Oskar Meding
Europäische Minen und Gegenminen
Oskar Meding

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Fünfzehntes Kapitel.

Mitten in den engen Gassen des innersten ältesten Stadtteiles von Hannover liegt der sogenannte Ballhof, ein altes Wirtshaus mit großem Vorhof. In längstvergangenen Tagen gab die erste und vornehmste Gesellschaft der Stadt und Umgegend hier ihre Reunionsbälle, und noch zeigten die Dekorationen des großen Saales des Etablissements die Spuren der früheren Glanzzeit. – Längst aber hatte sich jetzt die vornehme Welt von diesem alten Lokal und aus dem engen, alten Stadtteile zurückgezogen, der große Saal, in welchem einst der Herzog von Cambridge mit der elegantesten Gesellschaft seines Hofes sich bewegt hatte, und in welchem die hannoversche Welt die berühmten Bälle bei Almaks nachahmte, diente jetzt als Lokal für die Vergnügungen der kleineren Bürgerschaft, und in den Nebenzimmern, in welchen einst auf den Whisttischen der Minister und höchsten Beamten hoch gehäuft goldene Berge von Doppelpistolen lagen, versammelten sich jetzt die ehrbaren Handwerker, bei einem Seidel Lagerbiers oder einer Flasche St. Julien die Ereignisse des gewerblichen oder politischen Lebens besprechend.

Zahlreich war dies Lokal in jener Zeit besucht. Die in so wunderbar überraschender Schnelligkeit hereinbrechenden Ereignisse, welche alles Bestandene über den Haufen geworfen hatten, die neuen Zustände, welche so wenig zu den alten Gewohnheiten passen wollten, die souveräne, unnahbare Schnelligkeit und Schärfe des neuen Regiments, bei welchem man so gar nicht mitreden konnte nach altcalenbergischer Weise, das alles führte die Bürger zusammen, um ihre Gedanken auszutauschen und sich hier im stillen, altgewohnten Kreise so recht nach Herzenslust auszuräsonnieren.

Hier kamen nur feste Anhänger des Alten zusammen, jeder, der irgend im Verdacht stand, den neuen Zuständen günstig gesinnt zu sein oder gar mit den »Preußen« in Verbindung zu stehen, sah sich sofort isoliert, scheelen Blicken und spitzen Bemerkungen ausgesetzt, und wenn die Köpfe sich mehr und mehr erhitzten, wohl gar durch tätliche Beihülfe zum Verlassen des Lokals veranlaßt.

An dem Abende, an welchem Herr von Wendenstein verhaftet und Herr von Tschirschnitz auf seine besondere Art und Weise fast unter den Händen der Polizei abgereist war, befand sich zahlreiche Gesellschaft in den Räumen des Ballhofs. Die Verhaftung des jungen Offiziers war hie und da bekannt geworden, man hatte sich ergangen in Bemerkungen und Vermutungen über den Fall, den man sich noch nicht erklären konnte, der aber in allen das Gefühl einer über ihnen stehenden Wetterwolke erregte, aus welcher der erste Blitz herabgefahren war und aus welcher jeden Augenblick ein zweiter Strahl niederzucken konnte.

An einem Tische saßen mehrere Bürger um den alten Hofsattlermeister Conrades, einen alten Mann mit scharfen, verwetterten Zügen, welcher mit lauter Stimme und oftmals derb mit der Hand auf den Tisch schlagend seinem Unwillen über die neuen Zustände Luft machte.

»Donnerwetter,« rief er, den Deckel seines Seidels mit lautem Schlag zuklappend, »der alte Ernst August sollte noch leben, was der für ein Gesicht gemacht haben würde, wenn sie ihm so mir nichts dir nichts sein Land hätten wegnehmen wollen! – Dann wärs freilich auch nicht so gekommen; mit dem anzubinden hätten sie's nicht riskiert in Berlin, vor dem hatten sie Respekt an den größten Kaiser- und Königshöfen, und hier wären auch alle die Dummheiten nicht gemacht worden, an denen wir zugrunde gegangen sind.«

»Aber wenn der König wiederkommt,« sagte ein kleiner, untersetzter Mann mit tief in den Schultern und noch tiefer in einem hohen Rockkragen steckenden Kopfe und rundem, scharf geschnittenem Gesicht, »wenn der König wiederkommt, dann wollen wir all den schlechten Hannoveranern, die da jetzt hinlaufen zu den Preußen, zeigen wollen wir ihnen,« rief er, ingrimmig die Spitze seiner langen, mit seidenen Quasten verzierten Pfeife zwischen die Zähne beißend, »zeigen wollen wir ihnen – wo sie her sind!«

