Helene von Mühlau
Frau Doktor Breuer
Helene von Mühlau

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12.

Schwertes lag zurückgelehnt in einem Sessel, den der Pastor ihm in die Nähe des Kamins gerückt hatte. Die Herren waren, nachdem das Essen vorüber, in die gute Stube hinabgegangen, die drei Frauen saßen oben im behaglichen Wohnzimmer beim Kaffee an einem kleinen runden Tisch und plauderten. Sie saßen alle drei auf dem großen braunroten Sofa, vor dem sonst der größere Tisch stand, der jetzt in die Länge gezogen, zur Festtafel hergerichtet worden war, und auf dem noch Blumen, Früchte und Gläser standen. Die Pastorin hatte ihren Arm in Magdalenens Arm gelegt; die schöne Frau Ralling saß etwas abseits und sie fühlte, daß sie sich durch irgendetwas die Gunst der Pastorin für diesen Abend verscherzt hatte. Magdalene dagegen blickte bewundernd und liebevoll zu der kostbar gekleideten Frau hin; sie gefiel ihr, wie ihr alles was schön, harmonisch und künstlerisch wirkte, gefiel.

Sie kam auch gar nicht auf den Gedanken, daß sie selbst vielleicht sehr unscheinbar neben diesem strahlenden, frischen Weltkind aussah, sie hatte nur mit großer Dankbarkeit bemerkt, daß ihr Mann, ihr kühler, wortkarger Mann Wohlgefallen an seiner Nachbarin gefunden hatte, und daß er während der kurzen Zeit, während der sie beisammen am Tisch gesessen hatten, mehr gesprochen hatte, als er es zu Hause während einer ganzen Woche tat.

Magdalene hatte sich so unaussprechlich vor diesem Abend gefürchtet; mit einer bebenden tödlichen Angst im Herzen war sie in das Haus ihrer Gastgeber eingetreten, hatte das sichere Gefühl gehabt, daß etwas Unerhörtes sich ereignen werde, und sah dann zu ihrer grenzenlosen Erleichterung, daß ihr Mann gar nicht in solchem Grade zum Sonderling geworden war, daß er unter anderen Menschen nicht mehr bestehen konnte.

Nun, da der größte und schwierigste Teil des Abends überwunden war, fühlte sie angenehmes Behagen in sich aufsteigen – die Herzlichkeit der Pastorin tat ihr wohl, und um auch der jungen Frau, die etwas vereinsamt in ihrer Sofaecke lehnte, etwas Gutes zu tun, legte sie ihre Hände um die ringgeschmückte, gepflegte Hand der Frau Ralling und fühlte mit dankbarer Freude, daß der Druck ihrer Hand sehr herzlich erwidert wurde.

Indessen saßen die vier Herren unten ums flackernde Kaminfeuer herum. Schwertes rauchte mit sichtlichem Wohlbehagen seine Zigarre – der Pastor hatte noch immer den Ausdruck glücklichen Zufriedenseins im Gesicht, und der Rentier Ralling saß, wie das so seine Art war, bescheiden und liebenswürdig dem Gespräch folgend, aber selbst fast nie ein Wort in die Unterhaltung werfend, da.

Dr. Breuers Stuhl stand dicht neben dem Sessel, auf dem Schwertes saß. Dem Major war es lieb, daß der Pastor, sei es aus Zufall, sei es aus irgendeiner gewiß gut gemeinten Absicht heraus, den Herrn Ralling in ein Gespräch über Käfer und Schmetterlinge zog, und nach einer Weile mit ihm in sein Arbeitszimmer hinüberging, um ihm seine Sammlungen zu zeigen.

Breuer blickte einen Augenblick staunend auf, als die beiden sich entfernten, schien dann aber ebenfalls sehr zufrieden und fuhr in dem angeschlagenen Gespräch fort.

