Oskar Meding
Europäische Minen und Gegenminen
Oskar Meding

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Zwischen der alten Rue du Temple und der Rue Saint Martin liegt eine enge und dunkle Straße, an deren Ecke man auf dem blauen Schilde liest: Rue de Gravilliers. Die ganze nicht sehr ausgedehnte Straße mit ihren hohen, finstern und unregelmäßigen Häusern ist von Arbeitern und kleinen Fabrikanten der sogenannten articles de Paris bewohnt. Das Haus Nr. 44 in dieser Rue des Gravilliers, ein hoher dreistöckiger Bau mit zwei dunkeln Höfen, zeichnet sich selbst in dieser keineswegs lachenden und eleganten Umgebung durch seine düstere Erscheinung aus. In der Boutique dieses Hauses befindet sich ein Bäckerladen, daneben sieht man das Schild eines fabricant de malles, Mr. Bernheim, und eines fabricant de perles, Mr. Gautier. Zu vorgerückter Abendstunde desselben Tages, an welchem George Lefranc die kleine Gesellschaft bei Madame Raimond verließ, sah man in das sonst so stille und wenig besuchte Haus in der Rue des Gravilliers in kurzen Zwischenräumen eine bedeutende Anzahl von Personen eintreten, welche meist einzeln, zuweilen zu Zweien und Dreien kamen, den ersten Hof des Hauses durchschritten und im zweiten Hofe sich zu einer rechts in der Ecke befindlichen, dunkeln Treppe wendeten, die zum ersten Stockwerk des Hintergebäudes hinaufführte.

Sie traten dann in ein geräumiges Zimmer dieses Hinterhauses, in welchem sich allmählich etwa fünfzig bis sechzig Männer verschiedenen Alters versammelten. Viele von ihnen trugen die blaue Bluse, dieses altgewohnte Kostüm des pariser Handarbeiters, alle waren einfach gekleidet, alle waren Arbeiter verschiedener Gewerkszweige, in ernstem Schweigen hörten sie dem Vortrag ihres Vorsitzenden zu, der an einem mäßig großen Tische an einem Ende des länglichen Zimmers saß, umgeben von drei andern Männern, welche neben ihm die Plätze an dem Tische einnahmen, auf dem zwei Kerzen brannten, hinter denen man einen großen, hölzernen Kasten, mit Büchern und Schriften gefüllt, bemerkte, dessen Inhalt zum Teil auf dem Tische ausgebreitet war.

Der Schein der beiden dünnen Kerzen erhellte das große Zimmer nur mäßig, und der größte Teil der Versammelten, welche auf einer Anzahl von Stühlen und hölzernen Bänken Platz genommen hatten, befand sich im Halbdunkel, nur die vordersten Reihen der den Tisch des Vorsitzenden Umgebenden waren von dem unstät flackernden Lichtschimmer beleuchtet.

Man sah dort finster nachdenkliche, scharf ausdrucksvolle Gesichter, die Züge gehärtet im Kampf des Lebens, die Lippen in energischer Willenskraft geschlossen, die tiefen Augen brennend in forschenden Suchen nach der Lösung der Probleme, welche die Verhältnisse der Gesellschaft täglich neu in diesen der leichten und freien Geistesbewegung ungewohnten Köpfen aufsteigen ließen.

Der Vorsitzende dieser Gesellschaft, welche sich »Pariser Zweigverein der internationalen Arbeiter-Assoziation« nannte, war der Bronzearbeiter Tolain. Er saß da auf einem hölzernen Stuhl in der Mitte des von Papieren und Schriften bedeckten Tisches, in grauem Rock – aus dem über eine kleine, schwarze Krawatte weit übergeschlagenen, sauberen Hemdkragen ragte das etwas blasse, von hoher Intelligenz durchleuchtete Gesicht mit dem träumerisch blickenden Auge hervor, das sinnend über die vor ihm Versammelten hinschweifte, dessen schwärmerischer Ausdruck aber weite und ferne vor seinem inneren Blick sich auftuende Gebiete zu durchforschen schien. Die ganze Erscheinung dieses merkwürdigen Mannes trug das Gepräge eines philosophischen Idealismus, der sich mehr den großen und weiten Problemen der sozialen Entwickelung der Zukunft, als den Fragen und Bedürfnissen der praktischen Gegenwart zuzuwenden geschaffen sein mochte. Neben ihm saß der Bronzearbeiter Fribourg, eine Erscheinung, weniger bemerkenswert als Tolain, mit scharfgeschnittenen, intelligenten Zügen, aber gleich dem Vorsitzenden von jenem idealistischen Ausdruck belebt, wie man ihn in den Köpfen der Männer aus der ersten Periode der großen Revolution findet. Auf der andern Seite neben dem Vorsitzenden sah man – etwas vorgebückt – den Buchbinder Louis Varlin, ein scharfes Gesicht mit kalten, verschlossenen Zügen und einem strengen, kleinen, oft gesenkten und von unten heraufblickenden Auge, die dünnen Lippen waren fest geschlossen und um die Mundwinkel lag fast immer ein stilles Lächeln voll schneidender Ironie.

An den beiden längeren Seiten des Tisches saßen der Bauschreiber Felix Chemalé, etwas eleganter und modischer gekleidet als die andern, sein klares, helles Auge und sein ruhiges Gesicht deutete auf den in praktischen Arbeiten und Berechnungen tätigen Mann, er hielt eine Feder in der Hand, bereit, in seiner Eigenschaft als Sekretär des Vereins die Notizen zur Abfassung des Protokolls über die Vorträge und Besprechungen auf einen großen vor ihm liegenden Bogen niederzuschreiben.

Ihm gegenüber, hinter dem großen Kasten, welcher die Archive des Vereins enthielt, sah man den Graveur Bourdon in gerader, etwas starrer Haltung. Sein scharfes und geistvolles Gesicht hatte weder den idealen Ausdruck, welchen man in den Zügen Tolains und Fribourgs bemerkte, noch die stille, fast unheimliche Verschlossenheit, welche in dem charaktervollen Kopf Barlins lag, es war ein glattes, aber undurchdringliches Antlitz, nur aus den scharf aufblitzenden Augen sprach bisweilen ein eigentümlicher Ausdruck kalter Verachtung, eine ruhige Zurückhaltung, welche vermuten lassen konnte, daß die Gedanken dieses Mannes zuweilen eigene Wege gehen mochten, über welche er sich auszusprechen nicht für angemessen oder noch nicht zeitentsprechend hielt.

An der Eingangstür saß ein alter Mann mit faltigen, etwas verwitterten Zügen, der Buchhändler Héligre, der Kassierer des Vereins. Er prüfte aufmerksam die Karten, welche die Eintretenden ihm vorzeigten, und verglich die darauf befindlichen Nummern mit den Listen eines vor ihm auf einem kleinen Tische liegenden Buches. Ein kurzes, schweigendes Kopfnicken deutete an, daß alles in Ordnung sei, und der Eintretende schritt an ihm vorüber, um sich seinen Platz in der Versammlung zu suchen, bald mit leichtem Kopfnicken, bald mit einem Händedruck, selten mit einigen kurzen Worten hier und da einen Bekannten begrüßend.

Die Eintretenden waren seltener geworden, man schien niemand mehr zu erwarten.

Tolain erhob den Kopf, ließ einen seiner tiefen, sinnig nachdenklichen Blicke über die Versammlung hinstreifen und begann, indem sich sein bleiches Gesicht mit einer leichten, flüchtigen Röte färbte, mit einer leisen, aber wohltönenden und eindringenden Stimme und einem gewissen langsam pathetischen Ausdruck zu sprechen:

»Meine lieben Freunde, es sind mehrere wichtige und bedeutungsvolle Fragen vorhanden, über welche wir uns besprechen und Beschluß fassen müssen.«

Die bisherige, für eine so große Versammlung merkwürdige Ruhe ging in ein noch tieferes Schweigen der gespanntesten Aufmerksamkeit über.

»Ich habe euch,« fuhr Tolain mit seiner ruhigen Stimme fort, »zunächst Mitteilung zu machen von einer Reise, die ich mit unserem Freunde Fribourg, der hier an meiner Seite sitzt, in der Zeit seit unserer letzten Versammlung nach London gemacht habe.«

Eine leichte Bewegung, ein Atemzug allgemeiner Aufmerksamkeit wurde unter den versammelten Arbeitern hörbar.

