Oskar Meding
Europäische Minen und Gegenminen
Oskar Meding

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Die Fenster des dritten Stockwerkes eines Hauses am Ende des Boulevard du Temple waren um die zehnte Abendstunde eines der letzten Maitage hell erleuchtet und vor der Tür des hohen, nicht besonders ansehnlichen Hauses hielten nach einander Fiaker, auch einzelne elegante Coupés, aus denen Damen in bunten Toiletten, Herren im Salonanzuge ausstiegen, und durch den schmalen, schlecht erleuchteten Hausflur sich den gewundenen Treppen ohne Teppiche zuwendeten, welche in die oberen Stockwerke führten. War man von dem Licht einzelner an den Treppenwänden befestigter Petroleumlampen bis zur dritten Etage gelangt, so befand man sich einer Glastüre gegenüber, welche heute geöffnet war und den Einblick in einen ziemlich dunkeln und engen Vorplatz gestattete, in welchem Herrenüberröcke und Damenschals in ziemlich bunter Unordnung teils aufgehängt, teils über Stühle geworfen waren, und die dumpfe Luft des kleinen Raumes war durchzogen von einem Gemisch jener starken Parfüms, welche von der guten Gesellschaft sorgfältig vermieden werden.

Durch die niedrigen Flügeltüren, welche von diesem Vorplatz in die inneren Räume der Wohnung führten, drang jenes verworrene Geräusch, welches die Unterhaltung einer größeren Gesellschaft hervorbringt.

Auf dem Vorplatz selbst stand einer jener Lohnlakaien, welche man unter dem stolzen Namen maîtres d'hôtel in den kleinen pariser Häusern engagiert, um einen »Empfangsabend« würdig herzustellen. Dieser maître d'hôtel machte mit einem den Umgebungen, in welchen er sich befand, entsprechenden, ziemlich an den Kellner eines geringeren Restaurants erinnernden Anstand die Honneurs der dramatisch-musikalischen Soiree, welche die Dame des Hauses, die sich Marquise de l'Estrada nannte, bei sich vereinigte.

In rauschender, schwerer Seidenrobe, die üppige Menge falschen Haares mit Federn und Bandschleifen geschmückt, glänzende Geschmeide mit großen Steinen von äußerst zweifelhafter Echtheit um Hals und Arme, schritt Frau Lukretia Romano in den Vorsaal. Sie hatte bereits auf der Treppe ihre weite, dunkle Mantille abgenommen und warf sie dem ihr entgegentretenden Lohndiener zu, indem sie vor den durch zwei dünne Kerzen erleuchteten Spiegel trat und einen Blick auf ihre mehr glanzvolle als frische Toilette und ihr in den lebhaftesten Farben gemaltes Gesicht mit den durch seine, schwarze Striche unter den Wimpern noch greller hervortretenden, dunkeln Augen warf.

In wunderbarem Kontrast zu dieser mit selbstbewußter Sicherheit auftretenden Dame stand die ätherisch einfache Erscheinung ihrer Tochter Julia, welche hinter ihr den Vorplatz betrat und deren distinguierte Schönheit und Eleganz selbst den maître d'hôtel erstaunt aufblicken ließ, welcher eine derartige Erscheinung in den Häusern, deren Gesellschaft er zu empfangen gewohnt war, nicht häufig sehen mochte.

Das junge Mädchen hatte die glänzenden Flechten ihres mit äußerster Einfachheit geordneten, schwarzen Haares nur mit einer einzigen, kleinen, roten Schleife geschmückt, ein duftig frisches, weißes Kleid mit feinen, kaum sichtbaren, roten Streifen umschloß ihre schlanke Gestalt, und um Schultern und Arme wallte ein leichter Umhang von feiner Seidengaze.

Statt allen Schmuckes trug sie ein kleines, goldenes Medaillon an einem schmalen Bande von der Farbe ihrer Haarschleife.

Zögernd und schüchtern trat sie auf den Vorplatz und legte ihren weiten, faltigen Burnus auf einen Stuhl nieder, ihr scheuer Blick umfaßte diese ganze so wenig vornehme und so wenig elegante Umgebung und senkte sich dann zu Boden, während eine schnelle, flüchtige Röte ihre Wangen überflog. Stumm wartete sie, bis ihre Mutter die Inspektion ihrer Toilette vollendet hatte, ohne ihrerseits Miene zu machen, deren Beispiel zu folgen, der Lohndiener öffnete die Flügel der mittleren Türe, nachdem er seine Instruktion über die Namen der Angekommenen erhalten, und rief mit einer schnarrenden Kehlstimme: »Madame Lukretia Romano und Mademoiselle Julia Romano.«

Frau Lukretia rauschte über die Schwelle eines kleinen, von Menschen erfüllten Salons, dessen heiße, ausgeatmete und von starken Parfüms durchzogene Luft eine betäubende Dunstwolke auf den Vorplatz hinaussendete, zitternd, mit niedergeschlagenen Augen folgte ihre Tochter.

Der Salon war durch eine Anzahl dünner Stearinkerzen ziemlich hell erleuchtet, große Goldrahmen blinkten von den Wänden, bunte Vasen mit künstlichen Blumen und Pfauenfedern standen auf dem Kaminsims, und in diesem ganzen Ensemble bewegte sich eine zahlreiche, plaudernde und lachende Gesellschaft, deren einzelne Gruppen die merkwürdigsten und wunderbarsten Kontraste zeigten. – Da waren junge Herren, gekleidet in jener so schwer zu erreichenden, natürlichen Einfachheit der höchsten Eleganz, mit jener so leichten, ungezwungenen Tournüre, welche nur die Gewohnheit der besten Gesellschaft zu geben vermag, daneben sah man junge Damen von jener eigentümlichen Freiheit des Benehmens, jener äußersten Extravaganz der Toiletten, welche man in Paris nur in jener ganz besondern Sphäre findet, die man die Halbwelt zu nennen übereingekommen ist, und die, während sie die wirkliche Welt in ihren Äußerlichkeiten nachzuahmen sich bemüht, ihrerseits leider dieser wirklichen Welt in ihrem inneren Wesen nur zu oft als Beispiel dient.

An den Wänden her saßen ältere Damen in steifer Haltung und angetan mit Roben, deren schweren und kostbaren Stoffen der Reiz der Neuheit langst fehlte; sie gaben sich alle Mühe, ihre Stellung als Mütter und Tanten mit entsprechender Würde auszufüllen, während ihre Töchter und Nichten, in tiefe, niedrige Fauteuils zurückgelehnt, mit der Miene von Königinnen sich von den sie umringenden, jungen Herren unterhalten ließen, bald mit einem leichten Lächeln der hochmütig aufgeworfenen Lippen ein Bonmot belohnend, bald mit einem leichten Fächerschlag einen zu kühnen Scherz lächelnd zurückweisend.