»Sie sagten, Herr Major, daß der Wille zu einer Sache nicht das Maßgebende sei, ja, daß der Wille zu einer großen Arbeit, die ganz auf geistigem Gebiete liegt, Ihrer Ansicht nach kaum etwas zu bedeuten habe: Sie sehen alles als ein Naturgesetz an, das den betreffenden Menschen, der die Arbeit auszuführen hat, einfach beherrscht, ihm vorschreibt, was er zu tun hat, und ihn zur Ausführung des Arbeitsprozesses zwingt, unter welchen Verhältnissen und äußeren Umständen es auch immer sein möge. Das ist eine Auffassung, die ich nur allzu gern teilen möchte, aber meine langjährigen Erfahrungen haben mich eines anderen belehrt. Bei der Kunst will ich es gelten lassen, daß Bestimmung und starker innerer Drang den Willen zur Arbeit beiseite schieben, ja vielleicht ganz überflüssig machen mögen – bei einer rein geistigen Arbeit aber – ich meine, bei einem durchaus wissenschaftlichen Werk, das mit Kunst nicht das geringste zu tun hat, ist das meiner Ansicht nach nicht möglich!«

»Sie dürfen mich nicht mißverstehen,« erwiderte Schwertes, »ich gehöre nicht zu denen, die an das Gottbegnadetsein in dem Sinne glauben, daß ein solch bevorzugter Mensch nun überhaupt nichts zu tun habe, als auf Stimmen, die hin und wieder sich in ihm regen, zu achten, den Begriff »Arbeit« ganz auszuschalten und auf den Augenblick zu warten, in dem alles sich ganz von selbst gestaltet. Nein, so meine ich es nicht! Ich sage nur: der Drang – das starke Gefühl des Berufenseins muß größer sein als der Wille, etwas Besonderes zu leisten. Jede überragende geistige Schöpfung, ich meine, alles was neu, originell, also aus dem eigenen Geist eines Menschen geboren, entsteht, das kann nicht gewollt sein, sondern muß doch wenigstens bis zu einem gewissen Grade gegeben sein. Der Verfasser – der Schöpfer, muß besessen sein von dem, was er aus sich heraus zu geben hat, ob er will oder nicht – er muß mit Naturnotwendigkeit die geistige Geburt vollbringen – oder er geht zugrunde an sich selbst – an der Pein, die ihm die Nichterfüllung seiner Bestimmung bringt!«

»Ja,« sagte Breuer, »so verstehe ich es schon eher. Aber dennoch – ich muß dabei bleiben: der Wille, der täglich sich erneuernde Wille ist und bleibt die Hauptsache, und ebenso sind die äußeren Umstände, in denen der Mensch, der schaffen soll und will, lebt, sehr maßgebend!«

Der Major zuckte die Achseln.

»Vielleicht kommen wir zu keinem Verständnis,« sagte er und wieder fiel ihm der schwerzudeutende Zug um Breuers Mund auf, obwohl er ihm im allgemeinen an diesem Abend freundlicher gegenüberstand, als bei ihrer Begegnung in der Waldhütte.

»Es täte mir leid, wenn wir zu keinem Verständnis kämen!« sagte Breuer in einer Art, die fast herzlich klang, denn die große Hochachtung, die er von jenem Tag ihres gemeinschaftlichen Marsches an für den Major empfunden hatte, war noch sehr wach in ihm, ja – hatte vielleicht noch zugenommen, und er wußte, daß er empfindlich darunter leiden würde, wenn das Nachbarhaus sich vor ihm verschlösse und wenn der Major wieder in die kühle Zurückhaltung verfiele, die er damals an den Tag gelegt hatte.