»Wir gingen nicht dorthin,« fuhr Tolain fort, »in unmittelbaren Angelegenheiten der internationalen Assoziation, es war eine persönliche Pflicht der Freundschaft,« sagte er mit wehmütigem Tone, »die uns über den Kanal führte, unsere Anwesenheit in London hat uns aber von neuem Blicke in die dortigen Zustände tun lassen, welche das bestätigen, was schon früher Gegenstand unserer Besprechungen und Beschlußfassungen gewesen ist, und was uns veranlassen muß, von neuem zur Wachsamkeit gegen verderbliche und gefährliche Richtungen aufzufordern. Ein alter Freund von uns und vielleicht von mehreren unter euch, der Kapitän François Hémont, ein Flüchtling aus dem Jahre 1851, war in London gestorben, arm und einsam in der kleinen Wohnung seines entbehrungsvollen Exils; seine englischen Bekannten, welche dem armen Flüchtling nach seinem traurigen und schmerzvollen Leben die letzte Ehre im Tode erweisen wollten, forderten seinen Landsmann Felix Pyat, der sich dort befindet, um sich den Verfolgungen der hiesigen Polizei zu entziehen, auf, an seinem Grabe die letzte Rede zu halten, dem im fremden Lande Gestorbenen, der nun in fremder Erde zur ewigen Ruhe gebettet werden sollte, den letzten Gruß des Vaterlandes zu bringen. Der Franzose Feliz Pyat,« fuhr Tolain mit erhöhter Stimme fort, »lehnte diese ehrenvolle, diese heilige Aufforderung ab!«

Eine schnelle Bewegung wogte durch die Reihen der Zuhörer, ein Murren der Entrüstung ertönte im Zimmer.

»Warum? – aus welchen Gründen?« riefen einzelne Stimmen.

»Er sei müde und abgespannt,« sagte Tolain mit dumpfem Tone in mehr traurigem als bitterem Ausdruck, »das Wetter sei vor allem zu schlecht, und dem Toten nütze ja weder seine Begleitung noch seine Rede.«

»Unerhört! – Verabscheuungswürdig! – Der Elende!« riefen viele Stimmen.

»Als, uns,« fuhr Tolain fort, »diese traurige Botschaft durch den Telegraphen gesendet wurde, da brannten unsere Herzen vor Schmerz, Zorn und Scham, rasch entschlossen rafften wir unsere Barschaft zusammen, sie genügte, wir telegraphierten zurück, daß die Arbeiter und Gewerke Frankreichs am Grabe des armen Landsmannes vertreten sein würden, wir fanden unsere Freunde Camelinat, Baldun und Kin bereit, mit uns diese heilige Pflicht zu erfüllen, und am Tage darauf standen wir an dem offenen Grabe, in welches man den Sarg unseres Freundes Francis Hémont niedersenkte.«

Ein Gemurmel des Beifalls ließ sich im Saale hören. »Brav – brav!« riefen einzelne Stimmen, und einige der Nächstsitzenden drückten den Bronzearbeitern Valdun, Camelinat und Kin, welche in der ersten Reihe saßen, die Hände.

»Als wir dort standen,« fuhr Tolain fort, »und eben der Sarg mit den Überresten des verbannten Freundes den Boden der Grube berührte, da trat plötzlich Felix Pyat heran, er hatte sich nun dennoch entschlossen zu kommen, obgleich das Wetter noch immer gleich schlecht war und der Regen in Strömen niederfloß.

– Er trat an den Rand des Grabes und begann zu sprechen.«

»Ah, ah!« rief man hier und da, »und was sagte er?« »Wir hatten geglaubt,« sagte Tolain, »er würde Worte der Wehmut, der Erinnerung dem Dahingeschiedenen nachrufen, aber er hatte nur die Gelegenheit benutzt, um uns noch einmal jene Theorien zu entwickeln, welche wir schon früher zurückgewiesen haben – die Theorien der politischen Revolution, durch welche wir unsere Lage niemals verbessern können und nur als Werkzeuge des Ehrgeizes einzelner Parteien und ihrer Führer gemißbraucht werden, denen das Wohl und Wehe des Arbeiters die gleichgültigste Sache von der Welt ist! – Er sprach wenig von dem Toten, destomehr von dem contrat social Rousseaus, von der Schweiz, dem Lande, in welchem die Freiheit herrsche, und schließlich sich an uns wendend rief er uns zu, wir möchten mit Rousseaus Lehren aus der Schweiz auch den Pfeil Wilhelm Tells nach Frankreich bringen, dann werde er getröstet in der Verbannung leben. Mit ihm riefen die dort Versammelten: »Hoch lebe die Republik!'«

Tolain hielt inne. Verschiedene Stimmen wurden laut, einzelne riefen: »Welcher Wahnsinn!« Hier und da hörte man bitteres Lachen, eine Stimme rief: »Und was tatet ihr?«

Tolain richtete seinen ernsten Blick nach der Gegend, woher diese Stimme gekommen war, und antwortete langsam und ruhig:

»Meine Freunde und ich, wir bückten uns, warfen eine Handvoll Erde als letzten Gruß in das Grab unseres Freundes und verließen stillschweigend den Kirchhof, dann bestiegen wir das Schiff und kehrten hierher zurück.«

»Gut – gut, so war es recht!« rief man von allen Seiten, auch hörte man die Frage: »Warum kommt Herr Pyat nicht selber, wenn er die Gesellschaft mit dem Dolche reformieren will?«

Varlin warf einen kurzen, düsteren Blick auf die Versammelten, dann neigte er schweigend wieder das Haupt und blickte vor sich auf den Tisch nieder.

»Es freut mich, meine Freunde,« sprach Tolain weiter, »daß ihr unser Verhalten billigt, aber nicht allein, um diese Billigung zu erhalten, habe ich euch über die Sache berichtet, wir waren,« sagte er leicht den Kopf emporwerfend, »nicht als eure abgesandten Vertreter dort, also vollkommen frei, nach unserem persönlichen Ermessen zu handeln, ich wollte nur bei dieser Gelegenheit euch nochmals darauf aufmerksam machen, wie sehr von gewissen Personen jeder Anlaß benutzt wird, um die Kraft unserer Assoziation zur Ausführung politischer Träumereien oder zur Handhabe politischen Ehrgeizes zu benutzen. Ich wollte auch diese Gelegenheit ergreifen, um euch vor solchen Verlockungen, die sowohl an unsere Gesamtheit als an jeden einzelnen von uns noch vielfach herantreten werden, dringend zu warnen und euch zu bitten, jener falschen und verderblichen Richtung ebenso kraftvoll und energisch zu widerstehen, wie ihr dies auf dem Kongreß zu Genf getan und wie ihr früher schon mir fest zur Seite standet, als ich die Zumutung der englischen Generalräte Odger Cremer und Eccarius zurückwies, welche die Pariser Angelegenheiten unter die Leitung des Journalisten Lefort stellen wollten, wodurch wir zu Werkzeugen für die politischen Intrigen der liberalen Bourgoisie geworden wären.«

»Wenn aber,« rief ein finster blickender Mann in blauer Bluse, mit kurzem, schwarzem Bart, aus der zweiten Reihe der Versammelten hervor, »wenn aber die Gesetze der Regierungen, wie sie sind, die freie Bewegung des Arbeiters hemmen, wenn die Polizei uns verfolgt, die Gerichte uns verurteilen, sobald wir unser Recht in Anspruch nehmen, wie soll uns geholfen werden, wenn wir nicht die Regierung beseitigen und eine solche an ihre Stelle setzen, welche uns die freie Bewegung, den freien Kampf gegen das Kapital gewährleistet?«

Tolain ließ den vollen Blick seines groß geöffneten, sinnenden Auges einen Augenblick auf dem Sprecher ruhen.

