Koloman Mikszáth
Der wundertätige Regenschirm
Koloman Mikszáth

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Der neue Pfarrer in Glogowa.

Der junge, ehrwürdige Herr hielt seinen Einzug. Auf einem einzigen, unbeschlagenen Bauernwagen brachten die Glogowaer ihren Pfarrer in die neue Heimat. Das Gespann bestand aus zwei kleinen krummhörnigen Kühen. Der Kirchendiener, Peter Szlávik, melkte sie unterwegs und bot dem jungen Geistlichen von der Milch an.

»Ausgezeichnete Milch,« sagte er, »besonders die Milch der ›Bimbo.‹Bedeutet ungarisch Knospe. Die schmeckt so vorzüglich, als ob es Apfelwein wäre.«

Das Gepäck des neuen Pfarrers war sehr bescheiden, eine ungestrichene Truhe, ein Bündel Bettzeug, ferner zwei zusammengebundene Stöcke und Pfeifenrohre, das war das ganze.

Unterwegs in den Dörfern neckte man überall die Glogowaer: »Hättet ihr kein besseres Gespann eurem Pfarrer schicken können?«

Und da hilft kein Leugnen, die Sache verdroß die Glogowaer, aber sie halfen sich auf Kosten des jungen Pfarrers, indem sie antworteten: »Ach was! Es ist auch so gut genug. Dieses Gepäck wäre ja auch einem Kalb nicht zu schwer.«

Wenn der geistliche Herr Johannes Belyi keine überflüssigen Güter nach Glogowa gebracht, fand er auch dort nichts anderes als die baufällige Pfarre. Die Verwandten des frühern Pfarrers hatten alles mitgenommen, mit Ausnahme eines Hundes, des Lieblings des verstorbenen Pfarrers. Er war, was sein Äußeres betrifft, ein Hund wie jeder andere, aber zufolge seines unglückseligen Naturells fing er an, eine gewissermaßen unpopuläre Stellung einzunehmen; er besuchte nämlich zur Mittagszeit aus Gefräßigkeit alle Häuser der Reihe nach und steckte seinen Kopf in jede Küche. Diese Gewohnheit war ihm von seinem gottseligen Herrn geblieben, der sich täglich bei einem andern Bauern zu Mittag laden ließ und seinen Hund stets mit sich nahm.

Der Hund, er hieß VistulaUngarischer Name für Weichsel. (es war wirklich schade, soweit zu gehen wegen eines Flußnamens, wo doch den Dorfhotter die blinkende Bjela BodaHeißt slowakisch Weiß Wasser. durchfließt), machte nun die bittere Erfahrung, daß sie zu zweit mit dem Herrn Pfarrer einen viel größeren Wert repräsentierten, während er früher mit seiner Hundephilosophie gedacht, der Herr Pfarrer esse ihm die besten Bissen weg. Ja freilich, aber er besaß dafür auch das Ansehn und den Einfluß. Jetzt ward Vistula gar oft aus der Küche gejagt, ehe er sich noch etwas hätte beiseite schaffen können, und manchmal bekam er sogar den Stock zu fühlen.

Mit einem Worte, er befand sich in einem sehr zerlumpten, elenden Zustand, als der neue Pfarrer ankam, und der Meßner demselben sein neues Heim zeigte, die vier kahlen Wände, den mit Unkraut überwucherten Garten, und die leeren Ställe.

Der arme junge Geistliche frug lächelnd: »Und dies alles gehört mir?«

»Alles, alles, was Sie hier sehen, sogar der Hund,« sagte Peter Szlávik mit einer gewissen Gemütlichkeit.

»Was ist das für ein Hund?«

»Das ist der Nachlaß des gottseligen Herrn Pfarrers. Der ist nach ihm hier zurückgeblieben. Wir wollten das arme, lästige Tier schon totschlagen, aber niemand traut sich an ihn heran, denn wer weiß, ob der alte ehrwürdige Herr nicht vom Himmel herabschaut und dann sein Geist des Hundes wegen noch seinen Spuk hier treiben möchte.«

Der Hund sah den neuen Pfarrer zahm und traurig, mit beinahe flehenden Augen an. Wahrscheinlich hatte ihn der Anblick des Priesterrockes in diese melancholische Stimmung versetzt.