Und um sich von der tiefen Entrüstung zu erholen, in welche ihn der Gedanke an die künftige Rache gegen die schlechten Patrioten versetzt hatte, deren Bestrafungsart aus seinen Worten nicht mit völliger Klarheit hervorging, aber seiner Miene zufolge eine sehr grausame und barbarische sein muhte, nahm er einen großen Schluck aus seinem Glase und blies dann eine so dichte Tabakswolke vor sich hin, daß seine kleinen, zornsprühenden Augen einige Augenblicke von weißem Nebel verhüllt waren.

»Wenn der König wiederkommt!« sagte der alte Conrades langsam und sinnend, indem er die tief gefurchte Stirn in die magere, braune und nervige Hand stützte, »Freund,« fuhr er fort, das graue, scharfe Auge mit traurigem Ausdruck auf den alten Zunftmeister richtend, »Ihr wißt, daß ich an dem alten Hannover hänge wie einer, mir tut es weh, daß ich nicht in die Grube gefahren bin, ehe diese neue Zeit hereingebrochen ist, aber ich sage euch: es ist alles Unsinn, was sie da schwatzen und treiben und agitieren, – der König kommt nicht wieder!«

»Der König kommt nicht wieder?!« rief mit heller Stimme voll Verwunderung und Unwillen ein kleiner, magerer, blasser Mann mit feinem, lebhaftem Gesicht und hellblondem Haar und Bart. – »Ich sage euch, der König kommt wieder, und lange wird es nicht mehr dauern, alles ist vorbereitet, ihr seid hier alle in eurem eingeschränkten Kreis, unter dem Druck, ihr sehet und höret nicht klar, aber ich bin in Hietzing gewesen, ich habe einen Blick in die Politik getan, ich kann euch das freilich nicht alles erzählen, aber,« fuhr er fort, sich mit wichtiger Miene gerade auf seinem Stuhl aufrichtend, »ihr könnt mir glauben, der König kommt bald wieder, Seine Majestät hat es mir selbst gesagt.«

»Lohse,« sagte der alte Conrades derb, »Ihr mögt ein ganz guter Musikant sein, Ihr nennt Euch ja Musikdirektor, weil Ihr so einen Gesangverein dirigiert, aber von der Politik versteht Ihr nichts.«

Der Musikdirektor Lohse sah den Sattlermeister wütend an, er hatte wohl eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus, denn mit dem alten Conrades war nicht gut anzubinden, er hatte so scharfe und unangenehme Worte in stets schlagfertiger Bereitschaft – und dann war er einer der einflußreichsten in der Bürgerschaft, man war gewohnt, auf ihn Rücksicht zu nehmen. Herr Lohse begnügte sich daher, mit überlegener, geheimnisvoll bedeutsamer Miene die Achseln zu zucken.

»Seht,« sagte Conrades, sich etwas über den Tisch vorlegend und die rechte Hand auf und nieder bewegend, »seht, das wäre wohl alles ganz gut und könnte schon gehen, aber es ist kein Nerv und keine Kraft drin, der König Georg ist nicht sein Vater, befehlen kann er wohl, aber nicht herrschen, er versteht nicht zu wollen, ich meine, so recht ernstlich zu wollen, wie der alte Ernst August wollte. – Ich habe das alles wohl angesehen,« fuhr er fort, lebhaft weiter sprechend, unbekümmert, ob man ihm zuhörte, ob man seine Ansicht teilte oder nicht, »ich habe das alles wohl angesehen seit der neuen Regierung,« der Alte nannte die Regierung Georgs V. nach fünfzehn Jahren noch immer die neue – »das ist ein ewiges Hin« und Herschwanken gewesen, ein Minister nach dem anderen ist verbraucht und immer sind sie als Feinde fortgegangen, und die Schreiber da in den Ministerien haben räsonniert und die Herren vom Hof haben gelästert und Geschichten über Geschichten in Kurs gesetzt, und es war keine Herrschaft und keine Zucht in der Sache, denn was hat der König getan? Wenn's einer zu arg getrieben hat, so hat er ihm den Rücken gelehrt und ihm den Hof verboten und dann ist der hingegangen und hat den Mund noch ärger aufgerissen, und das ganze Land – und ihr alle mit,« rief er laut, mit der geballten Faust auf den Tisch schlagend, »ihr habt über den braven Ehrenmann geschrien und geklagt, der so ungerecht behandelt worden. – Da war's anders zu Ernst August's Zeit,« fuhr er fort, indem er sich aufrichtete und den Blick groß und fest von einem zum anderen schweifen ließ, »wenn da einer, und wenn es der Höchste und Vornehmste war, etwas getan oder gesagt hatte, was nicht in Ordnung war, dann hat er ihn kommen lassen und hat ihn abgekanzelt, so grob, na, ihr wißt gar nicht, wie grob der werden konnte, und dann war es aus – und der Betreffende wußte, was er zu tun hatte, und tut gewiß lange nichts wieder, was nicht in der Ordnung war. Und ebenso war's mit den anderen Höfen, da wußte man immer, wie man mit dem Alten daran war, und solche Doppelspielerei wie im vorigen Jahre, die hätte gar nicht vorkommen können. – Ja, ja,« fuhr er seufzend fort, »der Alte, das war ein Herr, von dem sagten sie auf englisch – wir zu meiner Zeit muhten alle etwas englisch können, wegen der hohen Herrschaften – every inch a king, sagten sie, jeder Zoll ein König, heißt das, und es war gewiß und wahrhaftig wahr, aber der jetzige Herr, der hat wohl die Gesinnung, auch den Stolz und den Mut, aber den Willen, den hat er nicht; und nun der kleine Prinz da – ja, die Husarenuniform hat er an und Ernst August heißt er, aber every inch a king? O mein Gott!«