»Mein Freund Tartaret,« sagte er dann langsam und sanft, »es war nicht meine Absicht, eine Diskussion hervorzurufen, die Frage über unsere Haltung der politischen Revolution gegenüber ist diskutiert und es ist darüber beschlossen worden, ich wollte nur eine Mahnung gegen die immer erneut an uns herantretenden Versuchungen aussprechen. Doch,« fuhr er fort, indem sein Blick sich belebte wie immer, wenn er die Gelegenheit fand, in theoretischer Auseinandersetzung die Resultate seines sorgfältigen Nachdenkens und fleißigen Studiums zu entwickeln, »doch will ich mir erlauben, auf die gemachten Bemerkungen einige Worte zu erwidern.«

Varlin machte eine kleine Bewegung der Ungeduld, Bourdon lehnte sich mit einem halb unterdrückten Seufzer auf seinen Stuhl zurück, und Tolain fuhr fort:

»Es sind nicht die Gesetze der Regierungen, welche das Los des Arbeiters unerträglich machen, es ist die willkürliche Herrschaft des Kapitals – der Bourgeoisie. Ich gebe zu, daß die Gesetze mehr für diese Bourgeoisie gemacht worden sind, als für uns, aber warum ist das geschehen? – weil jene durch die Assoziation, durch instinktmäßigen Zusammenschluß eine Macht bildet, die ihren Anteil an der Gesetzgebung ausübt, indem sie uns unsere politischen Rechte, die für uns Steine statt des Brotes sind, zu ihren Gunsten ausüben ließ. Die Regierung – jede Regierung wird demjenigen Teil des Volkes Rechnung tragen – wird mit dem Teil des Volkes zusammengehen, der die meiste Macht entwickelt, es ist also nicht unsere Aufgabe, die Regierungen anzugreifen, welche nur der natürlich ihnen vorgeschriebenen Notwendigkeit folgen, sondern diejenige Minorität der produktiven Bevölkerung, welche, dem natürlichen Verhältnis entgegen, uns, den Arbeitern, die Frucht der Arbeit und damit den Einfluß auf das öffentliche Leben entzieht. Wir haben nach Quantität und Qualität unserer Beteiligung an der Produktion das Übergewicht über jene, wir sind die schaffende Kraft, während sie nur den Stoff der Produktion liefern und uns, die schaffende Kraft, physisch ernähren; wenn wir also trotz unserer großen Überzahl, trotzdem, daß ohne uns keine produktive Tätigkeit in der Gesellschaft möglich ist, wenn wir trotzdem nicht die verhältnismäßigen Früchte unserer Arbeit ernten, wenn wir keinen Einfluß ausüben, um das Leben der Gesellschaft unseren Bedürfnissen, unseren berechtigten Ansprüchen gemäß zu gestalten, woran liegt das? – Nicht an den Regierungen, wahrlich nicht an ihnen, es liegt daran, daß wir vereinzelt der Macht des Kapitals gegenüberstehen, daß wir nicht in fester Assoziation austreten, wo es gilt, unsere Rechte zu wahren, unseren Willen durchzusetzen. Sobald wir fest verbunden und zu gemeinsamem, nachdrücklichem, wohlüberlegtem und einigem Handeln organisiert sind, ist die Macht auf unserer Seite, und jede Regierung wird gern unseren Wünschen entgegenkommen, lieber vielleicht mit uns gehen, als mit jener unzuverlässigen Bourgeoisie,« fügte er etwas leiser hinzu, indem er das Auge sinnend niedersenkte, »darum ist es unsere Aufgabe, uns fester und immer fester zusammenzuschließen zu einer mächtigen, die Arbeiter der ganzen Erde umfassenden Assoziation, dann werden wir dem Kapital einen Vertrag anbieten, bei welchem es nicht mehr den einzelnen hilflosen, vom Hunger gedrängten Arbeiter sich gegenüber sehen wird, sondern die Arbeit selbst – die schaffende Kraft, diesen göttlichen Lebenshauch der Menschheit, diese Kraft, welche berufen ist, die Gesellschaft zu beherrschen, der sie die Bedürfnisse des Lebens schafft, und bei diesem Vertrag, den wir diktieren werden,« rief er flammenden Blickes mit erhobener Stimme, »wird die Arbeit die Herrscherin sein und das Kapital, die tote Materie, der wir erst Form und Gestaltung geben, wird sich in die ihm natürlich gebührende Dienstbarkeit zurückgeworfen sehen! – Um dies große Ziel aber zu erreichen,« fuhr er nach einem tiefen Atemzuge fort, »dürfen wir unsere Kräfte nicht von dem geraden Wege abziehen und zersplittern lassen, vor allem sie nicht mißbrauchen lassen zu Zwecken, welche nicht die unsrigen sind, wir dürfen uns nicht die unversöhnliche Feindschaft der Regierungsmächte zuziehen, denen zu widerstehen wir noch nicht stark genug sind. Unsere Aufgabe –«

Varlin erhob den Kopf und sagte mit seiner ein wenig harten und rauhen Stimme:

»Mein lieber Tolain, es sind, glaube ich, mehrere ernste und sehr dringliche Gegenstände zu besprechen, sollte es nicht zweckmäßig sein, diese zunächst zu erledigen, es wird uns dann vielleicht noch Zeit zur Darlegung allgemeiner und von der Versammlung bereits anerkannter Prinzipien übrigbleiben.«

»Mein Freund Varlin hat recht,« sagte Tolain in sanftem Tone, »gehen wir daher zu den Gegenständen über, welche wir euch heute vorzulegen haben.«

Er ergriff ein Heft, welches vor ihm auf dem Tische lag, und indem er dasselbe flüchtig durchblätterte, sprach er:

»Ihr erinnert euch, meine Freunde, daß im vorigen Jahre bei dem Kongreß zu Genf ein Gutachten des Pariser Zweiges der internationalen Assoziation aufgestellt wurde, welches sehr wesentlich von den Tendenzen der Schweizer, der Deutschen und der Engländer abwich. Ihr alle habt das Gutachten, die Richtschnur eures Handelns, akzeptiert.«

»Jawohl – jawohl,« sagten mehrere. »Laßt uns kurz die Sätze des Gutachtens noch einmal hören,« rief eine Stimme.

Tolain schlug das Heft in seiner Hand auf und sprach, den Blick auf eine Seite desselben gerichtet:

»Wir stellen als das Ziel unseres Strebens die Herstellung eines Gesellschaftszustandes auf, der auf folgenden Prinzipien basieren müßte:

Erstens: Man soll für geliehenes Geld keine Zinsen nehmen, denn nur die produktive Arbeit hat ein Recht auf Ertrag, und das Kapital darf nur insoweit an demselben partizipieren, als es das Mittel zur Produktion bildet und als sein Besitzer an der Arbeit teilnimmt.

Zweitens: Es soll dem freien Austausch der Arbeitsprodukte weder innerhalb eines Landes, noch im internationalen Verkehr irgendein Hindernis in den Weg gelegt werden, denn das Erzeugnis der Arbeit ist das natürlich unbestreitbarste und heiligste Eigentum des arbeitenden Menschen, und kein Gesetz darf der Verfügung über dies Eigentum Schranken setzen.

Drittens: Niemand darf sich weigern zu arbeiten, die natürliche Folge des ersten Grundsatzes, nach welchem das Kapital ohne Arbeit keinen Ertrag liefert.

Viertens: Keine öffentlichen Schulen, kein Schulzwang und kein unentgeltlicher Unterricht, aber Lehrfreiheit für jedermann. – Jeder soll seine Kinder unterrichten wie, wann und wo er will, und unentgeltlich darf nichts in der Gesellschaft der Arbeit sein, da sie jedem das Recht auf Arbeit gibt und keine Armut kennt.

Fünftens: Eine gemeinsame gesetzliche Ordnung für alle Genossenschaften zu produktiver Arbeit.«

»Das ist eine Beschränkung der Freiheit!« rief eine Stimme.

»Ohne Beschränkung der Freiheit des einzelnen zugunsten der Allgemeinheit ist die Gesellschaft eine Horde von wilden Barbaren!« rief Tolain mit voller Stimme, »die Tiere der Wüste haben die Freiheit ohne Schranke und Gesetz, der Mensch –«

»Aber –« warf dieselbe Stimme ein.

»Still, still!« riefen mehrere, »weiter, weiter, keine Diskussion, die Sache ist ja schon beschlossen, keine Unterbrechung!«

Die Ruhe war schnell hergestellt. Tolain fuhr fort:

»Sechstens: Direkte Steuern; dies folgt natürlich aus dem zweiten Punkte, denn jede indirekte Steuer ist eine Beschränkung des freien Austausches.

Siebentes: Ein Volksheer, kein Soldaten stand, der in der Gesellschaft der Arbeit unmöglich und widersinnig ist. – Dies die allgemeinen Prinzipien als große Zielpunktes unseres Strebens. Für die gegenwärtige Zeit und ihre Kämpfe wurde noch als praktisch maßgebend aufgestellt: Kein Streik ohne genaue vorherige Überlegung, Feststellung der Grundsätze und Sicherung der Mittel zu seiner erfolgreichen und vollständigen Durchführung. Endlich: Ausschluß aller politischen Fragen, insbesondere der polnischen. – Ihr erinnert euch, daß einige Schweizer und Engländer diese Frage zu einem Gegenstände unserer Agitation machen wollten.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Da wir einmal den Inhalt des für unseren Verein als maßgebend festgestellten Gutachtens rekapituliert haben,« sagte Varlin, einen raschen, scharfen Blick über die Versammelten werfend, »so mag es mir erlaubt sein, historisch zu bemerken, daß ich und unser Freund Bourdon hier ein Minoritätsgutachten aufstellten, welches einige weitere Punkte enthielt und sich den Ansichten der Engländer und Deutschen mehr näherte.«

»Welche Punkte?« fragte man von mehreren Seiten.