»Ich will ihn behalten,« sagte der junge Geistliche, und sich herunterbeugend, streichelte er den Rücken des abgemagerten Tieres. »Wenigstens habe ich ein lebendes Wesen in meiner Nähe.«

»Das wird ganz gut sein,« bemerkte humoristisch der Küster (denn der Bauer findet ein großes Vergnügen darin, sich mit einem Geistlichen zu necken). »Der Mensch muß doch irgendwo beginnen. Sie könnten sich auch erst das zu Bewachende und dann den Wächter anschaffen. Aber umgekehrt ist auch gefahren, ehrwürdiger Herr.«

Der Pfarrer lächelte, und er verstand so sympathisch zu lächeln wie ein Mädchen. Er sah selber ein, daß des alten Vistula kein großer Wirkungskreis harrte, und daß er nun ein förmlicher Privatier in der Hundegesellschaft sein würde.

Inzwischen sammelten sich immer mehr und mehr Leute im Hofe, junge Weiber, die den neuen Geistlichen von weitem anschauten und sagten: »Mein Gott, wie jung er ist und schon Pfarrer.«

Die Männer gingen ganz nah an ihn heran und reichten ihm die Hand: »Gott zum Gruße! Hier werden Sie es gut haben.«

Ein altes Mütterchen rief dazwischen: »Zeitlebens können Sie bei uns bleiben!«

Eine von den älteren Weibern bemerkte: »Es ist ein hübscher Mann. Das war eine brave Mutter, die ihn geboren hat.«

Mit einem Worte, der neue Seelsorger erregte allgemeines Gefallen. Er plauderte ein Weilchen freundlich mit den älteren Leuten, dann sagte er, er sei müde, und ging zum Schulmeister, denn dort war er einquartiert, bis die Pfarrgebäude in bewohnbaren Zustand gebracht und die ersten Einkünfte eingegangen sein würden.

Zum Lehrer begleiteten ihn nur mehr die einflußreichsten Dorfinsassen, die Vorstände der Gemeinde, Peter Szlávik, Michael Gongoly, der Nabob von Glogowa und Georg Klimcsok, der Müller.

Bei denen erkundigte er sich dann eingehender nach den eitlen irdischen Verhältnissen und machte sich Aufzeichnungen, um seine Berechnungen aufstellen zu können.

»Wie viel Seelen zählt das Dorf?«

»Beinahe fünfhundert.«

»Was bezahlen die dem Pfarrer?«

Die wackern Leute zählten getreulich her: Wie viel der Zehnt' beträgt, wie viel Holz, wie viel Scheffel Korn, wie viel »Zlevka«Zlevka heißt der Wein, der dem Seelsorger von den Weingartenbesitzern gebührt und der in ein gemeinsames Gefäß geschüttet, ein eigentümliches Getränk ergiebt. dem Pfarrer gebührt.

Der junge Pfarrer ward immer trauriger und trauriger.

»Das ist freilich wenig,« sagte er niedergeschlagen.

»Wie viel beträgt die Stola?«

»Nun, die ist groß genug,« erwiderte der in allem bewanderte Georg Klimcsok, »bei einem Begräbnis hängt sie davon ab, wer der Verstorbene war, die Trauungsgebühr richtet sich nach dem Brautpaare (denn bei dieser Gelegenheit ist doch jedermann ein Kavalier), aber der Taufschein trägt dem Herrn Pfarrer einen Gulden ein ... Das zählt schon etwas.«

»Und wieviel Trauungen giebt es hier jährlich?«

»Na, das hängt von der Quantität der Erdäpfel ab. Viel Erdäpfel, viel Hochzeiten. Die Ernte entscheidet. Aber vier bis fünf giebt's immer.«

»Nun, das ist wenig. Und wie viel Todesfälle giebt es?«

»Na, das hängt von der Qualität der Erdäpfelernte ab. Schlechte Erdäpfel, viele Todesfälle, bei guten Erdäpfeln giebt's keine Sterblichkeit. Ich will nicht sagen, daß nicht ein – zwei Leute im Wald von einem abgesägten Baume zu Tode getroffen werden. Oder es geschieht ein Unglück, ein Leiterwagen stürzt in einen Graben und erschlägt den Bauer. In guten Jahren pflegt die Zahl der Todesfälle auch auf acht zu steigen.«

»Aber das gehört nicht alles dem Pfarrer!« sagte der Nabob von Glogowa, wobei er seinen rückwärts mit einem Kamm zusammengehaltenen Zopf stolz richtete.