Rechts und links sah man zwei kleinere Salons, in einem derselben ein Pianino mit angezündeten Kerzen.

Bei dem Eintritt der Madame Lukretia und ihrer Tochter richteten die Herren ihre Lorgnons auf die Eintretenden, während die jungen Damen sie mit leicht hingleitenden Blicken aus den halbgeöffneten Augen streiften.

Eine ziemlich korpulente Dame mit markierten Zügen in tiefrotem Damastkleide, mit einem turbanartigen Kopfputz, erhob sich von einem Divan, auf welchem sie in der Mitte des Salons saß, und trat den Ankommenden einige Schritte entgegen. An ihrer Seite befand sich Herr Mireport, der Bühnenagent, welcher Madame Lukretia so eifrig beigestanden hatte, um ihre Tochter zu überreden, daß sie sich der Bühne widmen möge; er trug einen schwarzen Salonanzug, dessen extrem modischer Schnitt ein wenig mit seinem verwitterten Gesichte kontrastierte, und im Knopfloch seines Fracks eine kleine Rosette von einer ziemlich unbestimmten, roten Farbe mit kaum sichtbarer, dunkler Einfassung, welche bei Abendbeleuchtung und in einiger Entfernung wohl für die Ehrenlegion angesehen werden konnte.

Herr Mireport eilte mit großem Eifer den eintretenden Damen entgegen und sprach, indem er sich mit theatralischem Anstande zunächst gegen Frau Lukretia und dann gegen die Dame des Hauses verbeugte:

»Ich habe die Ehre, bei Frau Marquise de l'Estrada Madame Lukretia Romano vorzustellen, eine Dame aus dem Vaterlande der schönen Künste, welche den klassischen Boden Italiens verlassen hat, um hier in Paris die Ausbildung ihrer Tochter zu vollenden, die, wie ich überzeugt bin, bestimmt ist, eine hervorragende Künstlerin zu werden.«

Und indem er dem jungen Mädchen, das hinter ihrer Mutter stand, die Hand reichte, zog er sie schnell in den freien Raum, welcher sich vor der Dame des Hauses gebildet hatte.

»Ich freue mich sehr,« sagte diese mit einer Stimme, deren Klang ein wenig an die Cafés chantants erinnerte, »daß Sie meine Einladung haben annehmen wollen, ich hoffe, Sie werden einige Kunstgenüsse finden, die zu den ersten in Paris zählen, und,« fuhr sie fort, indem sie sich zu Julia wendete, und deren ganze Gestalt mit einem scharfen Blick musterte, »ich freue mich ganz besonders, eine junge Dame kennen zu lernen, von deren ganz außergewöhnlichem Talent mir unser Freund Mireport so viel erzählt hat, ich hoffe, wir werden so glücklich sein, eine Probe davon bewundern zu können.«

Sie führte Madame Lukretia zu dem Divan, von welchem sie sich erhoben hatte, und lud sie ein, sich an ihrer Seite niederzulassen.

Julia stand allein, ein helles Rot brannte auf ihren Wangen, sie zitterte und wagte den Blick nicht aufzuschlagen, sie fühlte alle diese auf sie gerichteten Blicke, welche sie wie den Gegenstand einer Ausstellung musterten, ein unendlich peinliches und schmerzliches Gefühl überkam sie in dieser Gesellschaft, deren Atmosphäre ihr so fremd und antipathisch entgegenwehte, die sie nur mit Widerstreben auf das inständige Drängen ihrer Mutter zu besuchen sich entschlossen hatte und in welcher sie nun allein und isoliert dastand.

Es war fast ein Gefühl der Dankbarkeit, mit welchem sie die Hand des Herrn Mireport, des einzigen bekannten, wenn ihr auch sonst so wenig sympathischen Gesichts, ergriff und sich von ihm zu einem kleinen Sofa führen ließ, auf welchem eine junge Dame in reicher Toilette ihr neben sich Platz machte, während drei bis vier elegante, junge Herren ihren Kreis öffneten und mit leichter Verbeugung die neue Erscheinung begrüßten.

»Madame Pamela,« sagte Herr Mireport, »wird gewiß die Güte haben, einer jungen Novize bei ihrem ersten Schritt in die Welt freundlich die Hand zu reichen. – Madame Pamela,« fuhr er gegen Julia gewendet fort, »ist eine unserer ersten Künstlerinnen, gegenwärtig am Variététheater – und,« fügte er lächelnd hinzu, »glänzt so hell am Himmel der Kunst und der Schönheit, daß sie gewiß einen neuen Stern neidlos begrüßen wird, der, so hell er auch strahlen mag, ihr Licht niemals verdunkeln kann.«

Mit zufriedenem Lächeln über dies doppelte Kompliment, durch welches er glauben mochte, das Gleichgewicht zwischen den beiden Damen hergestellt zu haben, zog er sich zurück.

Madame Pamela, wie sie von ihren Vertrauten genannte wurde, Madame de St. Améthyste, wie ihre Domestiken sie titulierten, verneigte sich leicht gegen Julia, halb mit der Verbindlichkeit einer Dame von Welt, halb mit dem Ausdruck einer ziemlich impertinenten Neugier, und fragte, indem sie den Kopf ein wenig zurücklegte und ihren großen Fächer von Perlmutter und weißen Federn hin und her bewegte:

»Das Fräulein will sich ebenfalls dem Theater widmen?«

Julia vermochte kaum zu sprechen. Die Bestimmung, welcher ihre Mutter sie zuführen wollte, welche ihr in so hohem Grade widerstrebte, und welche sie mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hatte, wurde hier als etwas fest Beschlossenes, Abgemachtes hingestellt, während gerade an diesem Orte ihre ganze Natur mehr als je vor dem Wege zurückbebte, auf welchen man sie drängen wollte.

»Ich weiß nicht,« sagte sie leise mit unsicherer Stimme, »meine Mutter wünscht es, aber ich –«

»Nun,« rief Madame Pamela, »dann haben Sie Gelegenheit, meine Herren, Ihre Protektion einem jungen Talente zu schenken, ich hoffe,« fügte sie mit überlegenem Lächeln hinzu, »daß Sie Ihre alten Freundinnen nicht ganz vergessen werden, – Herr Charles,« sagte sie zu einem jungen, schlanken Mann, welcher in der Gruppe vor ihr stand, »ich empfehle Ihnen das Fräulein besonders, Sie sind ja frei in diesem Augenblick?«

»Meine Freiheit,« sagte dieser mit einem bewundernden Blick auf Julia, »wird nicht lange dauern, ich fühle schon die Kette, welche mich zum Gefangenen machen wird.«

»Wir werden alle unser Möglichstes tun, um dem Fräulein ein vortreffliches Debüt zu bereiten,« sagte ein Herr mit einem zierlichen Schnurrbart, der neben Madame Pamela auf einem niedrigen Tabouret sah, indem er sein goldenes Monokel ins Auge warf und das junge Mädchen forschend ansah.