»Wir wollten,« sagte Varlin, »das Erbrecht bei gewissen Verwandtschaftsgraden aufheben und den Grund und Boden für allgemeines Eigentum der arbeitenden Gesellschaft erklären.«

»Sehr gut! – Sehr richtig!« rief man hier und da. »Nein – nein,« ertönten andere Stimmen, »eine Beschränkung des Erbrechts greift in die Freiheit der Verfügung über den Ertrag meiner Arbeit; wenn ich den Boden durch meine Arbeit verbessere, so will ich auch die Frucht davon genießen.«

Die Bewegung wurde unruhig, einzelne erhoben sich laut sprechend und gestikulierend.

Tolain schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Das Gutachten der Minorität liegt in unseren Akten!« rief er mit ernster, den Lärm beherrschender Stimme, »aber unsere Freunde Varlin und Bourdon haben die Grundsätze der Majorität angenommen und ihre Namen stehen, und zwar derjenige Bourbons an der Spitze der sechzehn Unterschriften des als maßgebend aufgestellten Schriftstückes. Es kann also jetzt keine Diskussion darüber stattfinden.«

Er warf einen halb fragenden, halb vorwurfsvollen Blick auf Barlin.

»So ist es,« erwiderte dieser, »das Majoritätsgutachten ist maßgebend, ich wollte keine Diskussion anregen, sondern nur die historische Darstellung vervollständigen.«

Das Gewirr der Stimmen im Zimmer beruhigte sich. Tolain fuhr fort:

»Ihr wißt, daß die hiesige Polizei, welche keinen von uns bei der Rückkehr von Genf belästigte, einige auswärtige Mitglieder bei der Rückreise arretierte und ihre Papiere mit Beschlag belegte. Odger und Cremer, die Engländer, reklamierten den Schutz ihrer Gesandtschaft, und dieselbe trat für sie ein.«

»Ob das die französischen Gesandten für uns auch getan hätten?« fragte man aus der Versammlung.

Ohne die Frage zu beachten, sprach Tolain weiter:

»Die Inhaftierten wurden in Freiheit gesetzt, und nach langem Zögern und weitläufigen Erörterungen wurden ihnen auch ihre Papiere zurückgegeben. Unter diesen Papieren nun, welche so in den Besitz der Regierung gekommen waren, befand sich auch unser Gutachten, und dies wurde die Veranlassung, daß der Staatsminister Rouher den ersten Unterzeichner desselben, Bourdon, zu sich rufen ließ.«

»Ah – ah!« hörte man von allen Seiten, »der Staatsminister, Bourdon, das ist interessant!«

»Ich bitte nun unseren Freund Bourdon,« sagte Tolain, »selbst über seine Unterredung mit dem ersten Minister des Kaisers zu berichten.«

Bourdon, auf den sich in diesem Augenblick alle Augen richteten, setzte sich gerade auf seinen Stuhl, wendete sich halb nach den versammelten Arbeitern hin und sprach mit etwas trockener, eintöniger Stimme, aber klarer und scharfer Betonung:

»Ich wurde in das Kabinett des Staatsministers geführt, derselbe –«

»Wie war der Empfang? – war der Minister artig?« fragte man aus der Versammlung.

»Sehr artig,« sagte Bourdon, »voll Wohlwollen und Freundlichkeit. Eine Abschrift der Denkschrift lag auf dem Tisch.

›Ich habe Ihr Gutachten gelesen,‹ sagte Herr Rouher, ›es hat mein hohes Interesse erregt, und ich freue mich zu sehen, daß die Fragen, in welchen sich das höchste Interesse der Arbeiter konzentriert, Gegenstand eines so tiefen und ernsten Studiums von Ihrer Seite gewesen sind.‹

Ich verneigte mich schweigend.

›Sie werden wünschen,‹ fuhr der Minister fort, ›daß diese Denkschrift nicht nur in den Archiven Ihres Vereins bleibe, Sie werden dieselbe in Frankreich in Zirkulation setzen wollen?‹

Ich erwiderte, daß dies allerdings unser Wunsch sein müsse, da unser Ziel darauf hinausgehen müsse, alle Arbeiter zu einer Gesamtassoziation zu vereinigen und für die Bestrebungen derselben die in unserem Gutachten enthaltenen Grundsätze als Zielpunkte aufzustellen.

›Ich sehe kein Bedenken,‹ sagte Herr Rouher, ›diese Grundsätze den französischen Arbeitern mitzuteilen, sie enthalten im allgemeinen keine Feindseligkeiten gegen die bestehenden Fundamente der Staatsordnung, und in einem Lande wie Frankreich, in welchem der Wille des Volkes maßgebend ist, in welchem der Souverän selbst sich stets daran erinnert, daß er nur als erster Mandatar des souveränen Volkswillens die Nation auf dem Throne repräsentiert, soll jedermann das Recht haben, Grundsätze auszusprechen, welche keine verbrecherische Auflehnung gegen die Ordnung enthalten. Wenn ich also,‹ sagte der Minister weiter, ›gegen die Verbreitung der Grundsätze Ihrer Denkschrift im allgemeinen nichts einzuwenden haben würde, so finden sich in derselben doch Ausdrücke, Wendungen, Phrasen, welche zu Mißdeutungen Veranlassung geben könnten und bei ängstlichen Gemütern, zu denen der Kaiser und seine Regierung nicht gehören, die Furcht hervorrufen könnten, als sei hier ein Angriff gegen die geordnete Sicherheit der Gesellschaft versteckt. Es käme also darauf an, die Redaktion des Schriftstückes noch einmal genau zu prüfen, zu sehen, ob nicht hier eine bedenkliche Wendung zu beseitigen, an anderer Stelle vielleicht ein Satz einzuschalten wäre.‹

Der Staatsminister nahm die Denkschrift zur Hand und schlug mir vor, sie mit ihm durchzugehen, um mir seine Vorschläge in betreff derartiger Modifikationen zu machen.

Ich lehnte dies ab.« –

»Gut – gut,« rief man, »was wir wollen, ist gut und klar, wir haben nichts zu bemänteln.« –

Bourdon erhob die Hand. Man schwieg.

»Ich erwiderte Herrn Rouher, daß ich für seine freundliche Beurteilung unserer Grundsätze sehr dankbar bin, daß wir alle gewiß nicht die Absicht hätten, irgendwie gewaltsam die bestehende Ordnung anzugreifen, daß wir vielmehr nur innerhalb der gesetzmäßigen Ordnung die Macht des koalierten Arbeiterstandes zu einer Reform dieser Gesellschaftsordnung in Anwendung zu bringen bezweckten. – Auf der anderen Seite aber seien unsere Grundsätze klar und bestimmt, sie seien das Resultat langen Studiums und Nachdenkens, sie seien von unseren Freunden zum Beschluß erhoben und auch die Form der Ausdrucksweise sei eingehend diskutiert und nach reiflicher Erwägung festgestellt, sollten wir die Form ändern, so würden wir den Sinn ändern, wir hätten unseren Gedanken die treffendsten Ausdrücke gegeben, und ich hielte es nicht für möglich, in anderen Wendungen dieselben Gedanken mit demselben Freimut und derselben Wahrheit auszusprechen.«

Er hielt inne und blickte fragend auf die Versammelten.