»Wieso?« frug der Pfarrer betroffen.

»Ein Teil der Toten kommt nie in den Friedhof. Sie werden im Winter von den Wölfen gefressen, ohne vorher auf der Pfarre angemeldet worden zu sein. Der andere Teil wieder unternimmt die Reise ins Jenseits von der Fremde aus,« setzte Georg Klimcsok hinzu, »und nur ein Geschreibsel über dieselben kommt an den Richter.«

»Das sind freilich schlechte Aussichten, aber die Felder der Pfarre? Wie viel Feld besitzt die Pfarre?«

Jetzt wollten aber alle drei auf einmal reden. Georg Klimcsok zog den Peter Szlávik aus dem Vordergrund nach rückwärts und stellte sich selbst vor den Diener Gottes.

»Feld? Wie viel Feld es giebt? So viel Sie nur befehlen. Wenn Sie hundert Joch brauchen ...«

»Was, hundert Joch, auch fünfhundert Joch,« rief Klimcsok begeistert. »Wir werden doch unserm Pfarrer den Boden nicht entziehen!«

Auf des Priesters Antlitz schimmerte ein Strahl der Freude, was jedoch der boshafte Szlávik nicht lange ertragen konnte. »Denn belieben zu verstehen, die Sache verhält sich folgendermaßen: Das Gebiet von Glogowa ist bis zum heutigen Tage nicht vermessen. Ein regelrechtes Grundbuch giebt es nicht, es hat wohl irgend eine Eintragung der Felder existiert, aber im Jahre 1823 ist die Gemeindetruhe verbrannt und mit ihr die Eintragung. Es hat nun jeder soviel vom Hotter, wie er mit seinen Händen und seinem Zugvieh bearbeiten kann. Jeder ackert seinen eigenen Boden, und wenn im Verlaufe der Jahre derselbe durch Gräben zerrissen, zerspalten und unfruchtbar geworden ist, sucht er sich ein anderes Stück Erde zum Ackern. Die Hälfte des Gebietes bleibt immer unbenutzt, natürlich die schlechtere Hälfte, an der herumzubasteln nicht der Mühe wert ist.«

»Ich verstehe,« seufzte der Pfarrer, »in dieser Hälfte liegen die Felder der Pfarre.«

Das waren freilich schmale Aussichten für die Zukunft. Aber er beruhigte sich doch allmählich, und wenn ihn die Bangigkeit ergriff, befreite er seine Seele durch Gebet. Das Gebet war seine Domäne mit ihrem ewig fruchtbaren Boden; dort konnte er zu jeder Zeit mähen, was er eben nötig hatte: Geduld, Hoffnung, Trost und Zufriedenheit. Er begann seine Wohnung allmählich in Ordnung zu bringen, um endlich einmal sein eigener Herr sein zu können. Nur ein Kaplan weiß das zu schätzen. Zu seinem Glück entdeckte er in dem Nachbardorfe, Kopanyica, einen Schulkameraden. Er hieß Thomas Urszinyi, ein großer stämmiger Mann, derb und geradeheraus, aber gutmütig. Urszinyi half ihm mit einer kleinen Anleihe.

»Glogowa ist ein Hundenest,« sagte Urszinyi. »Na, wahrlich, das Bistum von Neutra ist es nicht, aber wer kann dafür? Magere Herde, magerer Hirt. Du mußt aushalten. Daniel hatte es in der Löwengrube noch schlechter. Diese hier sind am Ende doch nur Schafe.«

»Auf denen keine Wolle ist,« bemerkte der Seelsorger lachend.