»Sie scheiden z. B. Kunst und Wissenschaft sehr streng voneinander!« fuhr der Major fort – während ich diese beiden Begriffe für sehr enge Verwandte halte. Ein wissenschaftliches Werk, insofern es nicht die Zusammenstellung von bereits Dagewesenem bedeutet, sondern etwas Neues gibt, ist für meine Begriffe ebenso gut Kunst wie eine aus der Phantasie entsprungene Dichtung oder ein Bildwerk, eine Komposition oder was immer es sei. Es fällt unter die Rubrik »Schöpfung«, und alles was Schöpferarbeit bedeutet, unterliegt denselben Vorbedingungen. Es muß alles in dem betreffenden Geist vorhanden sein; es muß auf irgendeine Weise herausgebracht werden; verstehen Sie wohl – ich betone das »muß«, und daher rührt meine Meinung, daß der »Wille« zu geistigen Schöpfungen etwas ganz nebensächliches bedeutet. Und ebenso die äußeren Verhältnisse. Es ist bekannt, daß viele unserer Größten unter den denkbar schwierigsten Bedingungen ihre Schöpfungen vollbracht haben. Ich sprach einmal mit unserem Pastor Lerch darüber; der wollte all das, was ich vertrete, zwar nicht voll anerkennen, machte einige Gegenüberstellungen, die sich auf unsere moderne, bequem gewordene Zeit bezogen, ließ aber im Prinzip meine Auffassungen gelten; besonders die eine, die ja sehr alt ist, und doch immer wieder von Neuem durchlebt werden muß, nämlich, daß der wahrhaft Berufene sich durchsetzt. Der andere, der seine Versuche wiederholt scheitern sieht und schließlich überhaupt keinen Drang, sondern nur noch den Willen, oder sagen wir besser, den Eigensinn hat, etwas Ueberragendes hervorzubringen, der kann vielleicht alt und grau dabei werden, wird aber doch eines Tages zur Einsicht kommen, und sich auf andere Weise mit dem Leben abfinden müssen.«

Breuer sah den Major jetzt mit einem Blick, in dem etwas wie Mißtrauen lag, an.

Warum sagte der ihm all dieses, was so eng mit seiner Person und seiner Tätigkeit zusammenhing? Und wie waren sie überhaupt auf dieses Gespräch gekommen?

Aber dann besann er sich, daß er selbst es gewesen war, der vom Wesen der geistigen Arbeit, ihrem Ursprung und ihren Zielen gesprochen hatte, daß also Schwertes völlig absichtslos auf dieses Thema eingegangen war und seine Ansichten dargelegt hatte. –

»Ich halte es für ein Unglück unserer Zeit,« fügte Schwertes noch hinzu, »daß jeder – auch der kleinsten Begabung heute zu viel Beachtung geschenkt wird, daß es immer mehr Menschen gibt, die keinen bürgerlichen Beruf ergreifen, nur weil sie glauben, Größeres leisten zu können. Aber gerade das ist falsch; meiner Ansicht nach kann ein Mensch erst dann zur Erkenntnis seiner wirklichen Berufung gelangen, wenn er erkennt, daß das Leben ihn auf falsche Bahnen gedrängt hat, wenn er erfahren hat, daß er ins einfach bürgerliche Dasein wirklich nicht hineingehört. Er hat sich dann selbst einen Beweis erbracht, während jener, der von vornherein sich selbst alle Wege zu dem einen Ziel, das er vor Augen hat ebnet, leicht zu Selbstüberschätzung kommt, auch einseitig wird – und – falls die Enttäuschung für ihn kommt, mit vieler Wahrscheinlichkeit daran zugrunde gehen muß!«

»Aber,« unterbrach er sich dann plötzlich, und hatte einen andern Ausdruck als vordem im Gesicht – »lassen wir dies Thema fallen, Herr Doktor. Ich weiß überhaupt nicht, wie wir darauf gekommen sind; wir könnten zu leicht ins Persönliche geraten, denn, wie ich von unsern Gastgebern schon vor längerer Zeit hörte, und wie es überhaupt in unserm Ort bereits bekannt ist, arbeiten ja auch Sie an einem Werk, das Ihre ganze Zeit und Ihre ganze Person in Anspruch nimmt!«

Breuers Gesicht verfinsterte sich um einen Schein.

»Ich mache zwar niemanden gegenüber ein Geheimnis aus meiner Tätigkeit, aber es lag im Grunde nicht in meiner Absicht, dieses zur allgemeinen Kenntnis zu bringen!«

Der Major lachte. »Dafür leben Sie hier auf dem Dorfe, Herr Doktor. Es wird Ihnen in diesem gesegneten Winkel nicht so leicht gelingen, etwas zu tun, wovon Ihre Umgebung nicht sehr schnell unterrichtet ist. Aber das kann Ihnen ja völlig gleichgültig sein; im Gegenteil, Sie sind – ohne daß Sie es wissen – zu einer gewaltigen Respektsperson für sämtliche gesellschaftsfähigen Einwohner dieses Ortes geworden. Man bewundert Sie, ohne doch eine Ahnung von der Art ihrer Arbeit zu haben.« In diesem Augenblick trat der Pastor mit dem Rentier ins Zimmer zurück und von der Treppe her hörte man die Stimme der Pastorin und das klingende Lachen der schönen Frau Ralling.