Ein allgemeiner Ruf der Zustimmung tönte ihm entgegen. »Wir haben nicht nötig, uns unsere Denkschrift redigieren zu lassen,« rief man, »wir wollen unsere Selbständigkeit erkämpfen und nicht damit beginnen, uns unter polizeiliche Vormundschaft zu stellen!«

»Es freut mich, meine Freunde,« fuhr Bourdon fort, »daß ich für mein Verhalten, das ich nach meiner gewissenhaften Überzeugung glaubte beobachten zu sollen, eure Zustimmung finde.«

»Und was sagte der Minister?« fragte man, »wie nahm er die Ablehnung auf?«

Bourdon schwieg einen Augenblick, warf einen Blick auf ein kleines Papier, das er in der Hand hielt und auf welchem er einige Notizen gemacht zu haben schien, und sprach dann unter tief aufmerksamer Stille weiter:

»Herr Rouher schien von meiner Weigerung ein wenig betroffen zu sein, er sann einige Zeit nach und sagte dann, es werde ihm schwer werden, unter diesen Umständen die Verbreitung der Denkschrift zu erlauben. ›Sie wissen,‹ bemerkte er mit vertraulicher Freundlichkeit, die Regierung – der Kaiser selbst – werden so vielfach vor den Bestrebungen der internationalen Assoziation gewarnt, nicht jeder kennt Ihre Grundsätze, wie ich sie kenne, und beurteilt sie, wie ich sie beurteile – und wie der Kaiser sie beurteilt, man hat auf Bedenklichkeiten, selbst auf fremde Regierungen Rücksicht zu nehmen, ich hätte so gern gewünscht, Ihnen entgegenzukommen – bei entsprechenden Modifikationen hätte man vielleicht sogar eine Basis für die legale Existenz Ihres Vereins finden können, welche demselben, wie Sie wissen, bis jetzt fehlt.‹

Ich erwiderte, daß nach dem Rat unseres Advokaten wir nicht einen französischen Verein gebildet, sondern uns als Zweigverein der in London zentralisierten allgemeinen Arbeiterassoziation konstituiert hätten, da die Mitgliedschaft an ausländischen in den betreffenden Ländern erlaubten Vereinen nach dem französischen Gesetz nicht verboten sei, weshalb wir glaubten, auf völlig legalem Boden zu stehen, auch sei uns ja bis jetzt von seiten keiner Behörde irgendeine Bemerkung zugegangen, welche uns etwas anderes könne voraussetzen lassen. –

Herr Rouher lächelte und meinte achselzuckend, die Legalität unserer Existenz dürfte sehr zweifelhaft und sehr leicht anzufechten sein, und sie würde wohl schon zum Gegenstände polizeilicher oder gerichtlicher Erhebungen geworden sein, wenn nicht die Regierung des Kaisers, durchdrungen von der sympathischen Teilnahme, welche der Souverän selbst allen Interessen des Arbeiterstandes stets zuwende, alle Erörterungen über die Legalität des Vereins so lange hinausgeschoben habe, bis dessen Tendenzen sich gegen die Grundordnungen des Staates richten sollten. ›Es ließe sich übrigens,‹ fuhr der Minister fort, ›die mangelnde oder zweifelhafte Legalität in irgendeiner Weise ergänzen, wenn eben aus der Denkschrift über unsere Grundsätze klar und unzweifelhaft hervorginge, daß die Regierung in unserer Tätigkeit keine Gefahr zu erblicken habe. – Sie haben diese Garantien,‹ sagte er, ›an denen uns für unsere Haltung Ihnen gegenüber viel gelegen wäre, durch eine Modifikation des Textes Ihrer Denkschrift nicht geben wollen, ich kann das begreifen, wenn man von der Wahrheit seiner Grundsätze überzeugt ist, mag man dieselben nicht verhüllen, indes, es ließe sich eine solche Garantie vielleicht in anderer, für Sie gewiß weniger bedenklicher Weise schaffen, es ist ein persönlicher, rein persönlicher Rat, den ich Ihnen gebe. Sie wissen selbst, wieviel der Kaiser stets für die arbeitenden Klassen getan hat, wie sehr ihm das Schicksal dieser Klassen am Herzen liegt, wie er schon als Prinz in der Verbannung alle die Probleme studiert, welche Sie beschäftigen, und in wie freisinniger Richtung er deren Lösung gesucht, was wäre natürlicher, als daß Sie einige Worte des Dankes und der Anerkennung für den Kaiser in Ihr Mémoire aufnähmen, sei es am Schlusse oder in der Einleitung oder an einer sonst entsprechenden Stelle. – Eine solche Stelle, die ja an dem vollen und wahren Ausdruck Ihrer Grundsätze nichts änderte oder abschwächte, würde der Öffentlichkeit gegenüber die Garantie gegeben, daß Sie nichts gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung beabsichtigen, deren Schwerpunkt ja in dem Kaiser liegt.‹

Ich antwortete,« fuhr Bourdon fort, »daß ich keinen Grund habe, an dem hohen und sympathischen Interesse zu zweifeln, das der Kaiser an der Lage der Arbeiter nähme, indes müsse ich dem Minister bemerken, daß die internationale Assoziation keine Politik in keiner Richtung mache, und daß ich mich deshalb nicht für befugt erachten könne, meinerseits in einen solchen Zusatz zu unserer Denkschrift zu willigen, welcher zwar die in derselben ausgesprochenen Grundsätze nicht verändern, wohl aber – und das sei für uns von hoher Wichtigkeit – unsere volle Unabhängigkeit in Zweifel stellen könne. Ich müsse daher, und dazu sei ich gern bereit, diese Frage dem Pariser Zweig der Assoziation vorlegen – und dies, meine Freunde,« sagte er, das Auge auf den Kreis der Zuhörer richtend, »tue ich hiermit. Ich frage euch, wollt ihr die Erlaubnis der öffentlichen Verbreitung unserer Denkschrift in Frankreich durch den Ausdruck einer öffentlichen Anerkennung für den Kaiser erkaufen? – denn darum handelt es sich einfach – der Minister hat mich deutlich verstehen lassen, daß seine Erlaubnis der Verbreitung nur um diesen Preis zu erlangen wäre.«

Eine unruhige Bewegung machte sich in der Versammlung bemerkbar, doch ließ sich keine deutliche Ansicht vernehmen, jeder sprach zu seinen Nachbarn, die Stimmen wogten unverständlich durcheinander.

»Meine Freunde,« rief Tolain, »laßt mich, euren Vorsitzenden, zunächst meine ganz persönliche Ansicht über diesen Fall aussprechen. Mit Recht,« fuhr er fort, als eine allgemeine aufmerksame Ruhe wieder eingetreten war, »hat unser Freund Bourdon dem Minister gegenüber unseren ersten und wichtigsten Grundsatz betont, daß die internationale Assoziation keine Politik macht, doch bin ich zweifelhaft, ob dieser Grundsatz auf den vorliegenden Fall angewendet werden könne. Der Kaiser ist der durch die allgemeine Volksabstimmung erwählte Souverän unseres Landes –«

Ein Murren würde hie und da vernehmbar – Toulain schien es zu überhören.

»Es ist bekannt,« fuhr er fort, »daß er stets mit hohem Interesse die Arbeiterfragen verfolgt hat, er hat stets bewiesen, daß er den Wert der produktiven Arbeit zu schätzen weiß –«

»Cayenne!« rief eine Stimme.

»Warum also,« sprach Tolain mit unerschütterlicher Ruhe weiter, »warum sollten wir diese bekannte Tatsache, welche wir bei jedem Privatmanne anerkennen würden, nicht mit einigen Worten bei dem erwählten Oberhaupte der französischen Regierung dankend erwähnen? Ich würde nach meiner Überzeugung darin keinen Übergriff auf das politische Gebiet erblicken, doch,« fügte er hinzu, »ich bitte, daß die Rücksicht auf mich und diese meine rein persönliche Überzeugung keinen von euch in seiner Ansicht bestimmen möge – beschließt nach eurem Gewissen, was ihr unserer Sache für nützlich haltet, und erlaubt mir nur noch zu bemerken, daß es für die Verbreitung unserer Ideen allerdings von hoher Wichtigkeit ist, unsere Denkschrift öffentlich und unbehindert in Zirkulation setzen zu dürfen.« Er schwieg. Jetzt wurden die Stimmen lauter.

»Der Kaiser hat allerdings viel für uns getan, er hat sich oft als Freund der Arbeiter gezeigt!« rief man hier. – »Was?« ertönte es auf der anderen Seite, »wir sollen Polizeiagenten sein, wir sollen dem danken, der unsere Brüder auf der Straße niedergeschossen hat?« – »Nieder mit Badinguet! Kein Wort für ihn!« – »Wenn der Kaiser nicht für uns wäre, hätte man uns längst aufgelöst!« rief man dagegen, »das verdient wohl ein Wort der Anerkennung!« Die Stimmen schwirrten durcheinander, doch schien die Mehrzahl – wenn auch nur durch Stillschweigen – sich auf die Seite des Einverständnisses mit den Wünschen des allmächtigen Staatsministers zu neigen.

