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»Hier wohnt sie!« sagte sich Breuer, und während er das zu sich selbst sagte, fühlte er, wie trotz der eisigen Kälte um ihn her heiße Schauer über seinen Körper liefen.
»Hier wohnt sie!« Ihm war zumute, wie einem Kind, das ein Märchen auswendig kennt und nun plötzlich alles, was ihm vorher nur in Kopf und Seele gelebt hat, leibhaftig vor sich erstehen sieht. Es war noch November, aber der Winter war gekommen, Schnee wirbelte in großen, weichen Flocken um ihn her – alles war weiß ringsum, es kostete Mühe, sich durch diesen dichten Schleier durchzufinden.
Das Haus der Rallings lag etwas außerhalb des Ortes in einem großen, parkähnlichen Garten.
Breuer sah zwei Reihen hoher Tannen, die vom Gartentor bis zum Hauseingang eine breite Allee einfaßten, die Umrisse des Hauses ragten schwarz und wuchtig in die weiße Luft hinein. Aus den breiten Fenstern des ersten Stockes floh Licht in die weiße Finsternis hinaus.
Breuers Herz bebte; er stand ängstlich, mit hämmernden Pulsen am Eingang – las den Namen, der auf dem Messingschild neben der Klingel stand – las ihn, als ob ein Evangelium sich ihm aus diesen paar Buchstaben offenbarte, fror und zitterte und ging dann langsam, sehr langsam den Weg, den er gekommen war, zurück.
Wie war das möglich geworden! Welche Macht hatte ihn getrieben, diesen Weg zu gehen? Was war mit ihm geschehen seit jenem Abend im Pastorenhaus? Wie schwer ist das, nach solch einem Gang, zu dem einen unerklärliche, marternde Sehnsucht treibt, in die Nüchternheit des eigenen Hauses zurückzukehren!
Wie höhnisch grinsten ihn seine Schriften an! Wie kalt, öd, wie ganz ohne Reiz, ohne Seele alles um ihn her!
Magdalene stand am Fenster seines Zimmers und wartete auf ihn. Auf dem Tisch, auf dem seine Arbeit lag, brannte die Lampe; er erkannte die Umrisse ihrer Gestalt, sah die verschränkten Arme, auf denen der Kopf ruhte, und ein böses Gefühl stieg in ihm auf.
Ach – jetzt sie nicht sehen – ihre müde Stimme nicht hören – in ihre vorwurfsvollen Augen nicht blicken müssen!
Den ganzen langen Tag war das klingende Lachen der andern um ihn her gewesen – er hatte sich nicht davor retten können. Die blonden Haare hatten vor ihm gezittert – die Augen geleuchtet – der rote Mund gelacht und gesprochen.
Ach Magdalene – Magdalene! Warum war sie so farblos, so nüchtern – so entsetzlich beklemmend in ihrer duldenden Langmut?
Breuer trat leise und zögernd in sein Zimmer; Magdalene hauchte ein leises, erlöstes »Guten Abend« und war wie ein Schatten an ihm vorüber geglitten zur Tür hinaus.
Dann saß er wieder, wie er diesen ganzen Abend gesessen hatte – den Kopf in die Hände gestützt – die Augen mit einem Ausdruck verzweifelter Hoffnungslosigkeit in die Ferne gerichtet – unfähig, einen Gedanken zu fassen – unfähig, auch nur einen Buchstaben zu lesen.
Nach einer Weile kam die alte Frau, stellte ihm schweigend ein Abendbrot auf dem Tisch zurecht und ging wieder.
Das Essen widerte ihn an – er lief zur Tür, rief die Frau zurück und befahl ihr, wieder abzuräumen.
Und dann weiter träumen – weiter diese tollen Bilder vor sich sehen, das Lachen hören – selber sprechen – das Haar flimmern sehen – den Duft, der von ihr ausgegangen war, einatmen!
War das schon Wahnsinn oder war es erst der Weg zur Dunkelheit? Wieder kam die arme Magdalene ins Zimmer – aber Breuer sprang ihr wie ein gereiztes böses Tier entgegen, mit abwehrenden Händen, mit Augen, aus denen Haß glühte.
»Geh – ich bitte dich, geh!«
»Arbeitest du, Martin? Störe ich?« fragte sie mit dieser großen Traurigkeit in der Stimme, die er nur zu gut kannte, und die ihn heute zur Raserei zu bringen drohte.
»Geh! Du nimmst mir alles, wenn du bleibst! Du zerstörst mir Welten – du weißt nicht, was du tust, wenn du nicht gehst!«
Sie saß dann oben im blauen Zimmer unter dem Bild des roten Kardinals – das Herzeleid war zu groß geworden – die Wände des Zimmers drückten – die Luft war schwer und beklemmend – der Kopf brannte.