»Da sind wir!« sagte Frau Lerch, »aber die Herren können ruhig ihre Zigarre zu Ende rauchen und können auch Ihren Platz am Kamin beibehalten. Wir wollen durchaus nicht stören!« Aber die Herren hatten sich schon erhoben und Schwertes schob Magdalene seinen Sessel hin und setzte sich neben sie auf den Stuhl, auf dem zuvor der Doktor gesessen hatte.

Breuer hatte ein seltsames Zucken im Herzen verspürt, als er das Lachen der Frau Ralling gehört hatte. Nun sah er ihr wieder staunend und hilflos ins strahlende Gesicht und fühlte, daß sein Puls schnell ging und daß es ihm Mühe kostete, auf eine Frage der Pastorin in ruhigem Tone zu antworten.

Auch Frau Ralling fühlte irgendeine Unruhe – irgendetwas Prickelndes, sehr Reizvolles, was sie, seitdem sie die große Stadt verlassen und unter diesen einfachen, nüchternen Menschen hier draußen lebte, noch nicht wieder verspürt hatte. Ihre Augen leuchteten in einem tieferen Glanze als gewöhnlich, um ihren vollen, hübschen Mund schwebte ein Lächeln, wie schöne Frauen es meist für solche haben, denen sie nicht gleichgültig bleiben möchten.

Die Pastorin sprach mit dem Mädchen, denn es war noch eine Bowle in Bereitschaft, und selbstgefertigtes kleines Backwerk: beides sollte auf einen Tisch, den man in die Nähe des Kamins rücken wollte, gestellt werden.

Magdalene saß behaglich im Sessel zurückgelehnt; ihre Seele war jetzt völlig in Ruhe und Harmonie, ja, sie fühlte sich glücklicher als seit undenklich langer Zeit.

Konnte nicht doch noch alles gut werden? Konnte es nicht sein, daß ihr Mann trotz seiner geistigen Ueberlegenheit irgendeinen Standpunkt fand, von dem aus es ihm möglich war, die Umwelt in freundlichem Lichte zu sehen?

Dem Major Schwertes erschien Magdalene in ihrem hellen, losen, sehr einfachen Kleid wie ein Bild aus irgendeiner schönen vergangenen Zeit – aus einer Zeit, in der die Frauen noch sehr unbewußt ihrer selbst waren, und die Anmut, die die Natur ihnen verliehen hatte, nicht durch allerlei Kunstmittel zu erhöhen suchten!

Welch ein Gegensatz zwischen diesen beiden jungen Frauen, die sich hier in diesem traulichen Zimmer gegenüber saßen! Die eine ganz der neuen Zeit angehörend, aufs äußerste bemüht, ihre Reize ins rechte Licht zu bringen, und die andere vollständig unbekümmert um den Eindruck, den sie auf ihre Umgebung ausübte.

Und wieder stieg dem Major die Vision jenes längst vergangenen Abends auf, da sie so bitterlich und trostlos geweint hatte, und sein Blick ging von ihr zum Doktor, um noch einmal jenen unklaren Zug in dessen Gesicht festzustellen, der ihm nun schon zweimal zu denken gegeben hatte. Aber ein großes Staunen überfiel ihn, denn er sah den Doktor dicht neben dem Sessel, auf dem die schöne Frau Ralling saß, stehend, den Kopf ein wenig zu ihr herabgeneigt, ein seltsames Lächeln um den Mund und ein flimmerndes Leuchten in den Augen.

Jetzt lachte er über eine lustige Bemerkung, die sie gemacht hatte – lachte genau so, wie andere lebensfrohe, heitere Manschen zu lachen pflegen, wenn man ihnen etwas Scherzhaftes erzählt, und nun sah auch Magdalene auf, und ein maßloses Staunen lag in ihrem Gesicht, als sie ihren Mann anblickte.

