Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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6.

Es war eine der hübschen Sommergesellschaften in Gang, die hier am Ort von jeder Familie, die ein Haus mit Garten besaß, gegeben wurde. Sie verkehrten alle miteinander, denn es waren nicht gar zu viele – vielleicht ein gutes Dutzend. Die andern zählten nicht mit, weil sie nur Dorfbewohner von früher her waren und entweder mit den neuen anspruchsvollen Ansiedlern nichts zu tun haben wollten oder ihrer Bildung nach nicht zur Gesellschaft gehörten.

Diejenigen aber, die sich hier draußen einmal gefunden hatten, hielten sehr treu zueinander, obwohl der Klatsch in gemäßigten Grenzen, wie in jedem kleinen Ort, wo jeder des andern Verhältnisse genau kennt oder kennen möchte, auch hier in Blüte stand.

Es war Hochsommer geworden. Nicht gerade die schönste Jahreszeit für diesen Ort, der wenig Schatten hatte, und an dem ein heißer Sommertag etwas »Wüstenhaftes« hatte. Aber schön waren die Abende, und die Landschaft, die am Tage allzu hell beleuchtet war und dadurch ihre feinen Reize verlor, war an stillen Sommerabenden wieder rein und jungfräulich, und besonders einige Partien in der Nähe des Sees mit Birkenhainen, mit einsamen Pappelalleen und einem Stücklein Nadelwald wirkten wie Märchen aus andern Welten.

Die Pastorin Lerch hatte schon mehrere Gedichte darüber verfaßt und sie in der kleinen Vorortzeitung oder im Kirchenblatt abdrucken lassen und auch der Apotheker hatte in Prosa schon darüber geschrieben.

An diesem Abend fand die Sommergesellschaft bei dem Apotheker und seiner Frau statt. Sie hatten das schönste und ausgedehnteste Grundstück im Ort. »Geradezu schloßartig!« sagten ihm die, die ihm schmeicheln wollten, und der Apotheker hörte das gern, wenn er solch ein Lob auch bescheiden abwehrte.

Das Grundstück, das er besaß, hatte natürlich keine Apotheke in seinen Räumen; die Apotheke, die er einmal besessen, hatte auch nie in diesem Ort gestanden, sondern in der großen Stadt und sie war seit mehr als einem Jahrzehnt verkauft, denn die Frau des Apothekers hatte eine gute Erbschaft gemacht, und das Ehepaar, das nur eine Tochter besaß, die bereits verheiratet war, konnte sich zur Ruhe setzen.

Das Wetter war den Gastgebern sehr hold gewesen; einer der schönsten, mildesten Sommerabende war heraufgezogen, ohne Nebel, wie er hier so häufig war, und ohne Wind, der den bunten Lampions, mit denen der große Garten über und über geschmückt war, lästig geworden wäre.

Blau wölbte sich das Firmament über der schönen Sommererde und unzählige Sterne leuchteten am weiten Himmelsbogen.

Der Pfarrer Lerch erklärte einem jungen Menschen, einem Neffen des Apothekers, die einzelnen Sternbilder und knüpfte einige lehrreiche Bemerkungen daran, die der junge Mann geduldig und vielleicht auch nicht ohne Interesse hinnahm.

Sie hatten auf der großen Terrasse des Hauses gegessen – sehr gut gegessen, denn obwohl sonst im Ort für alle Geselligkeit der Grundsatz galt: reichlich, aber einfach!, so erlaubte man dem Apotheker doch gern, daß er eine Ausnahme von dieser Regel machte, und er tat das denn auch mit großer Freude und Genugtuung, da es ihm auf den Kostenpunkt durchaus nicht anzukommen brauchte.

Was er an besonderen leiblichen Genüssen hier draußen im Vorort nicht erhalten konnte, das bezog er aus der großen Stadt, und er stellte selbst die Speisenfolge fest und hatte auf diese Weise tagelang und oft mehr als eine Woche lang vor einem seiner Feste einen angenehmen Zeitvertreib. Sie hatten auch heute wieder sehr gut gegessen und nicht weniger gut getrunken und es war eine lebhafte, sehr vergnügte Stimmung aufgekommen, die der Dr. Müller als großer Redner vor dem Herrn durch eine kurze humoristische Ansprache noch steigerte, und die der Pastor durch ein von seiner Frau verfaßtes Gedicht, das er vortrug, ins Reich der Poesie lenkte. Selbst der sehr einsilbige Major Schwertes, der selten ein Wort in die Unterhaltung warf und den man immer dreimal einladen und zudem seiner Haushälterin noch eine besondere Mahnung geben mußte, damit sie ihn an seine Verpflichtung erinnere, hatte ein paarmal gelacht und sah viel behaglicher und menschenfreundlicher aus als sonst.