Die Türen zum Balkon gingen schwer auseinander; der dichte Schnee hatte sich davor gelegt, war eingefroren und es war ein merkwürdig kreischendes Geräusch, als er endlich zersprang.
Weiß – riesenhaft – unübersehbar lag die Welt vor Magdalene, als sie draußen stand – die kalte Luft drängte sich in ihre Kleider, strich um den heißen Kopf, nahm ihr das Unerträgliche ihres Schmerzes.
Nun flogen auch ihre Gedanken zu der blonden mit den blitzenden Steinen an Hals, Brust und Händen, hörte auch sie das wohlklingende, etwas leichtfertige Lachen und die angenehme schmeichelnde Stimme. Eine Brücke entstand, die von dieser Frau zu dem armen Mann da unten in dem nüchternen Zimmer führte, zu diesem zerquälten Mann, der nicht essen und trinken mochte und wahrscheinlich nicht arbeiten konnte. Sie sah ihn wieder im Pastorenhaus hinter dem Sessel der Frau Ralling stehen, sah den merkwürdig beliebten Zug in seinem Gesicht und hörte ihn wieder sprechen in jener heiter scherzenden und doch erregten Art, in der er nie – niemals zu ihr gesprochen hatte.
Magdalene legte die Hand auf ihr Herz; es war wie ein böser, zuckender Stich durch sie gefahren.
Um sie her fielen die Flocken – groß, weich, lautlos. Alles totenstill um sie her. Die ganze Welt weich und verschwommen: gar keine Umrisse mehr sichtbar – der dunkle Wald, der sonst so scharf die Landschaft abgrenzte, ganz verschwunden in dem endlosen Weiß.
Nur die Umrisse des Nachbarhauses waren dunkel zu erkennen; aus einem Fenster strahlte rotes Licht – zitternd brach es sich einen Weg durch die fallenden Flocken durch.
»Der Major!« dachte Magdalene, fühlte, wie dieser Gedanke ihr wohltat und sagte noch einmal leise vor sich hin: »Der Major! Auch ein Einsiedler – auch ein Sonderling – auch einer aus dieser Welt, nach der ich mich gesehnt habe und in der das Leben doch so schwer zu ertragen ist!«
Das rote Licht, das von ihm kam, zitterte in mattem Strahl bis zu ihr hin – sie breitete die Hand danach – sie lächelte ein mattes Lächeln und es war etwas Gutes und Warmes bei ihr – etwas, was diese große Mutlosigkeit verscheuchte, was ihr zu sagen schien: »So dunkel und aussichtslos ist nichts auf dieser Erde, daß nicht von irgendwoher noch ein Trost, ein Licht kommen könnte!«
Am andern Tag kam über Magdalene ein seltsamer Drang – stieg ein Wunsch in ihr auf, der so stark, so eindringlich, so übergroß in ihr wurde, daß er nicht zurückzudrängen war.
Hoch lag der Schnee auf den Wegen – nur ein schmaler Fußpfad war ausgeschaufelt; eisiger Wind pfiff um die Häuser und riß an den kahlen Aesten der Bäume.
Magdalene trug den warmen Pelzmantel, der einstmals der verstorbenen Mutter gehört hatte – auf dem Kopf hatte sie eine kleine Pelzmütze, die Hände staken in dicken weißen Wollhandschuhen.
Es war keine Besuchstoilette, die sie trug, denn der Mantel war längst nicht mehr der Mode entsprechend, und die Mütze paßte zu Sport oder eiligen Gängen – und doch befand Magdalene sich auf dem Weg zu der elegantesten Frau dieses Ortes und dachte mit keinem Gedanken daran, daß man über sie lächeln könne.
Frau Rallings Gesicht lächelte wirklich, als sie Magdalene in einem schönen, warmen, mit viel Geschmack eingerichteten Zimmer entgegentrat – aber sie lächelte aus einer großen Freude und Genugtuung heraus. Ach, die Gedanken der beiden Breuers waren in dieser Zeit, die seit dem Fest beim Pastor Lerch vergangen war, nicht einseitig den Weg zu dieser schönen, heiteren Frau hingeflogen – Magdalene fühlte das plötzlich und sehr eindringlich, als ihre Hand in der der Frau Ralling lag, als ihre Augen in dies Gesicht, das die große Freude über einen erfüllten Wunsch nicht verbergen konnte, blickten.
»Ich habe oft an Sie gedacht!« sagte sie leise und nicht ganz frei.
