenden Gesicht entgegenkam.

Sie nahm die Hand, die er ihr reichte, in ihre beiden Hände, sah dabei zu seiner Höhe auf und hatte ein geheimnisvolles Lächeln um den Mund.

»Wem Sie heute in unserm Hause begegnen werden, lieber Herr Major, das werden Sie auch nicht so ohne weiteres erraten!« sagte Lerch und die Pastorin lachte und sagte dann: »Ich wette, er weiß es schon!« Und in der Tat war es für den Major Schwertes nicht allzu schwer, des Rätsels Lösung zu finden, denn er wußte seit langem von der Pastorin selbst, wie sehr sie sich bemüht hatte, das Breuersche Ehepaar endlich der Allgemeinheit zugänglich zu machen.

Ein leiser Schatten huschte über sein Gesicht; irgendein ganz leises Schmerzgefühl war in ihm erweckt worden, aber auch sogleich wieder verflogen.

»Ja,« sagte er, »wie soll ich das erraten!« und ehe er etwas weiteres hinzufügen konnte, flüsterte die Pastorin ihm hastig und erregt zu: »Ihre Nachbarn sind es, die kommen werden – der Dr. Breuer mit seiner jungen Frau. Jeden Augenblick können sie kommen: ich habe Ihnen den Platz neben der Frau gegeben und der Doktor wird Ihnen gegenüber sitzen. Verzeihen Sie, Herr Major, wenn ich ein wenig vorlaut bin, aber ich habe ein so seltsam sicheres Gefühl in mir, daß Ihnen in dem Doktor ein Freund oder doch wenigstens ein geistiger Genosse erwachsen wird. Sie wissen, ich gebe etwas auf Ahnungen, und immer, so oft ich an Ihrem und an des Doktors Haus vorüberkomme, hat mich der Gedanke gequält, daß Sie nichts voneinander wußten, gar keine Verbindung miteinander hatten, und auch keine anzustreben sich bemühten. Ich aber weiß – ja ich fühle es mit einer Sicherheit, die nichts erschüttern kann, daß eine geheime geistige Verbindung zwischen Ihrem Hause und dem des Doktors besteht, und daß es da nur einer Hand bedurfte, die die Fäden anknüpfte – nun – und daß es meine Hände sind, die dies Werk der Nächstenliebe verrichten, das darf Sie nicht verdrießen, Herr Major. Ich kann nun einmal nicht gegen meine Natur an und in diesem Fall – – –«

Die Klingel schlug an; auf der Pastorin Gesicht erschien ein flüchtiges Rot – sie hielt in ihrer Rede inne. Auch der Pastor schwieg, und Schwertes rieb sich die Hände und wartete genau so seltsam erregt, wie seine Gastgeber warteten.

Aber anstatt des Breuerschen Ehepaares trat der Rentier Ralling mit seiner sehr eleganten, hübschen und noch jungen Frau ein. Ralling selbst war einer von denen, die genau so viel vorstellen und vorstellen wollen, wie sie in Wirklichkeit sind. Er hatte ein gutes, angenehmes Gesicht und ging der Pastorin Lerch mit großer Herzlichkeit entgegen.

Er war stolz auf seine schöne, junge und elegante Frau, das sah man an der Art, wie er ihre Bewegungen verfolgte, und die Frau war wirklich von großer Anmut und Liebenswürdigkeit. Selbst Schwertes, der ihn schon wiederholt beim Apotheker und beim Amtmann begegnet war, sah mit Wohlgefallen auf ihre kleine und zierliche Gestalt hinab, und als sie ihm die Hand reichte, lächelte er und sagte irgendein scherzendes Wort, wie er es während seiner Soldatenzeit gern zu schönen Frauen gesprochen hatte.

»Kommen sie denn?« fragte Frau Ralling die Pastorin, sobald die Begrüßung zu Ende gekommen war, und die Pastorin nickte, ärgerte sich aber ein ganz klein wenig über die allzu große Eleganz dieser Kaufmannsfrau. Solche Toiletten paßten nicht in ihr einfaches, solides Haus, und vielleicht würde die junge Frau Doktor sich bedrückt fühlen, denn die kam jedenfalls in einem sehr bescheidenen Kleid; vielleicht nicht mal in Seide.

Der Major sog den feinen würzigen Duft, der in der Luft schwebte, ein.

»Exotisch!« erklärte der Pastor, und es war ihm eine Freude, daß es dem Major zu behagen schien.