Und er tat einen langen Zug aus seinem Glase.

»Darum sage ich euch, fuhr er, den Deckel zuklappend, fort, »es wird aus alledem nichts, was sie da jetzt treiben, sie werden immer zwei Pferde vor den Wagen und zwei dahinter spannen, und zanken werden sie sich untereinander und die ganze Geschichte wird ein böses Ende nehmen. – Warum sitzt der König in Wien,« rief er, »bei diesen Österreichern, die ihn so schmählich im Stich gelassen und die in ihrem Leben nicht wieder auf die Beine kommen, warum geht er nicht nach England, wo er seinen rechtmäßigen Platz hat? Na,« sagte er mit einem resignierten Seufzer, »mir kann's gleichgültig sein, mein Sarg steht schon offen, ich werde bald hingehen und der neuen Welt den Rücken kehren – und das ist gut. Guten Abend!«

Er stand auf, nahm seinen Hut und ging schweigend hinaus.

»Er weiß ja gar nicht, wie die Sachen stehen,« sagte der Musikdirektor Lohse, nachdem der Alte sich entfernt, »das kann man ja auch hier gar nicht beurteilen, dazu muß man die Fäden kennen,« fügte er mit geheimnisvoller Miene hinzu, »und die kennt eben nicht jeder! – Der König nicht zurückkommen?« rief er nach einigen Augenblicken, »und Seine Majestät hat mir doch selbst gesagt, daß er ganz bestimmt zurückkommen werde.«

»Hat das der König selbst ganz bestimmt gesagt?« fragte der Mann mit dem hohen Rockkragen, während die anderen Bürger näher zusammenrückten und gespannt in das Gesicht des Musiklehrers blickten.

»Ganz bestimmt,« erwiderte dieser mit wichtigem Tone, »ganz bestimmt! – »Lohse,« sagte Seine Majestät zu mir, »harren Sie ruhig aus, ich werde nicht ruhen und rasten, nicht Nacht, nicht Winter kennen, bis ich wieder in Hannover und bei meinem beispiellos treuen Volk bin, und ich werde wiederkommen!«

»Beispiellos treuen Volk hat er gesagt?« fragte der kleine Mann aus seiner Tabakswolke heraus.

»Ja, ja, er hat Recht,« riefen mehrere Bürger, »die Hannoveraner sind beispiellos treu, wenn sonstwo heutzutage ein König entthront wird, dann ist es ein allgemeiner Jubel und die Untertanen können nicht schnell genug zu dem neuen Herrn laufen. – Nein, wir wollen zeigen, daß wir anders sind.«

»Wie kamen Sie denn nach Hietzing, Herr Lohse?« fragte man dann, und rasch setzte sich der Musikdirektor Lohse gerade auf seinen Stuhl zurecht – froh, eine Gelegenheit zu seiner Erzählung zu haben, und sprach unter allgemeiner Aufmerksamkeit:

»Sie wissen Alle, daß ich Präsident des Georgs-Marienvereins bin, der hier auch sein Lokal hat, und da hatten wir ein neues Statut gemacht und mich hatten sie deputiert, um Seine Majestät zu bitten, daß er das Protektorat übernehmen möchte.«

»Und hat das der König getan?« fragten mehrere Stimmen.