»Sie nicht – Ungeheuer!« rief Madame Pamela, indem sie ihren Fächer zusammenfallen ließ und ihrem Nachbar einen nicht allzu zarten Schlag auf die Schulter versetzte. – »Nehmen Sie das Glas fort,« sagte sie in kurzem, scharfem Tone, »es schickt sich nicht, junge Damen so anzusehen, ich will das nicht!«

Lächelnd lehnte sich der junge Mann zu ihr hinüber, indem er sein Lorgnon aus dem Auge fallen ließ, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie zu versöhnen schien, denn mit einem noch halb schmollenden Blick lachte sie laut auf und sagte nach einem abermaligen Fächerschlag:

»Lügner – man ist zu gut gegen Sie, wenn man Ihnen glaubt!«

Julia saß schweigend mit gesenkten Augen da, kaum konnte sie ihre Tränen zurückhalten, tiefer Unwillen erfüllte sie, daß man sie unter der Vorspiegelung einer Künstlervereinigung in diese Gesellschaft geführt hatte. – Entsetzen überkam sie bei dem Gedanken, daß diese Gesellschaft der erste Schritt eines langen Weges sein sollte, den man sie zu gehen zwingen wollte, und daß dieser Weg eine Fortsetzung – und – ein Ende haben solle.

Sie hörte kaum die um sie her schwirrende Unterhaltung, die feurigen Komplimente, welche die Herren an sie richteten, und atmete erleichtert auf, als die Frau Marquise de l'Estrada der Gesellschaft ankündigte, daß ihre Nichten, die Fräulein Matoletti, einen Pianovortrag zu vier Händen dem so kunstverständigen Urteil der Versammlung darzubieten wagen würden.

Die beiden Fräulein Matoletti, junge Damen von sehr zuversichtlichem Auftreten – trotz der von ihrer Tante mehrfach erwähnten Schüchternheit – und von einem Dialekt, der nichts Ausländisches an sich hatte, sondern sehr entschieden an den Boulevard Montmartre erinnerte, rauschten in den Nebensalon und begannen auf dem nicht ganz rein gestimmten Pianino einen Vortrag, der sich mehr durch sein schallendes Fortissimo, als durch die Klarheit der Töne und durch den Zusammenklang der beiden Stimmen auszeichnete.

»Sie sind nicht übel,« sagte der Herr mit dem Schnurrbart, welcher neben Madame Pamela saß, »sind es wirklich Nichten von der Alten?«

»Ich finde, mein Herr Gaston,« erwiderte die schöne Pamela, »daß Sie heute ungeheuer neugierig sind, was die jungen Damen betrifft, ich finde es vor allem abscheulich von diesen beiden – Nichten, daß sie einen solchen unangenehmen Lärm auf diesem miserablen Piano machen, würde man noch etwas Lustiges spielen, aber diese Musik ist ja entsetzlich.«

»Eine musikalische Soiree,« sagte Herr Gaston lächelnd.

»Ah bah!« rief Madame Pamela mit jenem unnachahmlichen Tone, welchen nur die Pariserin hervorzubringen versteht. Die jungen Virtuosinnen hatten aufgehört, mehrere junge Herren traten zu ihnen, das Gespräch aber, welches sie mit Komplimenten über ihren Vortrag begannen, schien nach dem lauten Lachen und den einzelnen Worten, welche davon herüberdrangen, sich nicht um musikalische Gegenstände, sondern um die Verabredung einer Partie nach Asnières zu drehen.

»Diese miserable Sonate, mit der man unsere Ohren zerrissen hat,« sagte Madame Pamela lachend und achselzuckend, »hat sich doch als ein guter Angelhaken bewährt, dort beißen die Fische schon an!«

Und sie deutete mit dem Fächer auf einen Winkel des Salons, in welchem sich soeben die eine der beiden Fräulein Matoletti in eifrigem, flüsterndem Gespräch mit einem Herrn, dessen Äußeres den Fremden erraten ließ, auf einer Causeuse Platz nahm.

Die Frau Marquise de l'Estrada hatte mit ziemlich gleichgültiger Miene einige Komplimente über das Spiel ihrer Nichten von einigen der älteren Damen entgegengenommen, dann winkte sie mit den Augen Herrn Mireport zu sich heran.

»Graf Naschkoff ist nicht hier,« sagte sie dem diensteifrig herantretenden Agenten mit unzufriedenem Tone.

»Er wird gewiß kommen,« erwiderte Herr Mireport im Salon umherblickend, »es ist noch nicht spät.«

»Es wäre mir sehr unangenehm,« fuhr die Dame fort, »wenn er nicht käme, ich wünschte ihn mit Ihrer kleinen Italienerin bekannt zu machen, ich hoffe, daß er sich nicht von meinem Hause entwöhnt,« sagte sie mit einem strengen Blick auf Herrn Mireport.

»Oh, das wird er nicht,« fiel dieser lächelnd ein, »seien Sie ganz ruhig.«

»Und Fräulein Hagar wird kommen?« fragte die Dame weiter, »es ist in der Tat nicht mehr früh.«

»Ich habe meine ganze Beredsamkeit verschwendet, um sie zu bewegen,« erwiderte Herr Mireport, »ich habe ihr Ihren Zirkel als eine ausgewählte Vereinigung von Kunstfreunden dargestellt – und sie hat mir versprochen, zu kommen.«

»Mir liegt sehr viel daran, daß man Künstler von Bedeutung, wirkliche Namen in meinem Zirkel findet,« sagte Madame de l'Estrada, »es ist das alles noch immer nicht auf der rechten Höhe, mir liegt daran, die wirklich ersten und vornehmsten Kreise der Herrenwelt bei mir zu versammeln, und was sie hier finden, kann sie wohl hie und da anlocken, aber nicht fesseln, einen wirklich großen Aufschwung kann die Sache so nicht nehmen.«

»Ich tue, was ich kann,« erwiderte Herr Mireport, »Renommee bildet sich erst allmählich, übrigens die Erscheinung der kleinen Romano ist immerhin etwas wert.«

»Hoffnungen, Hoffnungen,« sagte die Dame achselzuckend; »apropos,« fuhr sie fort, »wenn Mademoiselle Hagar kommt, sorgen Sie dafür, daß Pamela keine Tollheiten macht, alles muß mit größter Dezenz verlaufen, man muß eine Notiz in den Courier der großen Zeitungen lancieren.«

»Ich habe Pamela instruiert,« sagte Herr Mireport, »und alles vorbereitet, damit Herr Pivot –«

Der maître d'hôtel öffnete die Türe und rief mit seiner Gutturalstimme:

»Der Herr Graf Naschkoff!«

Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren trat ein. Die Haltung seiner hohen und schlanken Gestalt war leicht und ungezwungen, seine Toilette von einfacher, vornehmer Eleganz, die Züge seines bleichen und abgespannten Gesichts mit hervortretenden Backenknochen schlaff und ausdruckslos, ein langer, sorgfältig gepflegter, graublonder Backenbart hing zu beiden Seiten dieses Gesichts herab, in welchem nur die stechenden, von unruhigem Feuer blitzenden Augen Leben und Bewegung verrieten, seine schmale und niedrige Stirn war hoch hinauf kahl und das dünne blonde Haar kunstgerecht frisiert.