»Und meine Gedanken waren vielleicht noch viel öfter bei Ihnen!« antwortete Frau Ralling herzlich, »und immer war ich traurig, wenn ich mir sagte: sie kommt nicht! Du siehst sie vielleicht nicht wieder. Es gibt so viel Menschen, an denen man gleichgültig vorübergeht, deren Kommen und Gehen ganz ohne Eindruck bleibt! Aber die Gleichgültigen sind immer da – man begegnet ihnen überall – während jene andern fernbleiben!«
Magdalene sah erstaunt auf. Das Gesicht vor ihr war jetzt ernst und hatte einen guten Ausdruck von Wahrhaftigkeit. Nicht so lockend, leuchtend und belebt waren die Züge heute wie an jenem Abend; das Haar war schlichter geordnet und flimmerte nicht, und das helle Kleid, das sie trug, verhüllte die Gestalt mehr. Sie sah älter, aber vornehmer aus als im Pastorenhaus, und Magdalenes Herz erwärmte sich.
»Ich glaube, mein Mann würde sich sehr freuen, wenn Sie uns besuchen wollten, Frau Ralling. Wir geben keine Gesellschaften und besuchen auch keine größeren Feste. Jener Abend bei den lieben Lerchs war eine Ausnahme: aber zum stillen Plaudern hätte ich Sie gern einmal bei mir – vielleicht am Nachmittag einmal – wenn Sie Lust hätten. Wir würden dann ganz allein sein – Sie, mein Mann und ich!«
Frau Ralling drückte Magdalenens Hand.
»Wie sehr ich mich darauf freue, kann ich nicht sagen!«
»Es ist,« fügte Magdalene leiser hinzu – »ich will ganz offen sein, es ist für meinen Mann, daß ich Sie bitte. Nein, staunen Sie nicht, auch ich freue mich natürlich von ganzem Herzen auf Ihren Besuch, aber für ihn ist es mehr als bloße Freude – –«
Sie stockte, denn die Blicke der Andern ruhten mit seltsamem, fast erschrockenem Ausdruck auf ihr.
»Es kommt sehr selten vor, daß mein Mann Interesse an einem Menschen nimmt; er geht sehr einsam durch die Welt – er glaubt, keiner Zerstreuung, keines geistigen Austausches zu bedürfen. Ich glaube das jetzt nicht mehr – habe es vielleicht nie ganz begreifen können, aber seit dem Abend im Hause der Lerchs, seit ich ihn so gesehen habe, wie er damals war und wie er dann die nächsten Tage arbeitete – seitdem weiß ich, daß er so gut wie wir alle nicht ganz allein mit sich fertig wird, – daß er hin und wieder einen besonderen Menschen braucht, der ihm Anregung und neue Kraft gibt.«
Frau Ralling hatte tiefe Röte im Gesicht.
»Ich hatte,« sage sie zögernd, aber doch entschlossen, vollkommen wahr zu sein, »ich hatte damals eine große Angst im Herzen. Ich glaubte, nicht nur unsern Gastgebern, sondern auch Ihnen mißfallen zu haben. Ich war traurig – ich habe gelitten, Frau Doktor. Ich wollte nichts Böses und will es auch heute nicht – aber es ging etwas von Ihrem Manne in mich über, daß mein Temperament entfesselte. Ich weiß nicht, ob Sie den Zustand kennen, in den man kommen kann, wenn ein Mensch, vor dessen Geist man größte Ehrfurcht hat, plötzlich zeigt, daß er einen der Unterhaltung würdigt – wenn man sieht, wie ein stilles Gesicht lebendig – wie ein hochmütiges Lächeln zu einem herzlichen wird. – Sehen Sie – auch ich lebe zu einsam hier. Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Es war ein Mißgriff, daß wir hier herauszogen; ich bin für die Einsamkeit nicht geschaffen. Ich brauche Menschen, die mir mehr sind, als die Leute aus diesem Ort es mir sein können, aber wenn ich solche Menschen habe, dann bin ich eine andere als die, die Sie jetzt vor sich sehen. Ich muß Ihnen das sagen. – Ach, Sie glauben nicht, wie furchtbar mich der Gedanke in diesen zwei Wochen gequält hat, daß ich Ihr Mißfallen erregt hätte – daß Sie mich meiden würden. Und nun sind Sie da – und es ist kein Versteckspiel zwischen uns, sondern Sie sagen mir als Frau dieses Mannes: »Kommen Sie zu ihm!« Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten!«
Magdalene sah mit vollem, ruhigem Blick in das Gesicht der Andern.