»Ich möchte sagen, daß es eher gut deutsch weihnachtlich riecht!« meinte er, »und in der Tat sind wir ja nicht mehr allzu weit von Weihnachten entfernt; heute ist Schneeluft, und eigentlich ist der Novembermonat hier in diesem Winkel längst nicht der schlechteste Monat des Jahres!«

»Für mich einer der liebsten Monate,« sagte der Pastor. »Der November bringt mir an Stimmungen, an geheimen Regungen und Gedanken, was keiner seiner elf Brüder mir bringt. Man kapselt sich da so ganz in sich selbst – in seine vier Wände ein, läßt Natur Natur sein und lebt sein geistigstes Leben – ist also eigentlich in einem Zustande fortgesetzten Glückes – oder zum wenigsten man fühlt sich hochgespannter als sonst, traut sich mehr zu – – –«

»Ah,« sagte die Pastorin, von einem leise aufgestiegenen Mißtrauen erlöst, denn es hatte wieder geklingelt, »ah«, und sie trat zu ihrem Mann und dem Major Schwertes hin, »nun müssen sie es endlich sein, und dann wollen wir gleich zu Tisch gehen, liebes Männchen – aber führe die Doktorin behutsam die Treppen hinan – ja?«, und der Pastor nickte und lächelte: »Als ob sie eine alte gebrechliche Dame wäre!« sagte er scherzend, und die Pastorin erwiderte: »Alt ist sie nicht und gebrechlich? Nun, körperlich ist sie ja zart, doch nicht gebrechlich – aber ihre Seele – ja, ich glaube die Seele könnte man bei ihr überzart und darum vielleicht gebrechlich nennen!« »Aber die Seele wird sie sich auf unserer Treppe nicht zerbrechen!« scherzte der Pastor weiter – in sein Gesicht jedoch war es wie ein Schatten gekommen. Dann traten sie ein – durch die weit geöffnete Tür traten sie ein, und wenn die Pastorin behauptet hatte, daß etwas Besonderes, etwas Eigenartiges von diesen beiden Menschen ausgehe, so zeigte es sich jetzt, daß sie nicht ganz unrecht mit dieser Behauptung gehabt hatte.

Der Doktor blieb ernst, ruhig, fremd, nicht weit von der Tür stehen. Mit einem leisen Staunen musterte er das Zimmer, in dem er stand und die Menschen, die ihn umgaben, und sein feingeschnittenes, nervöses Gesicht verriet irgendein Unbehagen, das in ihm wach geworden war.

Der Pastor übernahm die Vorstellung, und da der Major sich in den Hintergrund gestellt hatte, trat er zuerst auf das Rallingsche Ehepaar zu, schämte sich jetzt auch ein wenig der auffallenden Toilette der jungen hübschen Frau, suchte dann den Major und war erfreut, daß die beiden Herren sich bereits kannten, und daß der Doktor, der sich vor den Rallings nur stumm und etwas steif verneigt hatte, dem Major die Hand reichte und ein paar Worte zu ihm sprach.

Die Pastorin hatte Magdalene sogleich in ihre Arme genommen; sie war überwältigt von der feinen, zarten, von leiser Melancholie überschatteten Lieblichkeit ihrer jungen Freundin, machte sie flüchtig mit den Rallings bekannt und trat dann mit einem Ausdruck glücklichen Triumphs im Gesicht auf dem Major zu:

»Herr Major Schwertes,« sagte sie mit einer vorstellenden Handbewegung – »meine liebe Frau Doktor, Sie lernen hier endlich Ihren Herrn Nachbar kennen, endlich, sage ich, denn ich verstehe es nicht, daß Menschen über ein halbes Jahr dicht nebeneinander wohnen können, ohne auch nur den geringsten Versuch gemacht zu haben, eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Aber von jetzt an, so hoffe ich, soll nicht nur eine gute Nachbarschaft – sondern eine wahre Freundschaft zwischen Ihnen entstehen, und wenn Sie sich nun die Hände reichen, so lege ich meine Hand darauf, gleichsam zum Segen, mit einem Herzen voll warmer guter Wünsche für Sie alle drei!«

Sie hatte all das eigentlich in scherzendem Ton sagen wollen, aber das gelang ihr nicht, sondern ihre Stimme zitterte vor innerer Ergriffenheit, und bei den letzten Worten, als sie ihre Hände auf die Hände der beiden legte, mußte sie gewaltig schlucken, damit ihr die Tränen nicht aus den Augen liefen.