»Die haben sie auch, nur dir fehlt die Schere für dieselbe.«

In wenigen Tagen möblierte er sich mit dem geliehenen Geld, und an einem schönen Herbstnachmittage zog er in sein eigenes Pfarrhaus. O welche Wonne war es, sich in seinem eigenen Heim zu bewegen, Ordnung zu machen, und wie süß, in seinem eigenen Bette zu schlafen, auf den Kissen, deren Federn sein Mütterchen geschlissen. Lange sann er so vor sich hin und hing seinen Phantasien nach; vor dem Schlafengehen zählte er die Balken, um, wenn er träumte, es ja nicht zu vergessen.

Er vergaß es auch nicht, er hatte von etwas sehr Schönem geträumt. Auf den Wiesen seines Heimatdorfes haschte er nach Schmetterlingen, nahm Vogelnester aus mit mutwilligen Kameraden und Kameradinnen, geriet auch mit dem Paul Szabó in Streit, wollte ihn auch eben tüchtig durchbläuen, hatte schon seine Rute erhoben, als jemand von draußen an das Fenster klopfte.

Der Pfarrer schrak auf, fuhr zusammen und begann, sich den süßen Schlaf aus den Augen zu reiben. Es war Morgen, die Sonne schien in das Zimmer.

»Was giebt's?« schrie er.

»Öffne die Thüre, Hans! Hans!«

Wer nennt ihn Hans, wer sagt du zu ihm, wer spricht ungarisch mit ihm? Es war ihm, als sei es einer der Kameraden, von denen er im Traum sich soeben getrennt hatte.

»Wer ist draußen? Wer ruft mich?«

»Ich bin es, der Matthäus Billegi, von zu Haus. Komm heraus, Hänschen, will sagen, belieben ein wenig herauszukommen, ehrwürdiger Herr, ich hab' was mitgebracht.«

Der Pfarrer warf eilig die Kleider um. Fieberhaft klopfte sein Herz. Vielleicht verspürte sein zärtliches Gemüt eine Vorahnung der bösen Nachricht. Er öffnete die Thüre und trat unter das Vordach hinaus.

»Hier bin ich, Matthäus Billegi. Was habt Ihr mir gebracht?« Aber der Billegi war damals schon nicht mehr dort, sondern stand draußen auf der Landstraße neben seinem mit Säcken beladenen Leiterwagen und band den Korb los, in dem die kleine Veronika und die Gans saßen. Die Pferde, Schwalbe und Lerche senkten matt ihre Köpfe: Schwalbe wollte sich ein wenig niederlegen, versuchte es auch, aber die Deichsel hinderte es daran. Als es sich seitwärts neigte, fühlte es, wie die Stränge des Geschirres ihm in die Haut schnitten, und die Pferdeehre erlaubt es nicht, es sich vor Abnahme des Geschirres bequem zu machen. Das muß etwas ganz Besonderes sein, wenn sich ein angeschirrtes Pferd niederlegt; denn das Pferd besitzt ein starkes Pflichtgefühl.

Matthäus Billegi wendete sich jetzt um und bemerkte den Geistlichen an der Schwelle.

»Hopp, Hans. Ei, wie bist du gewachsen! Potztausend, bist du ein langaufgeschossener Bursche geworden. Deine arme Mutter, die möcht' sich kurios wundern, wenn sie noch am Leben wär'. Der Teufel soll den Strick holen, welch' starken Knoten ich darein geknüpft hab'!«

Der Pfarrer that ein, zwei Schritte auf den Wagen zu, wo sich der Billegi noch immer mit dem Losknüpfen des Korbes abmühte. Die Worte, »wenn deine Mutter noch am Leben wär',« fielen auf sein Haupt wie ein Felsenstück, sein Kopf begann zu sausen, seine Füße versagten den Dienst.