So konnte er lachen? Auf diese Weise konnte er sich mit Frauen unterhalten? Genau wie ein Gesellschaftsmensch – so wie es die Herren getan hatten, die sie früher als junges Mädchen in Gesellschaften getroffen hatte!

Ein kleines schmerzhaftes Zucken war durch ihr Herz gegangen, war aber im selben Augenblick auch wieder verflogen, um einer großen Freude Platz zu machen.

Mein Gott, wenn es so bleiben wollte! Wenn die Pastorin recht behielte, die ihr noch vorhin oben auf dem braunroten Sofa gesagt hatte, daß sie es ganz sicher wisse, daß der Doktor im tiefsten Grunde gar kein Menschenfeind oder -verächter sei, daß man ihn nur mit Gewalt aus seiner einsiedlerischen Welt herausreißen müsse – dann werde es schon gut und vernünftig mit ihm werden! Ein Gefühl tiefer, inniger Dankbarkeit gegen die Pastorin wachte in ihr auf, und als diese jetzt an ihre Seite trat und ihr mit ihrer weichen, warmen Hand zärtlich über die Wange strich, nahm Magdalene diese Hand, führte sie an ihre Lippen und hauchte einen Kuß darauf. Der Major sah diese Liebkosung und erriet die Gefühle der jungen Frau. Die war glücklich, war vielleicht für alle Zeiten beruhigt über den Mann, den sie so sonderbar verändert fand.

Ja, der Major sah all das und empfand es mit ihr, aber darüber hinaus sah er noch etwas anderes, was in Magdalenens reine Seele nicht hineingewollt hatte und was auch er lieber nicht wahrgenommen hätte, denn es erschien ihm nicht schön und beruhigend, und sein Mißtrauen, das ihn bei der ersten Begegnung mit dem Doktor beherrscht hatte und das an diesem Abend weniger stark gewesen war, gewann nun wieder an Kraft, und noch einmal ließ er seine Blicke über die kokettierende Frau und den offensichtlich sehr erregten Doktor schweifen.

Auch die Pastorin sah auf das Paar, und im geheimen faßte sie den Entschluß, diese Frau Ralling nicht mehr in ihr Haus einzuladen, und sie würde auch ihren Mann gleich darauf aufmerksam machen, damit er gar nicht abzustreiten versuchte, was doch jedes Kind sehen konnte: nämlich, daß diese Frau eine ganz gefährliche Kokette war. Schade um den netten, bescheidenen Mann, den sie hatte und der nun mit ihr leiden mußte, denn natürlich konnte man ihn ohne seine Frau nicht einladen!

Durch Magdalenens Kopf stürmten Fragen – seltsame, traurige Fragen. Hat er je so mit mir gesprochen?, so mit mir gelacht? Hat er je gesucht, irgendeinen Reiz auszuüben?, überhaupt je sich die geringste Mühe gegeben, mir zu gefallen, mein Interesse zu erregen?

Und sie mußte sich all diese Fragen mit einem »Nein« beantworten. Nein – nie war er liebenswürdig, unterhaltsam, nicht einmal eigentlich höflich zu ihr gewesen. Gleich von allem Beginn an herrisch, verlangend, von dem starren Wunsch, sie zu besitzen, beseelt.

Er hatte ihr damals wohl gesagt, daß er sie liebe und daß sie notwendig für sein Leben und für seine Arbeit sei, aber diese Art, die sie heute zum erstenmal an ihm gewahrte und die ihr gefiel, die hatte er ihr gegenüber nie gezeigt.

War das Eifersucht, was sie jetzt empfand? Gönnte sie dieser hübschen, lebenslustigen Frau nicht, daß der wortkarge Mann durch sie heiter und gesprächig wurde?

Nein, o nein! Sie freute sich – ja, sie war glücklich, war dankbar, und wenn es nur eben einzurichten war, dann wollte sie alles tun, um diese Frau oft mit ihrem Mann zusammenzubringen, damit er das Sprechen und Lachen und Frohsinn endlich erlernte.