Nach der beendeten Mahlzeit war man zuerst paarweise durch die mit den Lampions geschmückten Wege gewandelt und hatte sich dann endlich auf einem runden Platz, von dem aus man einen schönen Blick über den See hinweg hatte, versammelt.

Hier wurde in winzig kleinen Tassen Mokka gereicht, außerdem besonders feine Liköre, und für die Herren Zigarren.

Die Frau des Apothekers hatte zum Ueberfluß noch kleine, feine Mandelkuchen gebacken, denen trotz des vorangegangenen üppigen Mahles reichlich zugesprochen wurde, und die Pastorin Lerch bat sich das Rezept aus, denn so gut wie diese hier waren ihre Mandelkuchen nicht, obwohl sie weder an Eiern noch an Mandeln dabei sparte.

»Bei meinem Mann kommt erst die rechte Behaglichkeit auf, wenn er am Abend neben seinem Buch einen Teller mit knusperigem Backwerk stehen hat!« erzählte sie, »allerdings, bei ihm heißt Behagen nicht ein nettes Plaudern oder Erzählen, sondern Behaglichkeit heißt bei ihm, solchermaßen in ein Buch vertieft zu sein, daß er nicht hört und sieht, was um ihn her vorgeht!«

Während seine Frau das von ihm sagte, vernahm man des Pastors Stimme, der immer noch neben dem jungen Menschen, dem er heute zum erstenmal begegnet war, stand und ihm den Sternhimmel erklärte. Er war ganz und gar bei dieser Sache und sprach mit großer Eindringlichkeit und Güte; in einiger Entfernung von ihm hatte sich der lange, schlanke Major Schwertes gestellt und nahm teil an dem Vortrag und sah fast andächtig zu dem funkelnden Sternenmeer auf.

Er hatte sich eine leichte Zigarre gewählt, befand sich in leidlich guter Stimmung, fühlte aber nach der langen geräuschvollen Sitzung bei Tisch nun doch das Bedürfnis nach Alleinsein und hätte sich gern ohne Abschied gedrückt, um vielleicht daheim noch eine Stunde auf seinem Balkon zu sitzen und die Gedanken ihre Wege gehen zu lassen.

Aber das durfte er sich nicht erlauben, wenn er nicht wieder ganz zum Einsiedler werden wollte. Das Einsiedlerleben an sich wäre nicht einmal das Schlimmste, aber ehe es so weit kam, würde er eine ganze Anzahl unliebsamer Besucher in seinem Hause sehen, die ihn zur Rede stellten und so leicht nicht locker lassen würden.

In erster Linie die Pastorin Lerch, die ihn ja zuerst entdeckt und mit sehr viel Mühe so weit gebracht hatte, wie er jetzt war – dann aber auch der Pastor selbst und der Doktor Müller, der wahrscheinlich gleich einen Krankenbesuch daraus machen würde. Auch der Amtmann Sereals und der Apotheker, womöglich noch einer oder der andere von den hier ansässigen Rentnern, kurz, die ganze Meute hier würde ihm nachstellen, bis er ihnen entweder zu Willen war oder ihnen in einer so eindeutigen, unverbindlichen Art antwortete, daß ein Bruch für alle Zeit daraus entstehen müßte.

Der Major war nicht zufrieden mit sich selbst; er war in diesen Vorort herausgezogen, um allein zu sein. Er erinnerte sich genau des Tages, an dem der Zufall ihn hierhergetrieben hatte. Es war etwa ein Vierteljahr nach der Katastrophe gewesen, die sein bisheriges Leben in Trümmer geschlagen hatte.

Diese Katastrophe war der Treubruch seiner Frau gewesen, mit der Schwertes in glücklicher Ehe zu leben geglaubt hatte und dann einsehen mußte, daß das Glück ein durchaus eingebildetes gewesen war.