Des Majors Hand hielt die schmale Hand Magdalenens mit festem Druck umfaßt; seine Augen blickten auf ihr zartes, ernstes Gesicht, ein Schauer ging ihm durch die Seele; vor seinen Augen erstand die Mondnacht im Mai – in der er sie zuerst gesehen, in der sie zuerst auf ihn gewirkt hatte, so – daß er es bis heute nicht vergessen hatte.

Ja – so hatte er sie in seinen Gedanken gesehen, genau so wie sie an diesem Abend aussah, zart, traurig – Weib im Empfinden und doch noch Kind – geschaffen, um geliebt, getragen, vergöttert zu werden – mein Gott – so wie diese hatte er noch keine in der Wirklichkeit gesehen, hatte noch nie empfunden, daß ein Mensch so unmittelbar, so ungewollt und doch so übermächtig zu wirken vermochte. Das war die Frau, wie er sie als Jüngling in seinen Träumen gesehen hatte – war die Frau, von der er alles – alles erwartet hatte – –

Der Druck seiner Hand ließ jählings nach – Magdalenens Finger glitten aus der Umklammerung – ihre Augen umfaßten seine Gestalt, seinen Kopf, sein Gesicht, dann wandte sie sich wieder der Pastorin zu und gleich darauf stand Lerch neben ihr, reichte ihr den Arm und sehr vorsichtig – sehr behutsam, sehr feierlich schritt er, den andern vorauf, mit ihr die Treppe hinan.

Breuer führte die Pastorin, und an des Majors Arm hing die elegante Kaufmannsfrau und lachte und sprach – nicht ohne eine gewisse Anmut, doch eben so, wie sie alle waren – alle die Frauen, die er vor und während seiner Ehe kennen gelernt hatte – auch wie die eine, der er das Beste und Tiefste gegeben, was er damals zu vergeben gehabt hatte, gewesen war.

Im Wohnzimmer war der behagliche runde Tisch, an dem das Pastorenpaar seine Abende zu verbringen pflegte, zu einer üppigen großen Festtafel umgewandelt worden. Das schöne, massive Silberzeug, das ein paar Generationen alt war, strahlte im Licht der flackernden Kerzen, die auf zwei großen, vielarmigen Kandelabern aufgesteckt waren – das feine Porzellan blitzte und der süßwürzige Räucherduft erfüllte auch die Luft dieses Zimmers. Breuer stutzte einen Augenblick, als er, die immer noch sehr erregte Pastorin am Arm, eintrat. Seine Augen mußten sich an die seltsame Beleuchtung, die etwas Beunruhigendes und doch besonders Festliches hatte, gewöhnen. Der Duft des exotischen Räucherpulvers benahm ihm ein wenig die Luft. – Das Sprechen, die Menschen, die ganze Umgebung hier wirkten stark auf ihn, der nun seit Jahren ein einsiedlerisches Leben führte. Seine Blicke suchten Magdalene, und als er sie neben dem Hausherrn stehen sah heiter, unbekümmert und, wie es schien, sogar glücklich – ward er seiner Beklemmung Herr.

»Bitte hier, Herr Doktor!« sagte die Pastorin und wies ihm seinen Platz an, und ehe Breuer es noch recht begriff, saß er zwischen der ganz verklärten Pastorin und jener eleganten jungen Frau, die in ihrer kostbaren hellen Kleidung, geschmückt mit Perlen und Brillanten, wie eine schillernde Schlange aussah – fein, geschmeidig und lockend.

»Ja, wie eine Schlange!« dachte Breuer und suchte wieder Magdalene. Sie saß zwischen dem Pastor und dem Major Schwertes – seltsam beleuchtet von dem flackernden Schein der Kerzen, hatte einen stillen, verträumten Ausdruck im Gesicht, und Breuer, der zwar täglich eng mit dieser Frau zusammenlebte, der aber seit Jahr und Tag nicht mehr darauf geachtet hatte, wie dieses Wesen aussah, das er einstmals seiner Schönheit und Lieblichkeit wegen an sich gerissen hatte, empfand ein staunendes Grauen, als er sie an diesem Abend in der ungewohnten Umgebung anblickte.