Da erhob sich Varlin – ein düsteres Feuer blitzte aus seinen Augen, ein Ausdruck von grimmigem Haß und Hohn zuckte um seine Lippen, er streckte die Hand gegen die Versammlung aus, und rasch trat rings die Ruhe ein –, es lag wie ein gebieterischer Befehl auf diesem willensmächtigen Gesicht, das da plötzlich aus seiner Verschlossenheit heraustrat. Jedermann wollte hören, was Varlin sagen werde.

»Meine Freunde,« begann er mit ruhiger, kalter Stimme, welche nicht mit der Erregung seiner Züge in Übereinstimmung zu stehen schien und welche nur durch ihren gepreßten, von starkem Willenszwange zurückgehaltenen Ton auf die Gärung in seinem Innern schließen ließ, »meine Freunde, ich kann nicht mit der Ansicht unseres vorsitzenden Schriftführers übereinstimmen, daß die von dem Minister Rouher gewünschte Danksagung für den Chef der gegenwärtigen Staatsgewalt ein Akt wäre, der nichts mit der Politik zu tun hat. Ich würde seine Ansicht vielleicht teilen oder mich derselben stillschweigend anschließen, wenn der Chef der Staatsgewalt der verfassungsmäßig erwählte Präsident einer Republik oder selbst wenn er der althistorisch legitime Monarch einer festbegründeten Monarchie wäre, dann stände er als der verkörperte Vertreter des Gesetzes und der Ordnung über den Parteien und den politischen Kämpfen. – Aber, meine Freunde,« rief er mit lauter, schneidender Stimme, »ist derjenige, für welchen hier von uns eine Anerkennung seiner Fürsorge für den Arbeiterstand verlangt wird, ist dieser Mann, welcher das Schicksal Frankreichs in seiner unsicher schwankenden Hand hält, ist er der Vertreter des Gesetzes? Er, der allem Gesetz zum Trotz die Republik, der er seinen Eid geschworen hatte, schmählich und heimtückisch meuchelmordete, während er, ihr erster Beamter, sie hätte schützen und verteidigen sollen! – Ist er ein Vertreter des Gesetzes, der ruhige und brave Bürger mit Kanonen zusammenschießen ließ, um diejenigen einzuschüchtern, welche nicht wie er den Eid brechen wollten, den er der Republik geleistet? Er – der nach der Laune seines despotischen Willens so viele unserer Freunde in die giftigen Sümpfe der fernen Kolonien verbannte! Ist er der Erwählte des Volks, der durch die in Blut gebadete, durch die Bajonette zu zähneknirschender Ruhe niedergetretene Nation die Komödie der allgemeinen Abstimmung aufführen ließ? Ist er der legitime Monarch, der berufene Vertreter Frankreichs, der, um von dem russischen Autokraten sich »mein Bruder« nennen zu lassen, die Söhne Frankreichs in der Krim zu Tausenden opferte, der sie abermals nutzlos in Mexiko schlachten ließ, um die schmutzigen Taschen seiner großen Börsenspekulanten auf Kosten Frankreichs mit blutigem Golde zu füllen, und,« fügte er mit zischendem Hohnlachen hinzu, »der im vorigen Jahre, als wirklich Frankreichs Macht und Stellung in Europa auf dem Spiel stand, untätig zusah, wie Deutschland unter die Herrschaft des berufsmäßigen Militarismus getreten wurde? – Nein, meine Freunde, nein, dies ist keine gesetzliche Regierung, keine Vertreterin der Gesellschaftsordnung – es ist Mandrin mit seiner Bande, welche sich in den Besitz der Autorität des Staates gesetzt hat, und diese Autorität mißbraucht zu Raub und Plünderung!«

Ein eisiges Stillschweigen lag auf der Versammlung, entsetzt hörten alle diese Männer die furchtbaren Worte des Redners, welcher so von der Macht sprach, vor welcher Europa sich beugte, deren eiserne Hand über ihren Häuptern ruhte, und welche mit einem Augenwink jeden von ihnen dem Verderben preisgeben konnte.

Varlin hielt einen Augenblick inne – seine vor heftiger Erregung fast verzerrten Züge nahmen ihren kalten, verschlossenen Ausdruck wieder an, und mit ruhigerer Stimme sprach er weiter:

»Das ist meine Meinung – ich muß sie aussprechen, um meine Ansicht zu begründen. Ich will darum keine Feindseligkeiten gegen die Regierung, die uns schaden und im jetzigen Augenblick erfolglos sein würden, gehen wir unseren Weg und überlassen wir sie dem ihrigen – der sie sicher zu dem elenden Untergang führen wird, den sie verdient. Aber,« fuhr er mit erhöhtem Ton fort, »ich kann nicht zugeben, daß eine dankende Anerkennung – dieser Regierung ausgesprochen – keine Politik sei. Durch einen solchen Ausspruch würden wir, die Vertreter des wahren, des arbeitenden Volkes, alle ihre Verbrechen sanktionieren, wir würden uns mit dieser Regierung identifizieren – wir würden uns zu Agenten ihrer Polizei machen – wir würden uns mißbrauchen lassen, damit man von den Tuilerien aus zu den Fürsten Europas sprechen könnte: ›Seht, ich bin der wahrhaft legitime Souverän, denn hinter mir steht das wirkliche Volk, hütet euch, denn ich kann die Revolution entfesseln, ohne von ihr verschlungen zu werden – sie dient mir – sie wird für mich streiten!‹ – damit man zu der Bourgeoisie und zu der Opposition im Corps législatif sprechen könnte: ›Ich bin der wahre Schützer der Gesellschaftsordnung, denn ich halte den Schlüssel der sozialen Zukunft in Händen, ich habe die Macht, die Zukunftsentwicklung ruhig und gefahrlos zu lenken, hütet euch, daß ich diese Zukunft nicht in gewaltigem Drange plötzlich über euch hereinbrechen lasse – ich darf das wagen, denn die Brandung, die euch verschlingen würde, schlägt, meinem Winke gehorsam, vor den Stufen meines Thrones nieder!‹ – das, meine Freunde, ist die Politik, die wir machen würden, wenn wir die Anerkennung und Dankbarkeit aussprächen, welche man von uns verlangt; wir haben aber zum Grundsatz erhoben, keine Politik zu machen, am allerwenigsten also diese, denn sie wäre eine Politik des Verbrechens, der Torheit – und der Schande!«

Er setzte sich nieder und blickte mit vorgesenktem Kopfe still vor sich hin. Eine Bewegung entstand in der Versammlung, die fast ein Tumult war. »Varlin hat Recht!« rief man hier, »wir wollen nichts mit der Regierung zu tun haben, es wäre eine Schande, ein Verrat an unsern Brüdern!« – »Der Kaiser ist uns freundlich gesinnt,« riefen andere, »wir wollen nichts gegen ihn tun, er hat die Macht, uns zu verderben, er allein schützt uns gegen die Geldmänner!«

Tartaret sprang auf. »Nichts für die Regierung!« rief er überlaut, »soll man von uns sagen, daß Geld der Polizei unter uns gesteckt sei, daß wir Emissäre des Palais Royal seien? Wir wollen keine Plonploniers

»Keine Plonploniers, keine Plonploniers!« rief man hier, »Nichts gegen den Kaiser!« auf der andern Seite, Gruppen bildeten sich – finstere und drohende Blicke flogen herüber und hinüber.

Bei dem Ruf: »keine Plonploniers!« wurde Tolain bleich wie der Tod. Seine Lippen bebten, er winkte mit der Hand.

»Meine Freunde,« rief er, »ich bitte euch, keine Erregung, keine Spaltung, um der heiligen Sache willen, der wir alle dienen, beschwöre ich euch!« Eine augenblickliche Ruhe trat ein.

»Ich war der Ansicht,« sagte Tolain, mühsam seine innere Bewegung niederdrückend, »daß der kleine Zusatz zu unserer Denkschrift nicht die Natur einer politischen Kundgebung habe, ich sehe, daß unser Freund Varlin und viele unter euch anderer Ansicht sind, um keinen Preis soll diese Frage Zwietracht unter uns säen, ich trete Varlins Ansicht bei.«

»Bravo, bravo!« riefen viele Stimmen. Ein dumpfes Murren erhob sich unter den kaiserlich Gesinnten.