Zum Duell war es nicht gekommen, denn die Neigungen der ehemaligen Majorsgattin waren nach unten gerichtet gewesen, wo eine Genugtuung mit Waffen nicht gegeben werden konnte. Aber der Abschied war notwendig geworden, und aus einem zwar immer schon ernsten und etwas grüblerischen Menschen war durch diese Ereignisse ein finsterer Menschenfeind geworden. Die Frau hatte eine Katze zurückgelassen, die den einsamen Major noch ein paar Wochen umschnurrte und umschmeichelte; dann war auch die vor ihm fortgelaufen.

Monatelang wußte Schwertes nicht, was mit seinem Leben beginnen, hatte mehr wie einmal den Revolver in der Hand gehabt, um Schluß zu machen, und hatte dieses Ende, das nichts weiter als ein erbärmliches Sichdrücken bedeutet hätte, dann wieder verworfen.

Die Stadt aber, in der er mehr als zwei Jahrzehnte in des Königs Uniform gegangen war, gefiel ihm nicht mehr, seit er die Welt mit andern Augen anschauen gelernt hatte. Zu einer Reise ohne die Frau mochte er sich nicht entschließen, aber weite Fußmärsche gefielen ihm. Märsche in die Einsamkeit, wo er wenig Menschen begegnete, laute Selbstgespräche führen konnte und oft staunend an irgendeinem Punkt anlangte, von dem er sich sagen mußte: Hier ist es schön und hier verlohnte es sich vielleicht noch einmal zu versuchen, ob es noch einen Weg gibt, der wieder in normale Bahnen führt! –

Auf einer solchen Wanderung war er denn auch an diesen Ort gekommen, hatte zufällig gleich die kleine turmgekrönte Villa entdeckt, die zum Verkauf stand, und hatte darüber ein paar Nächte nicht schlafen können.

Damals war Herbst gewesen und alles war in eine fast überwältigende, leuchtende Schönheit eingehüllt gewesen. Das Laub der Bäume zeigte unbeschreibliche Farbenpracht – das Gras grünlich schimmernd, die Luft von einer Reinheit, daß man sie wie etwas Köstliches in vollen Zügen trank, und der ganze Ort so versunken und verträumt – kaum ein paar Kinder auf der Straße, und das turmgekrönte kleine Haus in seinem Garten hatte etwas Abgeschlossenes – war wie eine Festung, an die der Feind so leicht nicht herankommen konnte.

Es war dann alles sehr schnell gegangen. Des Majors Finanzen waren in bester Ordnung und hätten ihm auch den Anlauf eines größeren und prächtigeren Grundstückes als dieses hier war, erlaubt. Ihm aber hatte dies im herbstlichen Garten vergrabene, turm- und erkergeschmückte Haus es angetan, und noch bevor der Winter ins Land zog, befand er sich mit all seinen Habseligkeiten und mit der Haushälterin, die er nach der Trennung von seiner Frau durch eine Zeitungsannonce erobert hatte, in seinem Besitztum.

Der erste Winter verging so, wie er es sich vorgenommen hatte. Niemand kümmerte sich um ihn und desgleichen kümmerte er sich um niemand. Die Haushälterin – obwohl schon bei Jahren – klagte manchmal über Langeweile, da man, abgesehen davon, daß man ganz ohne Verkehr war, mit dem Herrn ja überhaupt nicht sprechen konnte – also vollkommen auf die eigene Gesellschaft angewiesen war. Aber sie blieb trotz dieses Uebelstandes, und nach einiger Zeit gelang es ihr denn doch, einen gewissen Ueberblick über die Verhältnisse in diesem Erdenwinkel zu erhalten und es kam nach und nach manches Plauderstündchen zustande. Auch mit der Pastorin Lerch kam es zu solch einem Straßen- und Gartenzaunverkehr und da die Pastorin geschickt in ihrem Verhör und die Haushälterin sehr redebedürftig war, erfuhr diese Patronin des Ortes vieles, was ihr zu denken gab, und was ihr mitfühlendes Herz rührte, und eines Tages faßte sie sich Mut und begann ihren ersten Anlauf auf die Festung.