Und doch kam Wieder und wieder das leise, böse Schmerzgefühl. Jedesmal, wenn sie das Lachen des Mannes hörte, wenn sie den erregten, belebten Zug in seinem Gesichte sah, stieg es heiß in ihr auf.

Sie selbst also hatte das nicht über ihn vermocht! Sie selbst hatte es nicht fertig gebracht, ihn auch nur einmal während der langen Zeit ihrer Ehe in eine solche Stimmung zu versetzen! Hatte also, wenn sie offen gegen sich selbst sein wollte, lähmend, ermattend auf ihn gewirkt!

Ihr Gesicht war plötzlich von Schwermut ganz überschattet; die leichte, freie Haltung, die ihr an diesem Abend ein so besonders jugendliches Aussehen gegeben hatte, war plötzlich fort. Sie sank in sich zusammen, neigte den Kopf ein wenig nach vorn, und der Major dachte:

»Wenn sie jetzt allein wäre, würde sie vielleicht wieder weinen!« und schloß daraus, daß sie diesen Mann lieben mußte, daß sie ihn sehr tief und innig lieben mußte. Denn sonst würde sie das kleine Schauspiel, das die beiden vor ihr da boten, entweder gleichgültig oder vielleicht sogar freudig auffassen, statt dieses unverhüllte Leid zur Schau zu tragen.

Der Major strich sich mit seinem Hand über Wange und Kinn, nahm zerstreut das Glas, das die Pastorin ihm bot, und kam aus seinen tiefen Gedanken trotz aller Anstrengung nicht mehr heraus.

»Nun, lieber Herr Doktor,« sagte plötzlich Frau Pastor Lerch und zwang den Doktor, der ein wenig erschrocken aus seiner Unterhaltung mit der schönen, jungen Frau auffuhr, zu ihr aufzusehen, »nun, lieber Herr Doktor, sollten Sie sich hier auf diesen Stuhl setzen und meinem armen Manne, der sich sehr auf diesen Abend gefreut hat und der bis jetzt nur wenig von Ihnen gehabt hat, ein paar Minuten schenken. Dabei müssen Sie natürlich unsere Bowle nicht vergessen – so, ich rücke Ihren Stuhl näher an den Kamin heran!« – und ohne daß Breuer Lust und Neigung dazu gehabt hatte, saß er zwischen dem Pastorenehepaar, und die Frau, die ihn gereizt und erregt hatte, war seinen Blicken entzogen.

Magdalenens Gesicht war noch um einen Schein bleicher geworden; sie sah, daß die Züge ihres Mannes wieder den gewohnten kühlen, überlegenen Ausdruck annahmen, fühlte, daß etwas in ihm sich gegen diese Vergewaltigung aufbäumte, und die alte, verzehrende Angst kam in ihre Seele zurück.

An Schwertes, der dicht neben ihr saß, dachte sie in diesen Augenblicken nicht; sie dachte auch nicht an die beiden herzensguten Gastgeber und an das andere Paar, das hier in diesem Zimmer war. Jeder Gedanke, jedes ihres bangen, trostlosen Gefühle, das sie peinigte, war bei dem Mann, zu dem sie gehörte, mit dem sie unlöslich verbunden war, für immer – für ihr ganzes, ganzes Leben.

Oh, hätte sie das, was soeben gewesen, nicht zu sehen brauchen, daß unter dieser undurchdringlichen Maske, die er ihr und der Welt gegenüber trug, noch ein anderes Gesicht steckte, das er nur dann zeigte, wenn ein Mensch es vorstand, ihm bis ins tiefste Innere hineinzugreifen!

Nun würde das immer, immer vor ihr stehen, und die Trauer, daß es ihr versagt geblieben war, diese Seite seines Wesens zu erfassen, würde niemals von ihr weichen.

Immer leidvoller ward das feine, schmale Gesicht – müde und todestraurig die Augen, und um den Mund lief ein Zucken.

»Wie sie ihn lieben muß!« dachte der Major wieder, aber dann gab er sich einen Ruck, erhob sein Glas und stieß mit der Pastorin an.