Mit ruhiger Sicherheit und gleichgültiger Nonchalance trat der Angekommene zu der Dame des Hauses, welche ihm entgegenging. Herr Mireport verneigte sich tief, während der Graf ihn mit leichtem Kopfnicken begrüßte.

»Ich bin sehr glücklich, Herr Graf, daß Sie mir noch die Freude machen, zu kommen, fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben,« sagte Madame de l'Estrada mit verbindlichem Lächeln.

»Ich war engagiert,« erwiderte der Graf, indem er sein Lorgnon zum Auge erhob und einen flüchtigen Blick über die Gesellschaft gleiten ließ, »ein Diner mit einigen Freunden, aber dieser Mireport hat mir so viel erzählt von einer merkwürdig schönen und interessanten jungen Debütantin –«

»Sie ist hier, Herr Graf,« erwiderte die Dame des Hauses in leiserem Tone, »Sie werden sie sogleich singen hören – und ich werde sie Ihnen dann vorstellen.«

»Ich bin neugierig,« sagte Graf Naschkoff leichthin. – »Guten Abend, Vicomte!« rief er dann, sich ziemlich brüsk von Madame de l'Estrada abwendend, und reichte dem jungen Manne die Hand, welcher neben der schönen Pamela saß.

»Guten Abend, Graf,« erwiderte dieser, »ich wünsche Ihnen Glück, so spät gekommen zu sein, wir haben ein Klavierkonzert gehört, das Pamela nervös gemacht hat.«

»In der Tat,« sagte Madame Pamela, indem sie den Grafen mit einer Bewegung ihres Fächers begrüßte, »wir hätten tauschen sollen, Graf Naschkoff, Ihre sibirischen Nerven hätten diese Musik besser ertragen, als ich es imstande bin.«

Abermals öffnete sich die Türe des Salons und der Lohndiener rief mit einer gewissen Feierlichkeit in die Gesellschaft hinein:

»Mademoiselle Hagar.«

Eine hohe, prachtvolle Erscheinung trat ein. Das bleiche, edel geschnittene, stolze und ausdrucksvolle Gesicht war umgeben von tiefschwarzen, reichen Locken, deren natürlich einfacher Fall jeden Gedanken an eine Ergänzung der Natur durch die so allgemein künstlichen Haartouren ausschloß. Eine schwarze Robe von reichstem Faltenwurf umhüllte die schlanke, kräftige Gestalt und ließ den schimmernden Glanz der Arme und des Halses um so reiner hervortreten; eine einfache Schnur weißer Perlen bildete den einzigen Schmuck dieser Toilette, welche merkwürdig abstach gegen die grellen, leuchtenden Farben, die den Salon erfüllten.

Madame de l'Estrada eilte der langsam über die Schwelle tretenden Künstlerin des Théâtre de l'Odéon entgegen, welche ruhig den klaren Blick ihres großen, schwarzen Auges über die Gesellschaft gleiten ließ.

»Ich bin entzückt,« rief sie, »daß Sie mir die Ehre Ihrer Gegenwart haben schenken wollen, mein Fräulein, Sie finden hier einen Kreis von aufrichtigen Verehrern der Kunst und von glühenden Bewunderern Ihres so eminenten Talentes versammelt, im Namen aller meiner Freunde danke ich Ihnen von ganzem Herzen.«

»Ich bin immer gern bereit,« sagte Fräulein Hagar ruhig, »mit meinem geringen Talent denen Freude zu machen, welche die Kunst lieben, und ich bin deshalb Ihrer gütigen Einladung gefolgt, obgleich ich wenig in die Welt gehe.«

Und sie ließ mit dem Ausdruck eines gewissen Erstaunens ihre Blicke über die Gruppen in dem Salon gleiten.

»Außerdem,« fuhr sie fort, »liebe ich die Musik, wenn ich sie auch nicht ausübe, und man hat mir einen großen, musikalischen Genuß bei Ihnen in Aussicht gestellt.«

Madame de l'Estrada antwortete nicht, eifrig führte sie die junge Künstlerin zu dem Divan, auf welchem Madame Lukretia Romano saß, und nachdem sie ein Gespräch zwischen beiden eingeleitet, rauschte sie zu Julia hin, welche der Graf Naschkoff durch sein Augenglas mit sichtbarer Verwunderung musterte.

»Nun, meine Teure,« rief sie, die Hand des jungen Mädchens ergreifend, »Ihre Mutter hat mich hoffen lassen, daß Sie uns Ihre schöne Stimme hören lassen würden, von der Herr Mireport mir so viel Wunderdinge erzählt hat, wollen Sie uns ein Lied hören lassen; später,« sagte sie mit besonderer Betonung, indem sie ihren Blick umherwarf, »wird uns Fräulein Hagar durch einen Vortrag erfreuen.»

Julia stand auf. Fast war sie der Dame dankbar für die Aufforderung, die es möglich machte, sich aus dem Kreise zu entfernen, dessen Unterhaltung sie mit tiefem Widerwillen erfüllte. Mechanisch folgte sie Madame de l'Estrada zum Pianino und ließ sich vor demselben nieder.

Einen Augenblick sann sie nach – was konnte sie vor dieser Gesellschaft singen? Eines jener zarten, weichen, gefühlsinnigen Lieder, in welchen sie in den Stunden ihrer Einsamkeit die Träume ihrer Seele wiederklingen ließ, oder ihrem lauschenden Geliebten die Tiefen ihres Herzens öffnete, konnte sie hier nicht entweihen.

Nach einigen Augenblicken schlug sie einen Akkord an und begann das Trinklied Orsinos aus Lukretia Borgia:

»Il segreto per esser felice –«

Alles war still geworden in dieser lachenden, lärmenden Gesellschaft, wenn es auch weniger die Musik war, welche man mit Spannung erwartete; die einfache, von dem ganzen Kreise so scharf verschiedene Erscheinung dieses jungen Mädchens, auf dessen Antlitz das Erröten noch heimisch war, hatte bei allen ein mit Erstaunen gemischtes Interesse erregt, jedermann fühlte, daß da ein fremdes Element in diese Gesellschaft geraten war, fremd und abstoßend berührt von der Umgebung, wie die Rose, welche unter des Gärtners sorglicher Pflege sich dem Licht erschloß – und dann von einem Stutzer gekauft auf dem Toilettentisch einer Dame à la mode zwischen Schminktöpfen und falschen Chignons traurig das Haupt senkt und ihren zarten Duft verhaucht in der schweren Atmosphäre von Moschus und cuir de Russie.