»Von meiner Mutter redet Ihr?« stotterte er erbleichend. »Meine Mutter ist tot?«

»Ja, die arme Seele hat ins Gras gebissen. Aber hier (er nahm sein Taschenmesser mit dem Holzgriff heraus und schnitt den Strick entzwei) bringe ich dir dein Schwesterchen. Doch Gott verzeih' mir, mit meinem Katzenkopf vergesse ich immer, daß ich vor dem Herrn Pfarrer steh'! ... ich hab' dem ehrwürdigen Herrn sein Schwesterchen gebracht. Wo soll ich es niedersetzen?«

Und mit diesen Worten hob er den Korb herab, in welchem das Kind schön ruhig neben der Gans schlief. Die Gans behütete das Mägdelein, als wäre sie eine Kindsmagd, sie verscheuchte mit ihrem stets sich hin und her bewegenden Halse die Fliegen, die auf das rote Mündchen des Kindes so gern wie auf Honig flogen.

Der gedämpfte Strahl der Herbstsonne beschien den Korb und das schlafende Kind. Der Bauer Matthäus erhob fragend seine wässerigen Augen zu dem Geistlichen und wartete auf eine Antwort.

»Gestorben?« frug dieser endlich nach langer Zeit. »Unmöglich! Ich habe nichts gefühlt.«

Er griff sich an die Stirne und rief schmerzlich: »Niemand, niemand hat mich verständigt. Nicht einmal das letzte Geleit konnte ich ihr geben!«

»Ich war auch nicht dabei,« sagte Billegi. – Er wollte ihn vielleicht damit trösten. Dann setzte er gutmütig hinzu: »Gott, der Herr, hat sie zu sich genommen, er hat sie vor seinen heiligen Thron berufen. Der vergißt keinen von uns hier. Na, diese schmierigen Frösche, soeben bin ich auf einen getreten.«

In dem von Unkraut überwucherten Pfarrhof hüpften die Frösche lustig herum, die aus dem feuchten, löcherigen Fundament der Kirche hervorkamen, um sich hier zu sonnen.

»Wo soll ich das Kind hinlegen?« wiederholte der Billegi, aber da er keine Antwort erhielt, stellte er den Korb behutsam unter dem Vordach nieder.

Niedergeschmettert, empfindungslos, mit erstarrter Seele stand der Pfarrer da, die Augen auf den Boden geheftet. Ihm war es, als drehe sich die Erde mit den Häusern, mit der Umzäunung seines Hofes, mit Matthäus Billegi und dem Korbe, und nur er stehe ganz still auf derselben, unfähig der geringsten Bewegung. Aus dem Hintergrunde ertönte das Brausen der Tannen im Ukricawalde, und ihm war, als ob ein geheimnisvoller, herzzerreißender Ton, der Stimme seiner Mutter ähnlich, in dieses Sausen verwebt sei. Zitternd horchte er auf, er versuchte die Stimmen auseinander zu halten, und als er endlich die einzelnen Töne zu erkennen, zu unterscheiden vermeinte, wurden sie plötzlich wieder von einem fremdartigen Rauschen verschlungen und vernichtet. Doch horch! horch! Der Mutter Stimme erhebt sich jetzt triumphierend aus dem Walde: »Hans, mein Hans, behüte das Kind!«

Aber während Pfarrer Johannes den überirdischen Tönen lauschte, verargte ihm Herr Matthäus seine Wortlosigkeit gar sehr; einen Mönchsgroschen hätte er doch wohl verdient, wenn schon nichts anderes, so meinte er. (Mönchsgroschen nennt man in jener Gegend das Danken.)

»Nun, das Geschehene läßt sich nicht ändern,« sagte der Bauer verdrießlich und schwang seine Peitsche. »Gott befohlen, ehrwürdiger Herr! Hott, hü, Schwalbe!«

Pfarrer Johannes antwortete noch immer nicht, er bemerkte in seinem großen Schmerze gar nicht, was um ihn herum geschah, die Pferde setzten sich in Bewegung, und neben ihnen schritt der Billegi zu Fuß – denn der Weg führte bergauf – mit leisem, ärgerlichem Brummen über die eigentümliche Weltordnung, die es zuläßt, daß aus dem Hähnchen ein Pfau wird, weil es von frühern Zeiten nichts mehr wissen will. Als er den Hügel erklommen hatte, sah er nochmals zurück, und den noch immer bewegungslosen Schulmeisterssohn erblickend, schrie er ihm zu, sich gleichsam die erfüllte Pflicht bestätigend: »Das Übernommene habe ich doch richtig abgeliefert!«