»Ein herzlicher Dank für diesen schönen Abend soll das sein!« Und auch mit Magdalene stieß er an und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken, und hatte, nachdem das geschehen war, das gute Gefühl, daß wieder Ruhe in ihre aufgewühlte Seele gekommen war und daß irgendetwas in seinem Blick ihr wohlgetan hatte.

Es war nicht möglich, Breuer in ein allgemeines Gespräch zu ziehen. Es lag in seiner Art, die Dinge, so aufzufassen, daß man eine einmal begonnene Unterhaltung mit ihm nicht ohne weiteres wieder aufgeben konnte, sondern in Tiefen und Widersprüche hineingezogen wurde, und so kam es denn auch jetzt, daß er den Pastor Lerch allein für sich in Anspruch nahm, und da die Pastorin aus Liebenswürdigkeit sich dem etwas vereinsamten Ralling zuwandte, blieb für den Major nichts anderes übrig, als seine stille, in Nachdenken versunkene Nachbarin zur Gegenwart zurückzurufen, und er tat das auf so zarte, gute Weise, daß sie ihm ohne Mühe zu folgen vermochte, und daß es ihr schließlich war, als mache sie an seiner Hand einen Weg durch unendlich liebliche, sanfte Landschaften, als sähe sie nichts anderes als Blumen, grünende Bäume, murmelnde Wasser und lichte Sonne rings um sich her.

Ein paarmal schlug sie staunend die Augen zu Schwertes auf.

War das denn der, von dem sie so viel Unliebenswürdiges gehört hatte? Von dem man ihr gesagt hatte, daß er, ähnlich wie ihr Mann, ein Einsiedler und Menschenfeind sei und nur gezwungen einen oberflächlichen Umgang mit den Leuten, die ihm keine Ruhe ließen, pflegte.

Diese Augen aber hatten doch einen Ausdruck so tiefer, wahrhafter Güte, und dieser Mund sprach so liebe, zarte, gute Dinge, daß man wirklich nicht denken konnte, daß das der Ausfluß einer verbitterten Seele sei.

»Nein,« antwortete ihm Magdalene auf die Frage, ob sie denn überhaupt wisse, wie schön dies Stücklein Erde sei, das sie sich zur Heimat auserkoren habe. »Nein, ich weiß es nicht. Ich kenne nur den See und die Promenaden und ein Stücklein von dem dunklen Wald, der von unserem Hause aus in Mondscheinnächten wie ein schwarzes, wuchtiges Gebirge aussieht. Weiter kenne ich nichts, und mein Mann kennt auch kaum mehr – es sei denn, daß er jetzt auf seinen herbstlichen Wanderungen weiter gekommen sei. Er hat mir nicht davon erzählt, und er geht ja auch nicht wie andere Menschen durch die Natur, sondern seine Gedanken sind immer bei seiner Arbeit, und wenn er nach Hause kommt, weiß er nichts mehr von dem, was er gesehen hat!«

Breuer hatte inzwischen seinen Stuhl so gerückt, daß er wieder in das Gesicht Frau Rallings blicken konnte. Er hatte das aus einem Impuls heraus getan, völlig arglos, nicht im geringsten von dem Gefühl beschwert, daß sein offenkundig gezeigtes Gefallen, das er an der schönen, jungen Frau nahm, von den andern, die hier anwesend waren, in irgendeiner Art mißbilligend gedeutet werden könnte.

Und war es ein Unrecht, das er beging? War es etwas Unerlaubtes, ein Kunstwerk, sei es nun aus Fleisch und Blut und voller Leben, oder sei es aus totem Stein oder auf einer Leinwand in Farben dargestellt, zu bewundern?

Nein. Breuer hatte auch nicht das leiseste Gefühl, irgendein Unrecht oder auch nur eine Taktlosigkeit zu begehen. Es war einfach seine Art so – er konnte nicht heucheln; er hatte sich durch seine vereinsamte Lebensführung zu weit von der Komödie, die die Menschen einander vorzuspielen gezwungen sind, entfernt, um etwas zu verbergen, wenn es ihn heftig bewegte oder erregte.