Julia begann ohne innere Empfindung korrekt und sicher die erste Strophe der Arie, während sie aber weiter sang, zog unter dem Eindruck der übermütig emporsprudelnden Töne eine Empfindung durch ihre Seele, welche diese auf der schäumenden Oberfläche des Sinnenlebens taumelnde Gesellschaft in Verbindung brachte mit der glühenden, kecken Lebenslust des sprühenden Trinkliedes, unter dessen Klängen die Verurteilten aus vergifteten Bechern den Tod trinken, sie hörte in ihrer Seele hinter der verschlossenen Pforte der Zukunft das mahnende de profundis – und als die Strophe geendet, schlug sie mit mächtigem, tieferschütterndem Klange, der selbst aus dem nicht ganz rein gestimmten Instrument seine Wirkung nicht verfehlte, den furchtbaren Grabgesang an, der das lustige Gelage der dem Tode geweihten Venetianer unterbricht.

Dann erhob sie sich, ohne die zweite Strophe zu singen.

Eine tiefe Stille herrschte einige Augenblicke in dem Salon, der Eindruck war überall sichtbar, selbst Madame Pamela spielte schweigend mit ihrem Fächer und Fräulein Hagar warf nach dem jungen Mädchen einen tiefen Blick hinüber, in welchem Teilnahme und Erstaunen sich vermischten.

Dann brach, dem Beispiel des Herrn Mireport folgend, alles in einen lauten Beifallsruf aus; die Herren drängten sich heran, um der Sängerin ihre Komplimente zu machen, während Madame Lukretia lächelnd die überschwenglichen Lobeserhebungen anhörte, welche die Marquise de l'Estrada ihr über den Gesang ihrer Tochter machte.

Julia hörte schweigend an, was die Herren ihr in mehr oder weniger fein pointierten Phrasen sagten, ihr Blick sah starr über diese Gesellschaft hin, welche ihr vom Todeshauch eines offenen Grabes durchweht erschien, langsam ging sie zu einem in der Nähe des Pianinos stehenden Fauteuil und ließ sich in denselben niedersinken, der junge Mann, welchen Madame Pamela vorhin mit dem Namen Charles angeredet hatte, setzte sich neben sie und blickte voll Teilnahme in ihr ernstes Gesicht.

»Mein Fräulein,« sagte er in einem Tone, der sich wesentlich von dem sonst in diesen Salons üblichen Genre der Konversation unterschied, »ich kann kaum glauben, nachdem ich Ihre Stimme und Ihren Vortrag gehört, daß Sie wirklich die Absicht haben sollten, an einem dieser kleinen Theater zu debütieren und Ihr Talent in dem burlesken Possenspiel zu verschwenden, wie uns Herr Mireport und Madame de I'Estrada sagten.«

»Auch ist dies durchaus nicht meine Absicht,« erwiderte Julia in kaltem Tone, »ich bin überhaupt gar nicht gesonnen, die Bühne zu betreten.«

Erstaunt blickte der junge Mann sie an. Dann sprach er mit dem Ausdruck herzlicher Offenheit:

»Wein Fräulein – Sie scheinen zum erstenmale in dieser Gesellschaft zu sein – und – aufrichtig gesprochen – Sie scheinen mir wenig für dieselbe zu passen; wollen Sie für Ihr Talent eine Laufbahn finden, so muß es eine andere sein, als diejenige, welche hier ihren Anfang nimmt. – Ich bin der Marquis von Valmory,« fuhr er mit leichter Verbeugung fort; »ich habe viele Beziehungen in der Welt, in der wirklichen, großen Welt; bedürfen Sie eines Freundes, der Ihnen mit Rat und Schutz zur Seite steht, ich biete Ihnen meine Hand an, aufrichtig und ohne Hintergedanken,« fügte er rasch hinzu, als er einen abwehrenden Ausdruck auf Julias errötendem Gesicht bemerkte, »erlauben Sie mir zu Ihnen zu kommen und über Ihre Zukunft zu sprechen, das Vertrauen kann nicht plötzlich kommen, aber ich hoffe, Sie werden sich überzeugen, daß Sie mir vertrauen können.«

Julia schlug langsam das Auge zu ihm auf. »Ich danke Ihnen, Herr Marquis,« sagte sie in sanftem, ruhigem Tone, »ich werde allein stark genug sein, um meinen Weg zu gehen, über den ich mir klar bin.«

Bevor der junge Mann antworten konnte, entstand eine gewisse Bewegung im Salon, Madame de l'Estrada ging umher und ersuchte die Gesellschaft, einen Kreis zu bilden, dann führte sie Mademoiselle Hagar in die Mitte des freien Raums und verkündete mit besonders wichtiger Miene, daß die große Künstlerin einen Vortrag zu halten die Güte haben wolle.

Fräulein Hager ließ einen Blick über die Gesellschaft schweifen, ein leichtes, seines Lächeln zuckte um ihre Lippen, und nach einem kurzen Schweigen begann sie mit ihrer volltönenden, an Modulationen so reichen Stimme das gewaltige Gedicht Viktor Hugos »1811« zu deklamieren. – Die mit so wunderbarer Meisterschaft gefügten Verse rauschten von ihren Lippen, man sah die Gestalt Napoleons titanengleich emporsteigen, den Fuß auf die Stufen des Schicksalsthrones setzend und bereit, den Herrscherstab den Händen des ewigen Fatums zu entreißen, wie er die Szepter den Königen der Erde entrissen hatte mit dem stolzen Wort: die Zukunft ist mein! Und als dann, dem Bilde des himmelstürmenden Weltherrschers gegenüber, diese hohe, bleiche Frau, in dem schwarzen Gewände wie eine Marmorstatue dastehend, die Hand erhoben, das strahlende Auge aufgeschlagen, in leisem, tief durchdringendem Tone die einfache Antwort sprach, welche der Himmel dem gigantischen Cäsar zuruft: I'avenir est à Dieu! – da zog selbst durch diese Gesellschaft, welche sich so wenig mit Gott und der Zukunft zu beschäftigen gewohnt war, ein leiser Schauer, Julia aber war in sich zusammengesunken, ihr Herz erbebte in seinen Tiefen und wie eine Vision erschien vor ihr der Engel mit dem Flammenschwert, welcher sich auf der schwarzen Wetterwolke der Zukunft auf diese von innerer Fäulnis zerfressene Gesellschaft niederließ, ihr das Urteil der Vernichtung verkündend.