»Ich bin nicht eifersüchtig!« sagte sie leise. »Ich will zugeben, daß ich gelitten habe an jenem Abend – aber ich habe ohne Groll, ohne ein Gefühl böser Eifersucht gelitten. Es kostete nur einigen Schmerz, bis ich mir ruhig zu sagen vermochte: »Sie gibt ihm Dinge, die du ihm nicht geben kannst! Sie weckt Gedanken und Fähigkeiten in ihm, die an deiner Seite im Schlummer lagen!« Ich liebe meinen Mann, Frau Ralling, und wäre es nicht absurd, wenn ich einem Menschen zürnen wollte, der es fertig bringt, ihm Freude zu bereiten, der ihn, wenn auch nur für Stunden, von sich selbst erlöst!«
»Sie sind groß! Sie sind so, wie ich noch keine Frau sah! – Frau Ralling sagte das ernst und ihre Stimme zitterte dabei. »Ich werde also kommen und ich werde sein, wie ich sein muß – ohne Komödie, ohne die Maske, die man hier im Orte tragen muß, und die ich hasse.«
Magdalene nickte.
»Kommen Sie bald!« Auf dem eiligen Gang nach Hause hielt die Pastorin sie an. Sie kam aus dem Dorf, hatte eine Tasche am Arm und ihr rundes Gesicht leuchtete vor Frische und Gesundheit.
»Endlich!« rief sie. »Ich war vor kurzem bei Ihnen und hörte, daß Sie in die Stadt gefahren seien. Hat man es Ihnen gesagt? Nun warte ich von Tag zu Tag auf Ihren Besuch. Wie geht es Ihnen? Wie geht es Ihrem Mann? Bleich sehen Sie aus trotz des prächtigen Wetters!«
»Ich komme bald!« versprach Magdalene, aber ihre Gedanken waren bei den andern, und plötzlich fühlte sie, daß auch der Pastorin Gedanken unwillkürlich zu jener Frau, von der sie kam, geflogen waren. Ja, sie fühlte, daß die Pastorin in diesen Augenblicken dasselbe Bild vor sich sah, das auch vor ihrer Seele schwebte: die glänzende, sprühende Frau Ralling, und neben ihr den Mann, der den Ruf der Unnahbarkeit, den er sich erworben hatte, an diesem Abend grausam Lügen gestraft hatte.
»Es ist Mittag,« sagte sie eilig, »mein Mann wartet; ich komme bald zu Ihnen – ich freue mich auf eine stille, liebe Stunde!« und die Pastorin drückte ihr beide Hände und hatte wieder den herzgewinnenden, mütterlichen Ausdruck im Gesicht, der einem müdgewordenen Herzen wohltun muß.
Die Pastorin erzählte daheim ihrem Mann: »Ich habe Magdalene Breuer gesehen: sie war bleich, aber in ihren Augen lag etwas, das wie Glück aussah. Sie will kommen uns zu besuchen! « Und als der Pastor schwieg und nur beifällig nickte, fuhr sie fort: »Ich bin doch im allgemeinen ein Mensch, der klar und zielbewußt die Dinge sieht und auffaßt – das mußt du zugeben, nicht wahr? Ich lasse mich auch nicht lange von Menschen irreführen, und wenn ich fühle, daß jemand meine Freundschaft nicht erwidern will oder erwidern kann, dann lasse ich ihn schließlich fahren – aber bei dieser Magdalene geht es mir ganz sonderbar! Ich komme einfach nicht los von ihr und ich glaube, ich würde auch dann noch zu ihr gehen müssen, wenn ich wüßte, daß sie sich dagegen wehrt. Sie ist mir ans Herz gewachsen wie ein Kind, von dem man sich niemals lossagen kann. Ich ärgere mich oft darüber und bin doch auch wieder zufrieden, daß es so ist!«
Der Pastor nickte wieder, sah Magdalene im Geiste vor sich und begriff die Gefühle seiner Frau.
»Es ist gut, daß es Menschen gibt, die uns aus der großen Gleichförmigkeit unseres Gemütslebens erlösen!« sagte er. »Wir alle, auch wir, die wir vielleicht ein warmes Herz in uns tragen, machen uns das Leben zu bequem, wenn es keine besonderen Anforderungen an uns stellt. Laß also Magdalene Breuer dein Sorgenkind bleiben und verliere nicht die Geduld mit ihr, wenn sie dich enttäuschen muß.«
»Sie wird mich nie enttäuschen!« antwortete die Pastorin leise; »ihr Herz liegt klar vor mir. Aber vielleicht wird sie mir Kummer machen: vielleicht werde ich an ihr fühlen, wie es einer Mutter zumute ist, wenn sie ihr Kind auf Dornenwegen weiß.«
Magdalene ging wirklich auf Dornenwegen; sie ging fortgesetzt in dieser Zeit auf Wegen, die ihr widerstrebten, aber zu denen irgendeine Macht sie drängte.
Sie ging den großen Weg der höchsten Entsagung; sie wollte das Glück des Mannes – sie wollte die Erfüllung seines Lebens, seines Zieles mit Gewalt erreichen und fühlte sich bereit, sich selbst zum Opfer zu bringen.