»Gewiß,« sagte Herr Lohse stolz, »sogleich hat ers getan, und wie ich aufgenommen bin! Der König hat mich sofort zur Tafel dabehalten.«

»Zur Tafel – zur königlichen Tafel?« riefen alle.

»Gewiß, ich habe mit dem König und der Prinzeß und dem Kronprinzen und allen Herren gegessen, ich hatte eine große weißgelbe Schärpe um, und alle fremden Herren – österreichische Generale, der Herr von Reischach, der des Königs österreichischer Adjutant ist, und andere, alle fragten, wer ich wäre, und da sagten Seine Majestät: ›Das ist der Musikdirektor Lohse, der Präsident des Georgs-Marienvereins in Hannover!‹«

Alle sahen ihn mit einem gewissen Respekt an, ein leises Flüstern ging um den Tisch.

»Und die Herren vom Gefolge des Königs,« erzählte der Musikdirektor weiter, »das sind wirklich ganz vortreffliche, liebenswürdige Leute, den Grafen Wedel, der jetzt da ist, den kennt ihr ja, und dann ist da der Regierungsrat Meding und der Graf Platen, nicht der Minister, sein Neffe, der Graf Georg, das sind zwei ausgezeichnete Herren, die sind mit mir nach Wien ins Theater gefahren, ins Karltheater, ich habe vorn in der Loge gesessen und die Herren haben mir alles erklärt, da war die berühmte Gallmeier, die spielte reizend die gebildete Köchin, es ist eine ausgezeichnete Person und sehr gut ›hannoveranisch‹, wie sie dort sagen, und die Musik war auch vortrefflich, namentlich im Zwischenakt, besonders eine Violine, ich muß das kennen, ich hörte sie gleich heraus, ich applaudierte den Violinisten aber auch nicht wenig, das ganz Theater sah zu mir herauf. – ›Was Teufel‹, fragte mich bei Graf Platen,« fuhr Herr Lohse, sich in seine Erzählung immer mehr vertiefend, fort »›was Teufel applaudieren Sie hier im Zwischenakt?‹ – ›Herr Graf‹, sagte ich, ›das muß ich verstehen, da ist ein Violinist, der spielt vortrefflich, der verdient's!‹ – und der Regierungsrat Meding sah mich ganz erstaunt an und sagte: ›Lohse, Sie sind ein herrlicher Kerl, ich muß Ihre Photographie haben.‹ Und die hab' ich ihm auch gegeben,« sagte er, sein Glas ergreifend, »und die Herrn haben sich alle für mich auch photographieren lassen.«

Er tat einen langen Zug.

»Na – und am andern Tag, da ließ mich Seine Majestät ganz allein rufen,« fuhr er, sein Glas wieder auf den Tisch stellend, fort, »ich bin fast zwei Stunden bei Seiner Majestät geblieben, was da gesprochen wurde,« sagte er mit großer Würde, »das darf ich natürlich nicht erzählen, aber da war es, daß Seine Majestät mir sagte, daß er wiederkommen würde – und ich sage euch allen, Er kommt wieder, so wahr ich Lohse heiße!«

Stolz blickte er umher, leise tauschten die Übrigen einzelne Bemerkungen aus, mehrere baten ihn um Aufnahme in den Georgs-Marienverein, eine gesellige Verbindung der kleineren Bürger, welche aber eine höhere Bedeutung gewonnen, seit der König ihr Protektor geworden und ihr Präsident in Hietzing an der Tafel des Königs gesessen. Wenn der König wiederkam – und daran glaubten sie alle fest, diese guten Bürger, so mußte ja Herr Lohse eine bedeutende und einflußreiche Person werden und es konnte nur nützlich sein, sich als Mitglied in den Verein aufnehmen zu lassen.

Rasch trat der kleine Kaufmann Sonntag, ein Mann mit blassem Gesicht und lebhaft beweglichen schwarzen Augen, in das Lokal, er sprach hie und da mit einigen Bürgern, winkte dann unbemerkbar einem großen, blonden, schlanken Mann, welcher mit Herrn Ebers, dem Wirt des Ballhofs, an einem Seitentische Sechsundsechzig spielte und Punsch trank, und ging dann langsam in ein Nebenzimmer, von wo er rasch durch eine Türe in das Wohnzimmer des Wirts trat.