Niemand schien die Worte zu finden, um der Künstlerin, als sie geendet, die Komplimente über ihren Vortrag zu sagen, auch schien Fräulein Hagar das nicht zu erwarten, in sinnendem Schweigen stand sie einige Augenblicke allein, dann wendete sie sich zu Julia, welche aufgestanden war und auf das Pianino gestützt mit ernsten Blicken zu der Künstlerin hinüberblickte, deren Vortrag sie so mächtig ergriffen hatte.

»Ich habe Ihnen noch zu danken, mein Fräulein,« sagte sie mit freundlichem Lächeln, »für den Genuß, den Sie mir durch Ihr Lied bereitet haben, diese Musik und Ihr Vortrag ist durch meine Deklamation fortwährend in meinem Innern hindurchgeklungen.«

»Sie sind zu gütig,« erwiderte Julia, indem ihr Blick bewundernd auf dem schönen, ernsten Gesicht der Schauspielerin ruhte, »ich vermag das rechte Wort nicht zu finden, um Ihnen meinerseits den Eindruck auszusprechen, den Ihre Deklamation auf mich gemacht.«

»So plaudern wir ein wenig, wenn es Ihnen recht ist, ich muß mich einen Augenblick erholen, das Sprechen greift mich immer etwas an, ziehen wir uns in jenen stillen Winkel zurück.«

Sie legte leicht ihren Arm in den Julias und führte das junge Mädchen in ein kleines, nur matt erleuchtetes und durch eine halbgeschlossene Portiere verdecktes Kabinett neben dem zweiten Salon.

»Ich glaube, mein Fräulein,« sagte sie dann, das junge Mädchen sanft neben sich auf einen kleinen Sofa niederziehend, »ich glaube, Sie sind hier ebensowenig an Ihrem Platz als ich, verzeihen Sie diese offene Sprache einer Fremden,« fuhr sie fort, den halb erschrockenen, halb dankbar freudigen Blick bemerkend, welchen Julia auf sie richtete, »aber Ihre ganze Erscheinung, Ihr Gesang, der zu meinem Herzen als Künstlerin gesprochen hat, drängt mich zu Ihnen – und sagt mir: Sie gehören nicht hierher.«

»Mein Fräulein.« flüsterte Julia, ich –«

»Jener Herr,« fuhr Mademoiselle Hagar fort, »welcher hier, wie es scheint, als Freund des Hauses die Honneurs macht und mir als Theateragent flüchtig bekannt war, kam zu mir und bat mich auf das Dringendste, in dem Salon einer Fremden, einer vornehmen Dame aus Italien, zu erscheinen – und einem ausgewählten Kreise von enthusiastischen Kunstfreunden durch eine Deklamation eine Freude zu machen, zugleich stellte er mir einen großen, musikalischen Genuß in Aussicht, und da ich die Musik sehr liebe, so bin ich gekommen, aber,« sagte sie achselzuckend, »ich bin unwürdig getäuscht worden, diese Dame hier ist ebensowenig fremd als vornehm und diese Gesellschaft hat mit der Kunst nichts gemein, ich vermute, daß es Ihnen ähnlich ergangen ist.«

»O mein Fräulein,« rief Julia, lebhaft ihre Hand ergreifend, »ich danke Ihnen für Ihr freundliches Entgegenkommen und ich versichere Sie, ich wäre nicht hier, wenn ich genau gewußt hätte – wohin man mich führte.«

Voll inniger Teilnahme blickte Fräulein Hagar in das erregte Gesicht des jungen Mädchens.

»Hören Sie meinen Rat,« sagte sie dann, »ich bin älter als Sie und kenne die Welt, Sie sind jung und unerfahren, vor Ihnen liegt das Leben noch unerschlossen, mögen Sie nun sich der Kunst widmen wollen, wozu Ihr schönes Talent Ihnen alle Veranlassung und Berechtigung gibt, oder mag welch' ein Weg auch immer vor Ihnen liegen, fliehen Sie dies Haus und alle ähnlichen, setzen Sie nie wieder Ihren Fuß über die Schwelle eines Salons, in welchem eine Gesellschaft wie diese sich versammelt, denn damit betreten Sie einen Boden, in welchem Sie versinken wie in dem Triebsand des trügerischen Meeresstrandes, tiefer und tiefer, ohne jemals wieder sich losreißen zu können. – Ich,« fuhr sie fort, »habe meine Stellung, meinen Namen, meinen Ruf, ich kann mich durch einen Irrtum einmal hierher verirren, man weiß, wer ich bin,« sagte sie mit stolzem Ausdruck, »und der Schlamm haftet nicht an mir, aber Sie, man kennt Sie nicht, Sie sind jung und neu, hat man Sie hier gesehen, würde man Sie gar hier wiedersehen, so werden alle diese Damen, welche ganz Paris kennt, Sie als eine der Ihrigen betrachten, alle die Herren, welche in diesem Kreise den Reiz einer pikanten Zerstreuung suchen, würden Sie behandeln wie diese Damen, und mag dann Ihr Herz noch so rein sein, Ihr Sinn noch so hoch emporstreben, Sie sind dem Schlamm verfallen, es wird der Verdruß der Verzweiflung, die Ermattung kommen, Sie werden den Kampf aufgeben und versinken, wie so viele versanken, die rein und gut waren wie Sie. Noch ist es Zeit, fliehen Sie – und kehren Sie nie wieder hierher zurück!«

Fräulein Hagar hatte warm und eindringend mit ihrer metallreichen Stimme gesprochen, Julia beugte sich zu ihr hinüber und drückte ihre Hand, eine warme Träne fiel auf dieselbe herab.

»Sie sind unglücklich,« sagte die Schauspielerin milde, »folgen Sie meinem Rat – und bedürfen Sie je einer starken und treuen Freundin, so kommen Sie zu mir, ich habe für mein Wollen und Fühlen festen Grund im Kampfe des Lebens gewonnen, und ich halte es für meine Pflicht, allen die Hand zu reichen, welche in diesem schweren Kampfe nicht unterliegen wollen.«

Sie berührte leicht mit den Lippen das glänzende Haar des jungen Mädchens und verließ still das Kabinett.