Breuer hatte nichts von dem Besuche seiner Frau in jenem Haus, das wie ein Märchenbild in seinen Gedanken vor ihm lag, erfahren; aber er selbst war an zwei dunklen Tagen, an denen Schwermut und Trübsinn ihm Kopf und Herz zur Arbeit unfähig machten, noch einmal den heimlichen Weg gegangen, hatte wie ein Bettler vor dem Eisengitter des Gartens gestanden und war als ein armer Narr an seinen Schreibtisch zurückgekehrt.
Und Nächte waren gefolgt, die ihresgleichen in seinem zerquälten Leben noch nicht gehabt hatten, Kopf und Herz in jenem entsetzlichen, wütenden Kampf, der nie zu Ende gekämpft werden kann, den man nach einer wilden Nacht aus Ermattung beschließt, um ihn von neuem aufzunehmen, sobald nur ein Fünklein Kraft wieder vorhanden ist.
Und das alles um das Lachen einer Frau – um blondes, flimmerndes Haar, um einen ungewohnten Duft und um die Biegsamkeit eines zierlichen Körpers!
Darum haßte man alles andere, was doch sonst erträglich und oft sogar gut gewesen war: die Arbeit und die Frau, die seit Jahren zu einem gehörten; ja, die Frau, die ihr Selbst opferte, um ein Lebenswerk aufbauen zu helfen – die haßte man am heißesten!
Magdalene fühlte den glimmenden Haß des gepeinigten Mannes gegen ihre Person: sie war in dieser Zeit zur Hellseherin geworden, und sie wußte nun auch plötzlich, warum sie den Stimmen, die in ihr erwacht waren und sie zu seltsamen Taten drängten, folgen mußte.
Ihm den Weg bereiten, ihn vor der Schmach einer unehrlichen Handlung retten! Selbst die Frau in ihr Haus rufen, bevor es so weit mit ihm gekommen war, daß er sie sich holte – daß er heimliche Wege mit ihr ging! Ja, sie wußte es nun ganz genau, warum sie zu Frau Ralling gegangen war, und sie lächelte bei dieser Erkenntnis. Es war gut so – sie war dankbar, daß unsichtbare Mächte sie zu leiten begannen.
Dann kam der Tag, den sie mit Ungeduld erwartet und vor dem sie sich zugleich gefürchtet hatte.
Sie saßen im blauen Zimmer oben im ersten Stock. Am Kamin, über dessen Marmorsims das Bild des Kardinals hing, saßen sie zusammen. Breuer mit einem staunenden, fassungslosen Ausdruck im Gesicht wie ein Kind, das vor einem überreich gedeckten Weihnachtstisch steht – mit zitternden Händen, die kaum die Tasse, die Magdalene ihm reichte, zu halten vermochten – mit Augen, die einen unirdischen Glanz hatten und mit einer großen, bangen Unsicherheit den beiden Frauen gegenüber. Die Frau mit den blonden Haaren war in scheinbarer Ruhe gekommen; sie trug ein schwarzes Seidenkleid, bis hoch an den Hals geschlossen – trug als einzigen Schmuck eine goldene Nadel an der Brust und ein paar Ringe mit kostbaren Steinen an den schmalen weißen Fingern.
War sie dieselbe noch, die sie an jenem Abend im Hause der Lerchs gewesen war? War sie die von Leben durchsprühte biegsame, lachlustige Frau von damals noch?
Breuer wußte es nicht! Aeußerlich war sie eine andere, wie ihm schien, aber die zitternde Erregung in ihm, dieses Herausgehobensein aus der Gegenwart, das sagte ihm, daß sie dieselbe sein mußte.
Magdalene saß in ihrem dunklen Wollkleid, die Haare schlicht aus der Stirn gestrichen, zwischen den beiden. Auch in ihr war Staunen.
Mein Gott, sie hatte es in ihrem ganzen Leben noch nicht fertig gebracht, durch ein Kleid, durch Haltung oder verändertes Sprechen einen vollkommen neuen Menschen aus sich zu machen: sie blieb immer die, die sie war – gleichviel ob sie allein – ob sie mit dem Mann, den sie liebte, zusammen war, oder ob sie sich unter einer ganzen Reihe von Menschen befand.
Immer dieselbe! Immer dieselbe!
Sie sagte das leise, im Ton eines Vorwurfs zu sich selbst und lauschte dabei auf Frau Rallings Plaudern, sah das erregte, von einem tiefen Glanz durchleuchte Gesicht ihres Mannes, sah, wie er die Worte von ihren Lippen trank und fühlte, daß sie hier die Dritte war – nicht nur für den Mann, der das kaum zu verbergen suchte, sondern auch für die Frau. Was war das für ein Spiel zwischen diesen beiden! Was für ein Tasten – ein ängstliches Sichausweichen!