»Ich glaube auch nicht,« fuhr Tolain fort, »daß eine Verweigerung der gewünschten Ergänzung unserer Denkschrift als eine Feindseligkeit gegen den Kaiser und seine Regierung erscheinen müsse. Unser Freund Bourdon hat dem Staatsminister bereits gesagt, daß es der oberste Grundsatz der internationalen Assoziation sei, keine Politik zu machen, halten wir diesen Grundsatz fest – bitten wir Bourdon, daß er in aller Freundlichkeit und Ehrerbietung Herrn Rouher erkläre, nach Beratung mit seinen Freunden könne er sich nicht entschließen, in diesem Falle eine Ausnahme von jenem allgemeinen Grundsatz zu machen.«

Bourdon neigte zustimmend den Kopf.

»Aber dann wird unsere Denkschrift nicht verbreitet werden!« rief eine Stimme.

Tolain lächelte ruhig. »Ich glaube doch,« sagte er, »man kann sie in einem in London in französischer Sprache erscheinenden Journal, dessen Eingang in Frankreich bis jetzt nicht verboten ist, abdrucken lassen, und auf diesem Umwege wird sie schnell und sicher in aller Hände sein!«

Varlin erhob den Kopf und reichte Tolain die Hand.

Die Ruhe in der Versammlung stellte sich wieder her, niemand bemerkte weiter etwas.

Die Eingangstür öffnete sich – George Lefranc trat ein, zeigte dem alten Buchhändler Héligon seine Karte, derselbe verglich deren Namen mit den Listen und nickte schweigend mit dem Kopf. Der junge Arbeiter setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, den die Umsitzenden, ihn freundlich begrüßend, ihm einräumten. Der junge Mann blickte mit seinen tiefen, sinnenden Augen vor sich hin wie in stille Träumerei versunken, auf seinem bleichen Gesicht lag etwas wie ein Schimmer der Verklärung; es schien, als ob er wie mechanisch in diese Versammlung gekommen sei und kaum wisse, wo er sich befinde.

»Ich gehe zum nächsten Gegenstande über, mit dem wir uns zu beschäftigen haben,« sprach Tolain. »Die Arbeiter in den großen Schneidermagazinen haben eine Erhöhung ihres Lohnes gefordert und die Arbeit eingestellt. Sie wenden sich an uns mit der Bitte um moralische und, wenn es sein kann, materielle Unterstützung, um ihren Streik durchzuführen, dagegen wollen sie sämtlich der Assoziation beitreten. Wir haben die Sache geprüft und erwogen. Keiner jener Arbeiter ist bisher Mitglied unseres Vereins gewesen, ihre Lage ist eine verhältnismäßig gute und wir haben die Überzeugung gewonnen, daß es nicht sowohl eine berechtigte Notwendigkeit ist, welche jetzt ihr Handeln bestimmt, als der Wunsch, ihren Anteil an der Ausbeutung der zur Weltausstellung in Paris zusammenströmenden Fremden zu gewinnen. Wir glauben nicht, daß es im Interesse des Arbeiterstandes im allgemeinen liegt, diesen Streik zu unterstützen, und können auch nicht annehmen, daß der Eintritt jener Arbeiter in unsern Verein aus augenblicklichen und eigennützigen Motiven uns Nutzen bringen werde. Deshalb schlagen wir Euch vor, das Gesuch zurückzuweisen.«

»Zurückweisen – zurückweisen!« rief man allgemein, »sie wollen uns benützen, um ihre Taschen zu füllen, mögen sie allein sehen, wie sie fertig werden!«

»Unser Beschluß ist also gefaßt!« sagte Tolain.

»Doch nun, meine Freunde,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »kommen wir zu einer Angelegenheit, welche von höherer Bedeutung ist, und in welcher die internationale Assoziation die Aufgabe hat, frei und rücksichtslos vor aller Welt sich zu einer großen Wahrheit, welche das Fundament unserer Bestrebungen bilden muß, zu bekennen!«

Unter einer allgemeinen, tiefen Stille sprach er weiter: »Ihr werdet wohl alle, meine Freunde, von den Vorfällen in Roubaix gehört haben –«

»Ja wohl, ja wohl,« rief man von allen Seiten, »das ist ein tüchtiger Streich gegen die Tyrannen vom Kapital! – diesmal werden sie es empfinden!« –

Tolain ließ seinen Blick ernst und streng über die Versammlung streifen. »Die Arbeiter von Roubaix,« sagte er, »waren mit verschiedenen Bestimmungen der Fabrikordnung nicht einverstanden, sie stellten die Arbeit ein, um deren Änderung zu erzwingen, sie waren dabei in ihrem Recht. – Aber, meine Freunde,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »jene Arbeiter waren auch unzufrieden mit einer Verbesserung der Maschinen, welche erlaubte, bei geringerer Arbeitskraft bessere Erzeugnisse zu schaffen, und sie haben sich zu Exzessen hinreißen lassen, sie haben die Maschinen zertrümmert, die Fabriken verbrannt, und damit die Sache des Arbeiterstandes schwer kompromittiert, diese heilige uns allen gemeinsame Sache mit einem schwarzen, schlimmen Flecken beschmutzt!«

»Und hatten sie nicht Recht, ihre Macht zu zeigen und zu gebrauchen?« rief eine Stimme mit energischem, trotzigem Ton.

»Nein,« sagte Tolain, »sie hatten nicht Recht, sie hatten tausendmal Unrecht, denn sie haben einen Akt des Vandalismus ausgeübt gegen die Maschine, diese herrlichste Erfindung des Menschengeistes, welche die produktive Arbeit zu immer größeren Dimensionen entwickelt und damit auch den Wert und die Notwendigkeit der menschlichen Arbeitskraft erhöht, dieser durch eigenen intelligenten Willen bewegten Maschine, welche trotz allen Fortschritts der Mechanik durch kein Werkzeug zu ersetzen ist; sie haben Unrecht, weil sie bei allen denkenden und rechtlichen Menschen Zweifel an der Gerechtigkeit unserer Sache erweckt haben, weil sie alle Freunde der Ordnung und Sicherheit gegen uns in die Schranken rufen! Wir haben beschlossen,« fuhr er den Kopf hoch aufrichtend und mit stolzem und kühnem Blick die Versammlung überschauend fort, »eine Proklamation zu erlassen, welche einen ernsten Tadel gegen das Vorgehen der Arbeiter von Roubaix ausspricht und uns vor der Welt öffentlich von einer moralischen Mitschuld an solchen Akten barbarischer Gewalttätigkeit reinigt. Diese Proklamation enthält zwei Sätze: –«

»Wir wollen keine Proklamation,« rief Tartaret, »die Arbeiter von Roubaix üben ihr Recht aus, man hat die Polizei, man hat Soldaten gegen sie gehetzt, wenn sie sich verteidigt haben, so trifft die Schuld diejenigen, welche zuerst die Gewalt zu Hilfe gerufen haben, wir dürfen unsere Brüder nicht verleugnen, wir können jeden Tag in die gleiche Lage kommen, wir wollen keine Polizeidienste tun!«

Tolain sprang auf.

»Es ist wider die von uns selbst festgestellte Ordnung,« rief er mit zitternder Stimme, »es verletzt die Achtung, die wir uns selbst schuldig sind, wenn ihr den Vortrag und die Mitteilungen eures Vorsitzenden unterbrecht!« –

»Hört ihn, hört ihn ruhig an, wir werden dann sehen,« rief man von mehreren Seiten, Tartaret schwieg.

»Unsere Proklamation,« rief Tolain, »erklärt, daß die wirtschaftliche Frage der Anwendung von Maschinen in der Fabrikproduktion sofort den Gegenstand ernster Untersuchung seitens der internationalen Assoziation bilden solle, der Verein stellt dabei seinerseits den Grundsatz auf, daß der Arbeiter das bestimmte Recht auf Erhöhung des Lohnes habe, sobald eine neue Maschine eine Vermehrung oder Verbesserung der Produktion ermögliche.«

»Gut – vollkommen richtig,« rief man, »nach diesem Grundsatz handeln auch die Weber von Roubaix.« –

»Dann aber,« sprach Tolain auf das Blatt in seiner Hand blickend weiter, »soll unsere Proklamation den Arbeitern von Roubaix sagen: ›Mögt ihr noch so vielen Grund haben, euch zu beklagen, mögen eure Forderungen noch so gerecht sein, wie wir glauben, daß sie es sind, hört auf uns und glaubt uns: die Maschine, das Werkzeug der Produktion, muß unverletzbar heilig sein für jeden Arbeiter, hört auf uns und glaubt uns: Gewaltakte, wie ihr sie begangen, kompromittieren eure Sache und diejenige des ganzen Arbeiterstandes – sie liefern Waffen allen Verleumdern unserer Bestrebungen und allen Feinden der Freiheit.« –

Er schwieg.