Julia blieb in sich zusammengesunken sitzen. Tiefer, brennender Schmerz durchzuckte ihre Seele; das Gefühl tiefer, trostloser Einsamkeit überkam sie mit furchtbarer Bitterkeit und während bisher eine sanfte, stille Trauer ihr Herz erfüllt hatte, regte es sich jetzt in ihr wie das Aufwallen eines feindlich grimmigen Zornes gegen das Schicksal. – Die fremde Künstlerin hatte mit dem instinktiven Wohlwollen einer edlen, weiblichen Seele ihr warnend die Hand gereicht, um sie zurückzuziehen von diesem vergifteten Sumpfboden mit seinen Abgründen voll Fäulnis und Elend, von diesem Boden, auf welchen die eigene Mutter sie geführt, und das Gefühl, an welchem sich sonst die Seele der Frau festhält und emporrichtet, die Liebe, der sie mit der ganzen Glut ihres jungen Herzens sich hingegeben, mußte für sie ein vorüberfliegender Traum bleiben, nach dessen Ende die Finsternis um sie her dunkler und kälter als je sie in tiefe, endlose Nacht einhüllen würde.

Sie ließ den Kopf an die Lehne des Sofas zurücksinken und schloß die Augen vor dem entsetzlichen Bilde, unter welchem sich ihre Zukunft ihr zeigte.

»Unsere schöne Debütantin sucht die Einsamkeit?« sagte der Graf Raschkoff, welcher die Portiere erhebend, in die Türe des Kabinetts trat, »das ist unrecht, solche Blumen müssen im vollen Sonnenlicht blühen, bald sollen ja die bewundernden Blicke von ganz Paris auf Sie gerichtet sein,« fuhr er fort, indem er sich neben dem jungen Mädchen auf den Divan niederließ.

Julia fuhr zusammen, richtete schnell den Kopf empor und wollte aufstehen.

Der Graf ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.

»Ich bin übrigens in diesem Augenblick mit Ihrer Neigung zur Einsamkeit nicht unzufrieden,« fügte er lächelnd, »denn dadurch wird mir die Gelegenheit, ein wenig mit Ihnen zu plaudern.«

»Mein Herr,« sagte Julia, ihre Hand losmachend und einen unruhigen Blick nach der durch die Portiere halb verdeckten Türe werfend, »ich weiß in der Tat nicht –«

»Ich habe soeben mit Mireport über Ihr Debüt gesprochen,« fuhr der Graf fort, »für das ich mich lebhaft interessiere, nachdem ich Sie gesehen und eine so glänzende Probe Ihres Talents gehört habe.«

»Ich habe nicht die Anmaßung zu glauben, daß ich als Künstlerin etwas leisten könnte, und es ist nicht meine Absicht, die Bühne zu betreten,« sagte Julia mit kaltem Tone, »deshalb –«

Sie machte eine Bewegung, um aufzustehen.

Abermals ergriff Graf Raschkoff ihre Hand und hielt sie zurück.

»Falsche Bescheidenheit,« sagte er, »Ihr Erfolg ist sicher, wir werden alles tun, um ihn zu einem Triumph zu machen, auch das größte Talent braucht eine kräftige Protektion,« fuhr er fort, »und Mireport wird Ihnen gesagt haben, daß ich in dieser Beziehung viel zu leisten imstande bin, die Kunstkritiker loben meine Diners ganz besonders,« sagte er lachend, »doch man muß Sie vorher sehen, von Ihnen sprechen, Sie müssen empfangen, öffentlich erscheinen, erlauben Sie, daß ich Ihnen dazu meine Dienste anbiete, ich werde morgen ein Appartement suchen, Sie werden die Einrichtung auswählen, die beste Equipage, die zu finden ist, soll zu Ihrer Verfügung stehen, in acht Tagen können Sie Ihre Salons öffnen, nicht wahr, mein Fräulein, Sie erlauben mir, Ihnen diese kleinen Dienste zu leisten? – Hier ein Pfand unserer beginnenden Freundschaft!«

Er zog einen Ring mit einem prachtvollen Solitär vom Finger und reichte ihn dem jungen Mädchen, die Strahlen der Kerzen, welche den Salon matt erhellten, brachen sich in feurigen Farbenreflexen in den Facetten des Diamants.

»Mein Herr,« sagte Julia zitternd und mit gepreßter Stimme, indem sie ihn starr und entsetzt anblickte, »Sie vergessen –«

»Ah!« rief der Graf mit leichtem Lachen, »ich erinnere mich, dieser Mirepoit sprach mir von einem kleinen romantischen Verhältnis, ein kleiner Fremder, der bald wieder fortgeht, der Sie einsperrt und bewacht, das ist nichts für Sie, Sie müssen auf der Höhe stehen, auf der höchsten Höhe, ich biete Ihnen die Stellung, die für Sie paßt, ich bleibe hier in dem schönen Paris, was kann Ihnen an dem kleinen, passagèren Liebhaber liegen, geben wir ihm den Abschied.«

Und lächelnd führte er mit ungezwungener Vertraulichkeit ihre Hand an seine Lippen.

Julia sprang auf, ihre Augen flammten, hörbar drang ihr Atem aus den geöffneten Lippen, der Graf wollte sie zurückhalten, sie schleuderte seine Hand zurück und eilte der Tür zu, während der Graf erstaunt auf dem Sofa sitzen blieb und ihr mit großen Augen nachsah.

»Mein Herr,« rief Julia im Nebensalon dem Marquis von Valmory zu, welcher dort im Gespräch mit einem anderen Herrn stand, »führen Sie mich zu meiner Mutter!« Sie legte ihren Arm in den des jungen Mannes, welcher sie verwundert ansah und sie mit artiger Bereitwilligkeit in den ersten Salon führte, wo Madame Lukretia in eifrigem Gespräch mit Herrn Mireport saß.

Julia hatte mit gewaltiger Anstrengung ihre Aufregung niedergekämpft, die Augen zu Boden geschlagen, feste Entschlossenheit in den Zügen des bleichen Gesichts, trat sie am Arm des Marquis zu ihrer Mutter heran.

»Ich habe einen unerträglichen Kopfschmerz,« sagte sie mit ruhigem Tone, »und wünsche sogleich nach Hause zu gehen.«

Madame Lukretia sah sie erstaunt an. »Welche Laune, mein Kind!« sagte sie mit strengem Blick und unzufriedenem Ton, »beherrsche dich – es wird vorübergehen.«

»Wenn Sie mich nicht begleiten wollen, so gehe ich allein,« sprach das junge Mädchen ganz leise, aber mit einer Festigkeit, welche leinen Zweifel an ihrem unbeugsamen Entschluß erlaubte, »ich wünsche einen Eklat zu vermeiden, aber ich werde nicht eine Sekunde länger hier bleiben.«

Madame Lukretia warf einen feindlichen Blick auf ihre Tochter, eine heftige Entgegnung schien auf ihren Lippen zu schweben, aber sie unterdrückte dieselbe, stand auf und sagte mit ruhigem Lächeln zu Herrn von Valmory gewendet:

»Das arme Kind, die Ruhe wird sie wiederherstellen, wollen Sie Ihre Güte vollständig machen, mein Herr, und uns zu unserem Wagen führen.«

Der Marquis verbeugte sich. »Die erstickende Hitze,« sagte er artig, »die vielen Menschen werden die Nerven des Fräuleins angegriffen haben.«

Die Marquise de l'Estrada rauschte heran.