Wie diese Augen miteinander sprachen! Sie wollten es nicht; Magdalene sah es deutlich, wie sie sich mühten, kühl und ruhig zu sein – und gerade dies vergebliche Bemühen verriet ihr alles – alles.
Was aber war es denn, was zwei Menschen von solcher Verschiedenheit verbinden konnte? Was hatte der Mann, der ganz im Geistigen lebte, mit einer Dame aus der großen Welt zu tun?
Und nicht einmal eine Dame aus der wirklichen großen Welt – mit altererbter Vornehmheit – mit all dem selbstverständlichen Glanz, der nichts Auffallendes an sich hat, weil er zu eng zu der Person, die ihn an sich trägt, gehört!
Nein, eine von diesen war Frau Ralling nicht. Die war das Kind aus einfach bürgerlichen Kreisen geblieben, hatte sich in die verbesserten äußeren Umstände hineingefunden und verstand es, körperliche und geistige Vorzüge ins rechts Licht zu setzen.
»Eine Frau, die viel gute Eigenschaften hat!« mußte sich Magdalene sagen – »eine von jenen, die, solange ihr Temperament nicht entfesselt wird, zu den Braven, Soliden, Ehrlichen gehört!«
Hatte sie das nicht von sich selbst gesagt, bevor sie Magdalenens Bitte, in ihr Haus zu kommen, willfahrte?
Also durchaus ehrlich und anständig!
Und doch – und doch! Wie war das möglich, daß dieses Spiel einer heißen, verhaltenen Leidenschaft vor ihr gespielt wurde! Wie war das vor allem von Seiten des Mannes möglich, da sie doch das Leben mit ihm teilte, da sie lebten von der Güte ihres Vaters, da alles, was zu tragen war, fast einzig auf ihren Schultern ruhte!
Und dann war plötzlich ein grenzenloses Mitleid in ihrer Seele – hatte im Augenblick allen kleinlichen Schmerz ausgelöscht und machte sie still und ergeben.
Wieder war da eine Stimme in ihr wach geworden, die sie zu einer Tat veranlaßte.
»Geh von ihnen! Laß sie allein! Sei groß, sei barmherzig um des Mannes willen, der sich in Qualen windet! Was geschehen muß, wird doch geschehen, und besser und ehrlicher ist es, wenn du ihnen die Wege ebnest!«
Sehr leise stand sie aus ihrem Sessel auf; der Mann sah einen Augenblick aus seiner Versunkenheit auf – kam aber nicht zum vollen Erfassen; die blonde Frau Ralling öffnete die Lippen zu einer Frage und schwieg dann doch.
Das Gesicht des roten Kardinals blickte auf die beiden nieder: sie senken die Blicke – das Lachen und Reden verstummte.
Mein Gott – warum war Magdalene gegangen?
Irgend eine Unruhe drängte sie aus dem Haus heraus; es war die Zeit der früh einbrechenden Dämmerung. Ganz in der Ferne über dem dunklen Wald noch, ein gelber, leuchtender Streifen am Himmel – ein blasses Stücklein Mond von allerlei bizarrem Wolkengebilde umgeben – kaltfeuchte Luft, die erschauern machte, wenn man aus der Wärme eines Zimmers kam und überall schon der vom Boden aufsteigende graue, eisige Nachtnebel.
Magdalene zauderte, als sie an der Tür ihres Gartens stand. Sie sah zu den erleuchteten Fenstern des blauen Zimmers auf.
War das Schmerz, was ihr wie ein Stich durch die Brust ging? War es ein Schmerz, der so groß war, daß er sie zur Verzweiflung führen konnte?
Nein, nein! Sie schüttelte den Kopf. Es war nichts Unerträgliches – war nichts, was ihr den letzten Halt rauben mußte. Es war ein Spiel, ein etwas grausames Spiel, zu dem sie selbst die Hand gereicht hatte. Ein Spiel, das zu Ende kommen würde, gerade deshalb, weil man ihm Nichts in den Weg legte, weil man dazu verholfen und ihm den Reiz und die Beschämung des Heimlichen genommen hatte.
Magdalene öffnete die Tür – ging schnell das Stücklein Straße entlang, daß sie an den Nachbarhäusern vorüberführte und war dann auf dem einsamen Weg, der nach dem See hinführte.
Wie schön war es hier draußen, wenn man erst ein paarmal tief geatmet hatte. Wie frei war man – sah die Dinge in einem ruhigen, guten Licht.