Auf diesen Ruf kam der Priester zu sich. Erbebend kehrte seine Seele von der traurigen Wanderung zurück; denn weit war sie seinem Mütterchen nachgeirrt. Er suchte sie auf in seinem Vaterhaus, durchlebte noch einmal die Zeit, die er mit ihr verbracht, und durchlebte in seinen Gedanken auch jene Zeit mit ihr, in der das unerbittliche Schicksal ihn von der Mutter fern gehalten. Er war zugegen in ihrer Todesstunde, er kniete und betete an ihrem Sterbebett, und den letzten Gedanken, den letzten Wunsch, den letzten Seufzer der sterbenden Mutter nahm die Luft auf, übergab ihn dem Winde, und der Wind ließ ihn aus dem Walde hervorbrausen: »Behüte das Kind, mein Hans!«

Das Kind muß nicht im Vaterhause sein, um den letzten Gedanken, den letzten Wunsch der Mutter zu erfahren. Kein Papier braucht ihn aufzunehmen, kein Telegraphendraht fortzutragen, es giebt eine größere, mächtigere Kraft, die das Kind mit der sterbenden Mutter verbindet.

Der erste Instinkt des Johannes war: dem Herrn Billegi nachzulaufen, damit er stehen bleibe, und ihm alles, was er von seinem Mütterchen weiß, erzählen möge; wie sie die letzten zwei Jahre gelebt, wie sie gestorben, wie man sie begraben, alles, alles, aber der Haláper Leiterwagen war schon weit weg, und in diesem Momente erblickte er den Korb, der seine Aufmerksamkeit fesselte.

In dem Korbe schlief sein Schwesterchen. Der junge Pfarrer kannte das Kind nicht, er hatte es noch nie gesehen. Bei dem Begräbnisse seines Vaters war er zum letztenmal in der Heimat gewesen. Die Mutter hatte einen Bauernwagen für ihn geschickt, diesmal hatte ihn niemand verständigt; die kleine Veronika war damals noch nicht auf der Welt gewesen, er wußte nur aus den Briefen seiner Mutter von ihrer Existenz, und diese Briefe waren auch so verschämt, so wortkarg gewesen.

Johannes trat an den Korb heran und betrachtete das pausbäckige, sympathische Gesichtchen. Sie hat etwas vom Mütterchen, dachte er, und wie er so schaut, schaut, immer weiter schaut, begann das Gesicht zu wachsen, sich zu verändern, und vor seinen flimmernden Augen stand urplötzlich Zug für Zug das Mutterantlitz. Großer Gott, welch' Wunder, welch' Traumgesicht! Das ganze währte keine Sekunde. Dann war es wieder das kleine Kind. O, wenn es nur die Äuglein öffnen wollte! Johannes wünschte so sehr, es möge die Augen aufschlagen, aber sie blieben geschlossen, nur die langen Wimpern quollen wie Seidenfransen aus den zwei Spalten hervor.

»Und die werde ich jetzt aufziehen müssen?« frug er sinnend, und unendliche Wärme überflutete plötzlich sein Herz – »und ich werde sie auch großziehen. Aber wovon? Mein Gott, wovon? Habe ich doch selbst nichts zu essen. Was soll ich beginnen?«

Und so wie bisher immer das Gebet seine Zuflucht war, wenn Verzagtheit und Ratlosigkeit sein Herz bedrückten, ging er auch jetzt in die Kirche um zu beten. Das Gotteshaus war eben offen, zwei alte Mütterchen tünchten die Wände. Pfarrer Johannes ging nicht zum Altar, denn die alten Weiber hantierten gerade dort herum, sondern kniete gleich außen vor dem Weihkessel nieder, über dem der aus Holz und Blech geformte Gottessohn voll Barmherzigkeit auf ihn niederschaute.


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