»Mein Gott, Madame,« rief sie, »Sie wollen schon aufbrechen? – Alles geht so früh auseinander, ich fürchte, man unterhält sich nicht, auch Fräulein Hagar ist verschwunden.«

»Meine Tochter ist leidend,« sagte Madame Lukretia, »ihre Gesundheit ist nicht stark, ich bitte dringend, derangieren Sie sich nicht, lassen Sie uns ganz still verschwinden,« und die Hand der ganz erstaunten Dame des Hauses drückend, ging sie langsam der Ausgangstür zu. Julia folgte am Arm des Marquis, ohne den Blick zu erheben, ohne die Marquise de l'Estrada zu grüßen, welche sich kopfschüttelnd zu Herrn Mireport wendete.

Der Graf Naschkoff trat langsam aus dem zweiten Salon heran.

»Ihre kleine Italienerin ist eine Wilde,« sagte er lachend zu Herrn Mireport, »sie beißt und schlägt wie ein Steppenpferd.«

»Das zähmt sich mit der Zeit,« erwiderte der Agent achselzuckend, »man muß nur ein wenig Geduld haben.«

»Was ist denn da vorgefallen?« fragte Madame Pamela, nach der Tür blickend, durch welche soeben Frau Lukretia mit ihrer Tochter verschwunden war. »Der kleine Vogel flattert ein wenig, nachdem er das Netz gefühlt hat,« sagte ihr Nachbar lachend, »später lernt er das Ding umkehren und selbst das Netz handhaben, in dem wir gefangen werden.«

»Voilà comment cela commence!« sprach die schöne Pamela, das Lied der Königin Clementine aus dem Blaubart zitierend, und den Kopf zurücklehnend, richtete sie ihren Blick empor mit einem sinnenden, traurigen Ausdruck, bei einen seltsamen Kontrast bildete zu den geschminkten Wangen und zu den gefärbten Augenwimpern ihres Gesichts.

Der Marquis von Valmory hatte Julia und ihre Mutter zu dem unten auf sie wartenden Fiaker geführt und sich von ihnen verabschiedet, Madame Lukretia warf sich in eine Ecke des engen und unbequemen Wagens – schweigend fuhr sie eine Zeitlang dahin.

»Ich begreife nicht,« rief sie dann mit zornigem Tone, »wie du deinen Launen so nachgeben kannst, ich war in äußerster Verlegenheit über diesen plötzlichen Aufbruch.«

Julia schwieg und saß unbeweglich in ihren Schal gehüllt da.

Ihre Mutter richtete sich empor und sah ihr mit scharfem Blick ins Gesicht. Sie mochte fühlen, daß eine weitere Konversation zu keinem Resultat führen könne, vielleicht fürchtete sie auch, die zu scharf angezogene Saite auf das äußerste zu spannen, vielleicht war sie trotz alledem mit dem Resultat des Abends zufrieden, nach einigen Augenblicken lehnte sie sich mit ruhigem Lächeln wieder zurück und unterbrach das Schweigen nicht mehr, bis sie vor ihrer Wohnung angelangt waren.

Mit schnellen und festen Schritten stieg Julia, ohne sich um ihre Mutter zu kümmern, die Treppe hinauf und trat, den vorderen Salon durchschreitend, in das Zimmer des Malers Romano.

Dieser war noch auf, eine kleine Lampe brannte auf einem Tisch, den er vor die Staffelei mit seinem unvollendeten Bilde gerückt hatte. Er saß auf einem Stuhl zusammengesunken und starrte mit weitgeöffneten, müden Augen das Bild an.

Erschrocken zuckte er zusammen, als Julia zu ihm eintrat, mühsam zwang er sich zu einem freundlichen Lächeln, er erhob sich ein wenig aus seiner zusammengebrochenen Stellung und streckte dem jungen Mädchen seine magere Hand entgegen.

»Ich danke dir, Kind,« sagte er mit wehmütigem Lächeln, »daß du noch kommst, hast du dich gut unterhalten?«

Julia antwortete nicht, sie sah den schwachen, gebrochenen Mann lange mit tiefem, ernstem Blick an und sprach dann: »Gute Nacht, Papa, du liebst mich, nicht wahr?«

»Welche Frage – Kind!« sagte der Maler, unruhig in das starre Gesicht seiner Tochter blickend, »kannst du zweifeln?«

»So segne mich, wie du es tatest, als ich Kind war,« sagte sie, vor ihm die Knie beugend, »und bitte Gott für mich, daß er gnädig auf meine Zukunft herniederblicke.«

Erschrocken stand der Maler auf. Er legte die Hände auf das Haupt des jungen Mädchens und richtete den Blick des fieberhaft brennenden Auges nach oben.

»Kann von mir Segen kommen,« flüsterte er mit bebenden Lippen, »von mir, der den Fluch an das Leben dieses Kindes geheftet hat? – o mein Gott,« rief er lauter, »segne – segne dieses Haupt in deiner ewigen Gnade, welche die Sünden vergibt um der Reue willen, und laß mich – mich allein alles Leid tragen, das auf dieses Kindes Leben sich herabsenken möchte!«

Julia hörte die Worte nicht, welche er sprach, lange blieb sie vor ihm auf den Knien liegen, es tat ihr wohl, auf ihrem Haupte die Hand dieses Mannes zu fühlen, der ihr von ihrer frühen Jugend an liebevolle Teilnahme und treue Sorge entgegengebracht hatte, sie sah nicht das schmerzvolle Zucken seines bleichen Gesichts, sie sah die Träne nicht, welche schwer aus seinem brennenden Auge sich losringend über seine welke Wange hinabrollte.

Dann stand sie rasch auf, drückte seine Hand an ihre Lippen und eilte an ihrer Mutter, welche ihre Toilette abzulegen beschäftigt war, vorüber nach ihrer Wohnung.

Ihre Dienerin empfing sie; ohne ein Wort zu sprechen, ohne eine Frage zu beantworten, ließ sie sich entkleiden und legte sich zu Bett. Sie öffnete das Medaillon, welches sie am Halse getragen hatte, es enthielt ein Bild ihres Geliebten, ihre Lippen zitterten in schmerzlich krampfhafter Bewegung.

»Verlorenes Leben,« hauchte sie kaum hörbar, »verloren – verloren für immer, und doch ist das Leben so schön! – warum, warum, mein Gott, hast du mich verlassen?«

Starr und still lag sie, den Blick auf das Bild geheftet, da, bis das Licht des Morgens durch die Vorhänge in das Zimmer drang, und zitternd fuhr sie oft aus dem unruhigen Schlummer empor, der sich endlich auf ihre müden Augen senkte.


 << zurück weiter >>