»Eine Phase seines seltsamen Lebensweges!« sagte sich Magdalene. »Eine Notwendigkeit für ihn als Mensch und für ihn als geistigen Arbeiter! Alles, was er tut, ist eine Notwendigkeit! nichts ist gewollt, nichts eine Sünde! Und gut und schön ist es trotz allem, dieses Leben, das ich mir gewählt habe – denn nur ein Leben, das schwer ist, kann gut sein, und wenn ich an Marietta denke und diesen Mann, den sie zu lieben glaubt – und wenn ich selbst an meinen Vater denke, und nicht nur an diese, die mir so nahe stehen – so muß ich mir sagen: das wäre schwerer zu tragen gewesen!« Und auch die lieben Lerchs, die so glücklich zu sein vorgeben! Gewiß, die Pastorin mag ja vielleicht froh und zufrieden sein, denn sie ist gesund und praktisch und steht mitten im Leben drin! Ihr mag nichts fehlen.
Aber wenn ich an ihn denke – und wenn ich mir vorstelle, wie ganz anders er zu sprechen pflegt, wenn er mit mir allein ist als im Kreise anderer Menschen, wie sein Gesicht dann oft müd und entsagend aussieht, nein, wenn ich daran denke, so muß ich mir sagen: Selbst diese guten lieben Lerchs sind nicht ganz restlos glücklich. Und überhaupt: was ist denn Glück und wer in der Welt hat ein Anrecht darauf, dauernd glücklich zu sein? Gibt es das überhaupt: ein dauerndes Glück? Ist »Glück« nicht ein Ausnahmezustand, etwas was in den Alltag des Lebens gar nicht hereinpaßt?
Ja. Glück ist etwas Außergewöhnliches, und wenn die beiden da oben in dem blauen Zimmer jetzt vielleicht glücklich sind, dann mögen sie es sein – mögen sie es genießen, wie etwa ein gutes Musikstück, oder ein herrliches Landschaftsbild oder wie sonst irgend etwas, was für ein paar Stunden vom Alltag erlöst und dann wieder vorüber ist!« – –
Magdalena wußte es nicht, daß sie fast laut zu sich selber sprach, während sie den einsamen Weg am See dahinging. Es war ihr eine Befreiung, daß sie es tat; jeder Gedanke, dem sie Worte verliehen hatte, war endgültig aus ihrer Seele heraus und machte sie leichter und lichter. –
»Und auch diese Frau Ralling, die vielleicht etwas vom Schmetterling an sich hat, sehnt sich nach dem, was »Glück« heißt; die ganze Welt schreit danach, als ob sie hungern müßte und dem Brote nachlaufen.
Glück ist Hunger, Herrgott ja –, Hunger der Seele. Ich kenne diesen Hunger doch und weiß, wie weh er tut! Und wenn heute etwas käme, wenn ich eine Möglichkeit sähe, diesen Hunger, wenn auch nur vorübergehend zu stillen – ob ich stark genug wäre zu entsagen? Ob ich vorüberginge?
Gott – Martin! Ja, ich habe ihn – er ist mein Kind geworden – mein ungefüges Kind! Er wollte mir »Glück« geben, er hatte gute, ehrliche Absichten mit mir – Martin – armer guter Martin – –«
Ein Schatten glitt an ihr vorüber – schmal und sehr lang; ein leises Knirschen von eiligen Schritten hörte sie dicht neben sich – sah eine Gestalt, die an ihr vorüberdrängte – dann war sie wieder allein.
Von diesem Augenblick an war sie mit ihren Gedanken bei dem einsamen Mann im Nachbarhaus – bei dem Major – bei diesem merkwürdigen Gesellen, den das Leben auch am Glück vorübergeführt hatte und der sich jetzt allerlei Schrullen hingab.
Was tat der wohl an all den langen, einsamen Tagen, die so ein Winter hier draußen brachte? Was dachte der? Wie fühlte der? Wie ertrug der das Dasein der Ausgestoßenen?
Die ganze Welt war eigentlich voll von den Glücklosen! Voll von den Suchenden, Sehnenden, von denen, die nach einem Phantom streben, das nie zur Wirklichkeit, zur Erfüllung werden kann!
Gab es denn überhaupt andere – solche, die zufrieden, die wunschlos waren? Magdalene blieb jetzt dicht am See stehen und blickte in das dunkle Wasser. »Die Stumpfen – ja! Die, die entweder nie eine Seele, eine Innenleben gehabt haben, oder die es fertig brachten, nach der ersten großen Enttäuschung alles über Bord zu werfen und ein rein äußerliches Leben zu führen! Wie oft hatte sie sich in schwachen Stunden gewünscht, zu jenen Stumpfen zu gehören, zu denen, die sich jeder guten Stunde zu freuen vermögen ohne einen Gedanken an das Gestern oder das Morgen.