War sie immer so schmal, so bleich – so weltentrückt gewesen? Hatten diese dunklen Augen auch damals, als sie den großen Zauber auf ihn ausgeübt, diesen verlorenen, traurigen, sehnenden Ausdruck gehabt? Und war um den Mund auch damals schon der herbe Zug gewesen, der dem Gesicht trotz seiner großen Weiblichkeit etwas Hartes gab?

Er wußte es nicht mehr, wie sie damals gewesen war – nur das eine empfand er, daß sie ihn an diesem Abend hier in der neuen Umgebung sehr fremd, sehr sonderbar anmutete – wie ein Bild, das ihm zwar bekannt vorkam, das er aber nie als sein Eigentum erkennen würde.

Breuers Augen blieben dann an des Majors Gesicht haften. Auch dieser erschien ihm heute in diesem von Sprechen und Lachen erfüllten Zimmer als ein anderer; der riesige, rücksichtslose Mensch, der vor einer oder zwei Wochen mit langen Schritten durch Sturm und Regen neben ihm hergestampft war, der ihm diese seltsame Hochachtung eingeflößt hatte, und der im Grunde die Schuld daran trug, daß er sich am heutigen Abend in diesem Hause befand, der war, wie er jetzt so still und behaglich neben Magdalene saß, wirklich ein ganz, ganz anderer geworden. Das Gesicht hatte etwas Gütiges, Menschenfreundliches – ja, es hatte einen Zug von Weichheit bekommen; auch die Stimme war verändert, die klang nicht mehr rauh und kalt wie auf jenem stürmischen Gang durch die Natur, sondern es war ein ganz eigener Wohllaut in diesem Organ, und sein ganzes Wesen mußte Vertrauen einflößen, denn Magdalene sprach zu ihm, als ob sie ihn seit langem kenne, und Breuer hatte das Gefühl, daß ihr wohl zumute war und daß es ihr Freude machte, mit dem Major sprechen zu dürfen.

Eine Frage schreckte ihn aus seinen stillen Beobachtungen auf:

»Sie sind noch nicht lange hier draußen, Herr Doktor, nicht wahr?« fragte seine schöne Nachbarin und Breuer wandte ihr den Kopf zu, sah ihr zum erstenmal voll ins Gesicht und es dauerte eine Weile, bis er die Antwort fand, denn auch hier geriet seine Fassung wieder ins Stocken.

»Mein Gott – wie ist das alles seltsam!« mußte er denken, und ihm war jetzt, als sei er in einem Museum und wandere von Kunstwerk zu Kunstwerk, denn auch diese Frau packte etwas in ihm an und nahm ihm Ruhe und Ueberlegenheit.

»Nein, noch nicht lange!« sagte er dann wie im Traum, sah wie ein staunendes Kind auf das wundervolle blonde Haar – das lebensfrohe, hübsche Gesicht und den weißen Hals seiner Nachbarin.

»Ja, denn kein Mensch hat Sie je gesehen, Herr Doktor. Wir selber, mein Mann und ich sind ja auch erst ein Jahr hier draußen: aber während wir sämtliche anderen Bewohner schon während der allerersten Wochen kennen lernten, haben wir Sie und auch Ihre Frau Gemahlin noch nicht ein einziges Mal gesehen, und darum ist unsere Freude doppelt groß, daß Sie nun endlich zu uns herabsteigen wollen!«

Sie hatte eine angenehme, klangvolle Stimme; es war ein Ton von Zärtlichkeit darin, der dem Doktor wohltat, der ihn wie eine weiche, schmeichelnde Liebkosung berührte. Noch einmal sah er auf das seltsam hübsche Geschöpf an seiner Seite, von ihr wanderten seine Blicke zu Magdalene, und ein Vergleich drängte sich ihm auf.

»Wie zwei Blumen« dachte er, »aber während die eine überfein von Form und Farbe ist, matt und von einem Duft, der so zart ist, daß man ihn kaum wahrzunehmen vermag – ist diese hier wie eine wundervolle rote Rose, die etwas Betäubendes an sich hat – etwas, was sich aufdrängt, ohne doch lästig zu sein – –« und während er so dachte und seine Blicke wieder und wieder auf seiner Nachbarin ruhen ließ, wanderten des Majors Augen zu ihm hinüber, und stärker als damals während des Marsches in Sturm und Regen fiel ihm jetzt der schwer zu deutende Zug um Breuers Mund auf. Bei Frauen hatte er oft einen solch widerspruchvollen Ausdruck – solch einen Gegensatz zwischen Mund und Augen herausgefunden. Es mochte das im weiblichen Wesen begründet liegen, aber bei einem stark geistig arbeitenden Mann war ihm noch nie eine solche Beobachtung gekommen.