»Das heißt,« rief Tartaret, »ihr habt Recht, aber ihr dürft euer Recht nicht verfolgen! das heißt die Geschäfte der Polizei besorgen, eine solche Proklamation ist für die Regierung eine Armee in jenen Distrikten wert! Fragt man uns gegenüber,« fuhr er noch lauter fort, »so ängstlich nach den seinen Distinktionen des Rechts und des Unrechts? – Man besinnt sich nicht lange – man schlägt. – Wohlan, sollen wir unsere Brüder verhindern, zu schlagen, wo wir doch anerkennen, daß ihre Forderungen gerecht sind? Glaubt ihr, daß mit Worten und Phrasen die Mauern umgestürzt werden, welche uns die Welt des Lebensgenusses, des Genusses der Früchte unserer Arbeit verschließen? Je schneller und je schärfer geschlagen wird, um so schneller wird Licht in die Situation kommen. Wir dürfen diese Proklamation nicht erlassen!«

Eine ungeheure Bewegung entstand. Alles erhob sich und sprach durcheinander, man konnte die einzelnen Stimmen nicht mehr unterscheiden, die einzelnen Worte nicht mehr verstehen.

Tolain blickte traurig auf die stürmisch-bewegte Versammlung – sein Auge richtete sich wie hilfesuchend auf Varlin.

Varlin saß da mit unbeweglichen Zügen und niedergeschlagenen Augen – er schwieg.

Da trat langsamen Schrittes George Lefranc an den Tisch des Vorstandes. Er erhob die Hand zum Zeichen, daß er sprechen wolle, seine Blicke leuchteten, seine Züge waren von hoher Begeisterung belebt, unwillkürlich schwiegen die hin und her Streitenden beim Anblick dieses jungen Mannes mit dem gebietend ausdrucksvollen Gesicht, neugierig, was er, der noch nie hier gesprochen, zu sagen haben würde.

Tolain sah ihn erstaunt an, Varlin erhob von unten herauf einen Augenblick sein scharfes Auge zu ihm.

»Meine Freunde,« rief George mit lauter, den Raum voll durchdringender Stimme, »hört mich an, mich, einen der Jüngsten unter euch, der nichts in der Welt hat, als seine Arbeit und die Hoffnungen seiner Zukunft, je jünger ich bin, um so höheren Wert haben diese Hoffnungen für mich, um so mehr bin ich berechtigt, für sie und ihre Erfüllung zu sprechen.«

Die Ruhe stellte sich nach diesen Worten vollständig wieder her, jedermann hörte zu.

»Wofür arbeiten, wonach streben wir, meine Freunde?« sprach der junge Wann weiter, »wir wollen, wir, die wir alles hervorbringen durch die Arbeit unserer Hände, was zum Genusse, zur Verschönerung des Lebens gehört, wir wollen unsern Teil an diesem Genuß, wir wollen unsern Platz in dem Gebiet der edlen Freuden des Geistes und des Herzens, welche bisher diejenigen, die nicht arbeiten, für sich allein in Anspruch nahmen. Wir wollen die Bildungsmittel – wir wollen die Wissenschaft und Kunst für uns erobern, wir wollen vor allem,« sagte er mit warmer Betonung, »das Recht und den Raum uns erwerben zur Gründung der eigenen Heimat, des eigenen Herdes, wir wollen dahin kommen, daß der Ertrag der Arbeit nicht bloß die Maschine unseres Körpers erhalte, sondern uns auch die Mittel gebe, uns freundliche, reizvolle Heimstätten zu bereiten.«

Es klang wie ein leichtes, höhnisches Lachen aus den Reihen der Versammelten hervor. – »Still, still,« riefen andere Stimmen, »er hat Recht, hört ihn!«

»Ich frage euch alle,« rief George, »ist das nicht die Hoffnung, die euch belebt, der Gedanke, der euch bewegt? Ihr, meine älteren Freunde, treibt euch bei dem Werke unserer Assoziation nicht der Schmerz, daß ihr der Gründung des eigenen Herdes habt entsagen müssen, oder der noch größere Schmerz, daß ihr an diesem Herde, den ihr so gern mit den reinen Blüten der Freude geschmückt hättet, den Druck der Armut und Entbehrung noch bitterer habt empfinden müssen, weil dieser Druck nicht auf euch allein, sondern mit euch auf geliebten Wesen lastete? Wollt ihr, da ihr selbst so schwer gelitten habt, jetzt nicht dafür kämpfen, daß folgende Generationen den Schmerz nicht erleben müssen, den ihr durchgekämpft habt in stiller, knirschender Entsagung?«

»Ja – ja,« rief es hier und da in bewegtem Tone.

»Und ihr, meine Altersgenossen,« fuhr der junge Mann mit glühenden Blicken fort, »mögt ihr nun in bestimmten Zügen ein teures Bild im Herzen tragen, oder mögt ihr nur ganz allgemein das Weben des reinen und heiligen Liebesgeistes in euch fühlen, der die geschaffene Welt durchzieht, ist es nicht die Sehnsucht, die Hoffnung, eine Heimat auf festerem Fundament zu bauen, sie zu schmücken mit dem Reiz einer vom Druck der Armut freien Häuslichkeit, euer Weib, eure Kinder zu umgeben mit des Lebens einfachen, reinen Freuden, ist es nicht diese Sehnsucht, diese Hoffnung, die euch treibt zum ernsten und unermüdlichen Kampfe um eure Befreiung aus dem Druck eurer gegenwärtigen Lage?«

»Ja – ja – ja – so ist es,« riefen lautere und zahlreichere Stimmen rings umher.

»Nun denn, meine Freunde,« sprach George weiter, »wenn das euer Streben ist, wie es das meinige ist, wie es das jedes braven und redlichen Arbeiters sein muß, kann dies Ziel erreicht werden, wenn die Arbeiter in erklärlichem, aber ungerechtem Zorn zerstören statt zu bauen, wenn sie die heiligen Werkzeuge der produktiven Arbeit zerschlagen und verbrennen, wenn sie die Welt zertrümmern, in welcher sie sich den Platz erkämpfen wollen, um ihre Heimat zu bauen? Wenn wir die Welt zur Wüste machen, wo sollen wir die Stätte finden für die glückliche Zukunft, nach welcher wir ringen? Nicht der sinnlose und unfruchtbare Haß darf uns leiten zur Vernichtung dessen, woran wir keinen Teil haben, in ruhigem, überlegtem und geduldig kraftvollem Streben müssen wir den Anteil uns erkämpfen, der uns jetzt versagt ist. – Darum müssen wir um unseres künftigen Glückes, um unserer künftigen Heimatsberechtigung willen in der Welt des edlen Lebensgenusses die rohe Gewalttat verdammen, wir müssen laut vor der Welt unser Urteil und Bekenntnis aussprechen – und ich, meine lieben Freunde, ich bitte euch aus tiefem, überzeugungsvollem Gefühl meines Herzens, wie unsere Vorsitzenden euch aus klugen und wohlüberlegten Gründen des Verstandes gebeten haben: nehmt die vorgeschlagene Proklamation an!«

Tartaret wollte noch einmal sprechen – aber er wurde übertäubt von den lauten Zustimmungsrufen, die von allen Seiten den Worten des jungen Arbeiters folgten, viele eilten zu ihm heran und drückten ihm die Hände.

Tolain erhob sich.

»So seid ihr denn einverstanden mit unserer Proklamation an die Arbeiter von Roubaix?«

Ein lautes, fast einstimmiges Ja ertönte – die wenigen Andersdenkenden schwiegen – sie mochten es für überflüssig halten, bei dieser Stimmung der Versammlung ihre Meinung auszusprechen.

Tolain nahm die Proklamation, deren Ausfertigung auf dem Tische lag, und setzte darunter die Wort: »Im Auftrage der pariser Kommission«. Dann schrieb er seinen Namen und reichte die Feder Varlin.

Varlin ergriff sie schweigend, ohne ein Wort zu sprechen, setzte er seinen Namen neben denjenigen Tolains. Der dritte Schriftführer Fribourg unterzeichnete nach seinen beiden Kollegen.

Tolain erklärte die Gegenstände der Besprechung für erschöpft, die Versammlung für geschlossen.

In laut diskutierenden Gruppen gingen die Arbeiter aus dem Hause und zerstreuten sich bald in die nächsten Straßen.

Einsam schritt George durch die Nacht hin, lächelnd und glücklich – und leise flüsterte er vor sich hin:

»Eine Heimat – ein Herd – ein Weib!«


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