Im Wasser vor ihr spiegelte sich das fahle Mondviertel und die Schatten von ein paar dunklen Bäumen zitterten schwarz auf den sanften Wellen. Sie beugte sich vor – das nächtliche Spiel gefiel ihr.
Dann schrak sie zusammen; wieder waren die Schritte neben ihr und jetzt lag eine Hand auf ihrem Arm und zog sie von der Stelle, an der sie stand, fort – und ohne, daß sie sein Gesicht gesehen hatte, wußte sie plötzlich: es ist der Major! und staunte kaum darüber, vermochte es allerdings nicht gleich, ein gleichgültiges Begrüßungswort vorzubringen, sondern ging, da er sie durch seine Bewegung dazu veranlaßte, still an seiner Seite den dunklen Weg, der zum Ort zurückführte, dahin.
Sie sah und fühlte nicht gleich die Erschütterung, die noch in dem Major Schwertes wogte; sie wußte, daß er einsame Gänge liebte und glaubte an einen Zufall.
Nach einer ganzen Weile erst begann er zu sprechen. »Man kann Güte und Duldsamkeit auch zu weit treiben!« sagte er. »Aber Güte und Duldsamkeit werden nur dann am Platze sein, wenn sie dem, dem man sie darbringt, auch wirklich von Nutzen sind. Sie können aber leicht die entgegengesetzte Wirkung haben und beide Teile, den Opfernden und den Nehmenden, ins Verderben stürzen!«
Nun wandte er Magdalene sein Gesicht zu und sie gewahrte eine große Verstörung darin, sah, daß die Augen einen seltsam durchdringenden und angsterfüllten Blick hatten.
Eine Antwort fand sie nicht, denn nun erst fühlte sie, was sie getan und daß es vielleicht wirklich etwas, was mit Verzweiflung eng zusammenhing, gewesen war, was sie diesen Weg geführt hatte.
Auch er schwieg, aber sein Arm hielt sie fest, bis die ersten Lichter aus den Häusern ihnen entgegenleuchteten.
»Ich will nichts wissen, was Sie mir nicht sagen wollen oder müssen,« hörte sie ihn sagen, »ich habe mich auch in meinem ganzen Leben keinem Menschen als Freund aufgedrängt, oder habe Freude daran gehabt, Vorsehung zu spielen. Aber hier – ich meine – wenn es nötig ist. – Es gibt ja wohl Umstände, in denen man einmal für eine Weile mit sich allein nicht zurechtkommt – also, wenn es sein muß – – ich will nichts versprechen, denn ich weiß nicht, ob und wie ich helfen kann, aber nur das eine sollen Sie wissen: nie wird ein Wort über meine Lippen kommen, nie werden Sie bereuen müssen. Ich stehe der Welt, den Menschen und den Schicksalen völlig objektiv gegenüber!«
Sie nickte stumm; er zog den Hut und ging, wartete noch, bis sie den Garten durchschritten und bis die Tür ihres Hauses sich hinter ihr geschlossen hatte.
Breuer war in seinem Zimmer; zermartert, zerquält und ungeduldig. Sie sprach nicht zu ihm, sah, daß er das Abendbrot nicht angerührt hatte und ging die Treppe hinan.
Spät in der Nacht kamen ihr die Zusammenhänge.
Der da im Nachbarhaus wohnte, der lebte ein Stücklein mit ihr; der dachte an sie und ängstigte sich!
Warum tat er das? Was wollte er? Was dachte er sich?
Der Abend bei Lerchs kam ihr wieder in lebendigen Farben vor Augen.
Mein Gott, auf welch falschen Vermutungen er sich befand!
Er hatte Frau Ralling kommen sehen – und dann – – –
Ja, eine Stunde später hatte er dann gesehen, wie sie, die Frau des Mannes, den er wahrscheinlich für einen Elenden hielt, das Haus verließ, hatte keine Ruhe finden können und war ihr gefolgt.
Magdalene mußte lächeln, obwohl eine tiefe Ergriffenheit in ihr war. »Ich muß ihm alles erklären, sobald ich ihn wiedersehe!« dachte sie, und legte sich zurecht, was sie ihm sagen würde.
Der Schlaf kam nicht in dieser Nacht. Sie sah die blonde Frau und den erregten Mann im blauen Zimmer unter dem Bild des Kardinals sitzen, sah das bange, verzweifelte Spiel, fühlte wieder den Schmerz, der ihr gekommen war, als sie ihre Ueberflüssigkeit empfunden hatte – – –
»Man kann Güte und Duldsamkeit auch zu weit treiben!« hörte sie eine Stimme sagen, »und stürzt damit beide Teile ins Verderben.«