Nun, und wenn ein Mensch unermüdlich in seinem Bestreben, Gutes zu stiften, bleibt, nie müde und verdrossen wird, sondern immer mit demselben Gleichmut und derselben Güte in Blick und Wort wiederkommt, dann gelangt er endlich zu seinem Ziel, und so oft die Pastorin jetzt den Major Schwertes in einer Gesellschaft begrüßte, sah sie ihn an mit Augen, die deutlich sagten: »Siehst du, daß ich dich gerettet habe! Wer weiß, was schon aus dir geworden wäre, wenn ich mich deiner nicht angenommen hätte!«

Sie glaubte ehrlich an Gefühle der Dankbarkeit beim Major und ahnte nicht und hätte es nicht für möglich gehalten, daß dieser seltsame Mensch in seinem tiefsten Innern oft einen bösen Ingrimm gegen sie hegte, und in Stunden, in denen Schwermut und Weltüberdruß in überfielen, oft in Versuchung war, ihr einen Brief zu schreiben, in dem er ihr sehr deutlich mitteilen würde, daß er Natur und Ruhe und Einsamkeit gesucht hätte, und daß diese drei Faktoren ganz allein der Grund zu seiner Uebersiedelung hierher gewesen seien – und ein aufgezwungener Verkehr mit Menschen, die ihn durchaus nichts angingen, sei jedenfalls das, was er am wenigsten gesucht habe.

Aber zu diesem bösen Brief kam er natürlich niemals, und es war vielleicht gut so, denn hin und wieder kam doch einmal ein Abend, an dem er sich wohl fühlte – und so war es heute gewesen bis zu diesen Augenblicken, da der Pastor Lerch dem jungen Menschen den Sternenhimmel erklärte und im Major einen Zuhörer gefunden hatte.

Vielleicht war es gerade der Sternenhimmel, der still leuchtende See und der weiche, fast zärtlich zu nennende Atem dieser Sommernacht, die dem Major das Bedürfnis nach Alleinsein aufdrängte und ihn zu dem bedrückenden Resultat kommen ließ, daß ihm so eine Bewegungsfreiheit heute nicht mehr erlaubt war.

Die Pastorin saß indessen auf einer bequemen, breiten Korbbank zwischen der Hausfrau und der Frau des Doktors Müller, und ihr gegenüber in zwei Korbsessel gelehnt, saßen die Amtmannsfrau und eine Kaufmannsgattin, die erst seit zwei Jahren hier draußen wohnte.

Das Gespräch hatte sich zuerst noch um die soeben genossenen Tischfreuden gedreht, war dann auf die poetische Begabung der Pastorin, die dies reizende Gedicht auf den heutigen Abend so sinnvoll verfaßt hatte, übergesprungen, und hatte dann jählings eine ganz andere Wendung genommen.

»Hat denn keine der Damen noch unsere neuen Mitbürger, die Besitzer des Gormannschen Hauses, zu sehen bekommen? Ich glaube, so etwas ist in unserm Orte noch nicht dagewesen, daß ein Ehepaar ein volles Vierteljahr mitten unter uns wohnt und kein Mensch hat sie noch zu Gesicht bekommen, und – wie es heißt, sind die beiden noch nicht vor die Tür des Hauses getreten. Ich habe gehört, daß sie eine alte Frau als Bedienung haben, die aber in der Stadt wohnt und nur zwei- oder dreimal in der Woche herauskommt. Die macht dann wohl die gröbsten Arbeiten und besorgt die Einkäufe – das übrige soll die Frau alles selbst verrichten. Nun ja, der Garten ist ja völlig ungepflegt und wird niemals benutzt; selbst auf dem Balkon sind sie nicht zu sehen. Man weiß nicht, was man aus ihnen machen soll. Wie ich aber von Frau Gormann gehört habe, soll diese Frau Dr. Breuer die Tochter aus einem sehr reichen Hause sein und er – der Mann, ein etwas komischer Heiliger, wie sie sagte, soll Gelehrter sein und über einem Werke sitzen.

Das ist ja alles sehr gut möglich, aber merkwürdig erscheint mir doch manches dabei – so – daß sie fast ganz ohne Möbel eingezogen sein sollen und das Wenige habe durchaus nicht herrschaftlich ausgesehen!«

Die Pastorin machte eine Pause und die vier umgebenden Damen sahen sie voll Interesse an.