Wenn hier schon auf einer Seite eine Schuld lag, dann lag sie auf der Seite der Frau, der es gefiel, daß eine starke Wirkung von ihr ausging, und die nun zwar, durch der Pastorin verändertes Wesen vorsichtig geworden, das leise Spiel mit dem weltfremden Mann fortsetzte.

Sie alle sahen und fühlten es. In Magdalenens Gesicht zitterte der Schmerz; der Pastorin Mienen waren gespannt; sie hatte etwas vom gereizten Tiere an sich, das zupacken möchte, und selbst der gute Lerch fühlte Unmut in seine Seele ziehen.

Der Ehemann Ralling aber war sichtlich erfreut darüber, daß es seiner Frau gelang, einen so steifen, unliebenswürdigen Herrn, wie dieser Doktor es doch sein sollte, so schnell für sich zu gewinnen, und je verführerischer das Lächeln seiner Frau ward, um so mehr fühlte er seinen Stolz steigen. Diese Frau war ein Juwel; sie ebnete ihm die Wege zu jeder Gesellschaftssphäre, und er nahm sich vor, sein Haus allen Geselligkeiten viel weiter zu öffnen, als er es bisher getan hatte – fühlte auch den Mut, sowohl den Major Schwertes, wie dieses Ehepaar Breuer bei Gelegenheit zu bitten, ihnen die große Freude ihres Besuches zu machen.

Als die Uhr Mitternacht schlug, stand Schwertes auf, und Magdalene erhob sich mit ihm.

»Martin,« sagte sie leise und weckte ihn damit, rief ihn zurück aus einer Welt, die ihm neu und unsäglich reizvoll war, sah, wie das durchleuchtete Gesicht im Augenblick kalt und schlaff wurde, und mußte alle Kraft zusammenraffen, um jetzt nicht Schiffbruch zu leiden, um nicht all denen, deren Blicke in Teilnahme auf sie gerichtet waren, zu zeigen, daß sie traurig, ganz unaussprechlich traurig war.

Für die Pastorin war das Fest, das so schön begonnen hatte, zerstört. Sie sehnte sich jetzt nach dem Augenblick, in dem sie mit ihrem Mann allein war, um ihr übervolles Herz zu erleichtern. Der Pastor hatte zwar einiges gesehen, was ihm nicht recht gefallen wollte, war aber doch weit davon entfernt, auf den Gedanken zu kommen, daß es eine Tragödie gewesen sei, die sich da in seinem Hause abgespielt hatte, und er schüttelte auch immer wieder den Kopf, als die erregte Frau ihm das klarzumachen suchte.

»Für die arme, kleine Magdalene war es eine Tragödie! Hast du nicht den entsetzten Ausdruck in ihren Augen gesehen? Hast du nicht bemerkt, wie bleich und wortkarg sie geworden ist, während sie doch vorher heiter und lebhaft war?«

Aber der Pastor begriff es trotz allem nicht in dem Umfang, wie seine Frau es wünschte. Sie ordnete mit nicht ganz sicheren Händen, was an diesem Abend noch zu ordnen war und hatte nur einen etwas kühlen Nachtgruß für den Mann, der nicht zu sehen und wahrzunehmen vermochte, was doch jedem Kinde ausgefallen wäre.

Schwertes hatte sich sehr eilig verabschiedet: es lag ihm daran, allein aus dem Hause zu kommen. Magdalenens Hand hatte zum Abschied wie ein zitterndes Vöglein in der seinen gelegen. Ihre Augen hatten ihn mit dem hilflosen Blick eines Menschen, der sich bis in die Tiefe seiner Seele erkannt weiß, angeblickt, und dieser Blick verfolgte den Major, als er gleich hinter dem Pastorenhaus nach links abbog und die kühle, helle Nacht zu einem weiten Marsch durch angrenzende Felder und einsame Dorfstraßen benutzte.

Das Ehepaar Ralling ging noch ein Stücklein mit den Breuers. Frau Ralling lud Magdalene herzlich ein, sie zu besuchen; dann trennten sie sich, und schweigend schritt der Doktor neben seiner Frau dem Hause zu, schloß die Tür auf, ließ sie die Treppe hinangehen und trat in sein Arbeitszimmer ein.


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