Die Pastorin wandte sich ihrem Nachbar, dem Ehrengast des heutigen Tages mit voller Aufmerksamkeit zu, nachdem der Braten herumgereicht war und nachdem die angenehme Ruhe über sie als Hausfrau kam, die sich erst dann einzustellen pflegte, wenn der materielle Teil einer festlichen Veranstaltung zur Zufriedenheit verlaufen war.

Dann aber war sie auch ganz und gar bei der Sache, denn sie hatte vieles auf dem Herzen, was sie dem Doktor an diesem Abend sagen wollte, und darum gefiel es ihr nicht sonderlich, daß die junge, etwas gefallsüchtige Frau Ralling ihn für ihre Person reichlich stark in Anspruch nahm.

Bevor der Braten zum zweitenmal gereicht wurde, schlug Pastor Lerch an sein Glas, erhob sich und sagte ungefähr folgendes:

»Wenn ich dem Wunsch und Willen meiner lieben Frau folgte, so würde ich unsere lieben verehrten Gäste an diesem Abend mit einer poetischen Ansprache begrüßen – ich würde ihnen in schönen Reimen klarzumachen suchen, welch große Freude ihr Kommen uns bereitet hat. Aber irgendeine Scheu, ein Gefühl ganz besonderer Ehrerbietung vor unserm verehrten Doktor Breuer, diesem Mann, der seine ganze Person einer einzigen großen Geistesaufgabe gewidmet hat, hält mich davon zurück, – wenn auch aus warmem Herzen kommende, so vielleicht doch überflüssige Worte zu machen. Ich will darum mit diesen meinen wenigen Worten nichts anderes ausdrücken, als den innigen Wunsch, daß dieser Abend in unserm Hause den Anfang zu einer tiefen und echten Freundschaft, nicht nur zwischen uns und unsern lieben Gästen, sondern daß er den Anfang der Freundschaft zwischen dem Ehepaar Dr. Breuer und unserm Ort, diesem lieblichen Erdenwinkel, in dem wir leben und in dem wir alle uns wohl aufgehoben und glücklich fühlen, bilden möge! Möge es Ihnen, verehrter Herr Doktor, beschieden sein, Ihr Werk in Ihrer neuen Heimat zu einer glücklichen Vollendung zu bringen und möchte Ihre liebe Gattin sich im Kreise unserer lieben Freunde und Bekannten, die alle ihr mit einem warmen Herzen entgegenkommen, heimisch und glücklich fühlen. Das ist unser Wunsch für Sie, und mehr möchte ich heute nicht hinzufügen, obwohl ich aus dem Gesicht meiner Frau zu lesen glaube, daß sie selbst, wenn sie an meiner Stelle das Wort erhalten hätte, viel mehr gesagt haben würde!«

Die Pastorin lachte laut und lustig auf; in Breuers Gesicht war mädchenhafte Röte gestiegen, und Magdalene senkte die Blicke, während sie mit dem Pastor und dem Major Schwertes anstieß.

»Nun,« sagte die Pastorin zu Breuer, »ich würde vielleicht nicht mehr gesagt haben, als mein Mann es getan hat. Aber viel herzlicher und eindringlicher würde ich es ausgedrückt haben. Sie werden ihn aber richtig verstanden haben, und werden es nun sicher glauben, daß wir alle, alle, die wir hier draußen leben, den großen, herzlichen Wunsch haben, Ihnen und Ihrer lieben Frau das Leben hier so recht, recht schön und heiter zu gestalten!«

Sie war wieder von den eigenen Worten ergriffen und schwieg, obwohl sie gern weiter gesprochen hätte. Breuer dankte ihr liebenswürdiger als es sonst in seiner Art lag, aber dann nahm ihn die Nachbarin zur Linken wieder gefangen, und ohne nur entfernt zu ahnen, daß er die herzliche Pastorin damit kränken könne, lauschte er bis zum Schluß der Mahlzeit nur der melodischen Stimme dieser hübschen, leuchtenden Frau, und hatte dabei immer das seltsam angenehme, prickelnde Gefühl, als ob weiche kühle Hände ihn liebkosten – ein Gefühl, das er bei Magdalene nie – auch zu Beginn ihrer Ehe nicht empfunden hatte.


 << zurück weiter >>