»Ich habe neulich,« sagte die Amtmannsfrau, als ich gegen Abend beim Kaufmann Geißer einen kleinen Einkauf machte, eine fremde, sehr schlicht gekleidete Dame gesehen. Sie zahlte gerade als ich kam und ging dann sehr schnell hinaus. Der Kaufmann sagte mir dann, daß dieses die Frau eines neuzugezogenen Doktors sei – aber ich hatte damals den Kopf voll von anderen Dingen und dachte nicht weiter darüber nach. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, war sehr schlank und sah eigentlich jung aus!«

Die Pastorin sah gedankenvoll vor sich hin.

»Ja, die Haushälterin vom Major, die ja Garten an Garten mit ihr wohnt, hat sie natürlich auch öfters gesehen und sie sagt auch, daß sie jung aussähe, aber doch nicht eigentlich wie eine Dame, die aus sehr reichem Hause stammt. Neulich aber hat sie Besuch von ihrem Vater gehabt, der im eigenen Auto angefahren kam. Frau Mals, des Majors Haushälterin, hat mit dem Chauffeur, der über eine Stunde warten mußte, gesprochen. Und dann sind nachträglich doch noch ein paar gute Möbelstücke gekommen, und es soll wirklich so sein, sie soll aus sehr reichem Hause stammen; die Schwester hat sich mit einem Dragonerleutnant von Adel verlobt.«

Wieder machte die Pastorin eine Pause, dann gab sie sich einen Ruck und fuhr fort: »Ich erzähle Ihnen all das nicht, um die Geheimnisse dieses seltsamen Paares auszuplaudern, sondern aus einem ganz andern Grunde. Wenn ich von Menschen weiß, daß sie sehr einsam sind und sich vielleicht in dieser Einsamkeit nicht wohl fühlen, und wenn ich mir dann sage, daß ihre große Zurückhaltung vielleicht nur auf Schüchternheit und Bescheidenheit beruht, dann läßt mir das keine Ruhe, dann ist mein Herz ordentlich gefoltert von dem Bedürfnis, helfend einzugreifen – und sehen Sie, aus diesem Grunde brachte ich das Gespräch auf das Breuersche Ehepaar und wollte Ihre Meinung hören, wollte gern wissen, ob Sie nicht auch der Ansicht sind, daß wir hier Schritte tun müssen, daß es an uns ist, diesen zwei einsamen Menschen zu zeigen, daß sie uns willkommen sind und daß wir sie herzlich aufnehmen werden, wenn sie uns aufsuchen?«

Die Frau des Apothekers, die ebenfalls ein sehr gutes Herz hatte, war sofort einverstanden mit diesem Vorschlag; die Doktorsfrau, die sehr lebhaft und selbst noch jung war, klatschte sogar in die Hände, denn sie sehnte sich nach einem jugendlichen Verkehr – die Frau des Kaufmanns kam nicht weiter in Betracht und die Amtmannsgattin schwieg einstweilen. Sie stammte selbst aus sehr gutem Hause und hielt auf Formen, aber dann schien sie doch nicht abgeneigt, meinte nur, man müsse so eine Sache vorsichtig in die Wege leiten – müsse erst ein wenig tasten, um sich sofort zurückziehen zu können, wenn man fühle, daß eine Annäherung unerwünscht sei.

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein!« sagte Frau Pastor Lerch siegessicher – »in solchen Dingen kenne ich mich aus, wie kein andrer!« Und dann sagte sie im Flüsterton: »Wie habe ich es denn mit unserm Major Schwertes gemacht? Der war doch geradezu Menschenfeind, sah aus, als wollte er die ganze Welt vergiften, so daß die Kinder auf der Straße erschreckt vor ihm davonliefen. Und heute? Kommt er heute nicht pünktlich auf jede Einladung, die an ihn ergeht? Und wenn er auch nicht immer unterhaltsam und besonders liebenswürdig ist, so kann man doch nicht sagen, daß er sich als ein Spaßverderber benimmt und meinem Herzen ist so wohl, daß ich das fertig gebracht habe. Man darf über den eigenen Freuden doch nie vergessen, daß man Pflichten gegen seine Nebenmenschen hat, besonders wenn sie ein unverdient trauriges Schicksal haben. Und unser Major ist doch erwiesenermaßen völlig schuldlos geschieden!«

Man kannte im ganzen Ort seine Ehetragödie, und die Damen nickten teilnehmend und sahen alle nach der Richtung hin, in der der Major, jetzt in einer Unterhaltung mit dem Pastor und dem Amtmann verwickelt, stand.

»Also, wenn Sie meinen, meine Damen, werde ich einen Versuch bei der jungen Frau Breuer machen und Ihnen beim nächsten Kränzchen meine Resultate mitteilen. Mehr als eine Abweisung kann man ja nicht erhalten, und da man weiß, daß sie von gutem Herkommen ist, hat man Taktlosigkeiten nicht zu fürchten.«

Indessen kamen die Herren auf den runden Tisch, an dem die Damen saßen, zugeschritten. Der Apotheker schaffte mehr Stühle herbei, und dann saß man behaglich zusammen und die Nacht ward immer schöner und leuchtender. Ein süßer Duft von Jasmin, Rosen und viel anderen Sommerblumen durchschwängerte die Luft. Ein ganz leiser Wind kam vom See herüber, und die Doktorin, die zufällig neben ihrem Manne saß, fühlte die Zärtlichkeit, die in dieser Hochsommernacht lag, in ihrem Blut, schlang den Arm um den Mann und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

Die Gesellschaft schmunzelte und freute sich – nur im Gesicht des Majors war ein rätselvoller, nicht allzu freundlicher Ausdruck, und er wandte sich der Pastorin zu, die nicht mehr in der Mitte der Bank, sondern an einer Seite derselben lehnte und dem Major einen Stuhls neben sich hingeschoben hatte.

»Nun, immer fleißig? Immer über den Büchern?« fragte sie. »Mein Mann sagt mir, daß in Ihrer Bibliothek unsere sämtlichen Philosophen vertreten seien, die unangenehmen sowohl, wie die liebenswürdigen!«

»Liebenswürdige Philosophen kenne ich nicht!« wehrte der Major ab, »aber unangenehm sind sie auch nicht. Man muß sich nur Mühe geben, sie zu verstehen, dann geht man ganz sicher an ihrer Hand.«

Der Pastorin war nicht daran gelegen, in ein Gespräch über Philosophie verwickelt zu werden; sie lebte der Gegenwart und hatte ihre eigene Philosophie, bei der ihr sehr wohl war und die sie ihren Mitmenschen beizubringen bedacht war. Nach ihrer Philosophie waren die Menschen geschaffen, um das Gute, das sich ihnen bot, in vollen Zügen zu genießen, ihre Pflicht zu erfüllen und der leidenden Menschheit beizustehen, soweit es in den Kräften eines jeden stand. Das nannte sie wahres Christentum, und sie hatte vielleicht recht.

»Sagen Sie einmal, Herr Major, haben Sie denn auch Ihre Nachbarn, die Dr. Breuers, noch nicht zu Gesicht bekommen?« fragte sie dann unvermittelt, und der Major stutzte und zögerte eine Weile mit der Antwort.

Eine Vision kam ihm: eine stille, silberüberflossene Mondnacht – blauer gestirnter Himmel wie heute – ein unhörbares, geisterhaftes Weben in der Luft, und auf dem Balkon des Nachbarhauses die zusammengesunkene Gestalt einer Frau, deren Schultern im Weinen bebten.

Ein Geheimnis war das – ein unendlich schönes, stilles, trauriges Geheimnis, von dem nie ein Mensch etwas erfahren sollte.

»Nein, haben Sie sie wirklich auch noch nicht gesehen?«

Ein leises Lächeln kam um seinen Mund.

»Sagten Sie nicht von mir, daß ich immer auf Wolken wandele und daß ich die Menschen nicht eher gewahr werde, bis sie mich beim Namen anrufen?« fragte er, um sich der Antwort zu entheben, und die Pastorin lachte.

»Ja – da haben Sie recht, und es war überflüssig, gerade Sie als Auskunftei benutzen zu wollen. Wir haben nämlich einen Angriff auf das Breuersche Ehepaar vor und wollen sehen, ob wir sie nicht aus ihrer Einsiedelei herauslocken können. Es bedrückt mich, Menschen in meiner Nähe zu wissen, die vielleicht an den Freuden des Lebens teilnehmen möchten, aber nicht die rechte Art haben, sie sich zugänglich zu machen.«

Der Major hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, und sein Gesicht lag jetzt völlig im Schatten, und das war gut, denn der Ausdruck in seinen Augen und ein paar Linien um seinen Mund würden der Pastorin nicht gefallen haben.


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