Nach kurzer Zeit folgte ihm Herr Ebers, ein kleiner Mann mit rothem, frischem Gesicht, und der Tierarzt Hische, sein Partner im Sechsundsechzig.

Vorsichtig schloß der Wirt die Türe.

»Wißt ihr,« rief Herr Sonntag eifrig, aber mit gedämpfter Stimme, »wißt ihr, daß die ganze preußische Polizei im Gange ist, alle Offiziere werden überwacht, der Leutnant von Wendenstein ist verhaftet!«

»Wendenstein?« sagte der Tierarzt Hische, »da haben sie wohl den Unrechten erwischt, den werden sie wohl wieder loslassen müssen, das wird nichts zu bedeuten haben!«

»Wohl hat es etwas zu bedeuten,« rief Sonntag, »der arme Wendenstein hat verschiedene Papiere bei sich aufbewahrt, die haben sie gefunden, natürlich sagt der Herr nicht, wem sie gehören, und da muß er denn dafür haften.«

»Schlimm, schlimm!« sagte Hische, traurig den Kopf senkend.

»Schlimm, schlimm!« rief der kleine Sonntag eifrig, »daß es schlimm ist, weiß ich allein, aber hier gilt's, es besser zu machen, der Wendenstein muß fort!«

»Fort?« rief Hische erstaunt, »fort aus diesem Polizeigebäude, das wie eine kleine Festung verwahrt ist und wo preußische Soldaten Wache stehen? – Ihr seid nicht gescheit!«

Sonntag lächelte.

»Hört mich an,« sagte er, »ich habe einen Plan, er ist ganz fertig, es handelt sich nur um die Ausführung.«

»Ja, die Ausführung!« sagte der Tierarzt Tische langsam, »das ist die Sache!«

»Es handelt sich um drei Dinge,« sagte Sonntag, die beiden andern nahe an sich heranziehend, »erstens um Geld – das besorge ich, zweitens,« fuhr er fort, »um ein Pferd, ein vortreffliches, schnelles Pferd, das müßt Ihr besorgen, Hische.«

»Aber wie?« fragte dieser.

»Das werde ich Euch sagen, es ist ganz leicht,« rief Sonntag. »Drittens,« fuhr er fort, »und das ist das Schwerste, gilt es, das Gefängnis zu öffnen und den Leutnant bis auf die Straße zu bringen.«

Herr Ebers lächelte. »Das könnte sich machen lassen,« sagte er.

»So wollen wir sogleich alles Nähere festsetzen,« rief Sonntag, »ich werde hier warten, wenn die Gäste fort sind, kommt zurück, es sind zwar alle gute Patrioten, aber von solchen Dingen muß niemand etwas wissen, der nicht bei der Ausführung tätig sein soll.«

Ebers und Hische kehrten einer nach dem andern in die Gastzimmer zurück, nach einer Stunde brachen die letzten Gäste auf, der Wirt begleitete sie hinaus, sagte ihnen mit lauter Stimme gute Nacht und verschloß geräuschvoll das Tor, die Lichter verlöschten ml Ballhofe, das Hausgesinde ging zu Bett.

Im Zimmer des Wirts aber saßen bei kleiner Lampe mit dunklem Schirm bis zum frühen Morgen die drei Männer, welche sich vorgenommen hatten, den Leutnant von Wendenstein aus seinem Gefängnis zu befreien. Am nächsten Vormittag gegen zwölf Uhr saß Frau von Wendenstein mit ihren Töchtern und Helene in ihrem Wohnzimmer. Der Oberamtmann war ausgegangen, um sich zu erkundigen, was gegen seinen Sohn vorläge, und um Vorstellungen gegen dessen Verhaftung zu machen. Die alte Dame saß ernst und still da. Man hatte ihr gesagt, daß die Verhaftung ihres Sohnes nur auf einem Mißverständnis beruhen könne, das machte sie ruhiger und ergebener, aber ihre stille Seele war nichtsdestoweniger tief erschüttert durch diesen plötzlichen, harten Eingriff in das ruhige Leben ihres Hauses und in die Hoffnungen, deren Erfüllung sie von der nächsten Zukunft schon erwartete.

Helene war bleich und schien ruhig und ergeben. Sie sprach der alten Dame Mut ein und versuchte mehrmals mit lächelndem Munde heitere Bemerkungen zu machen, in der Erwartung der baldigen Rückkehr ihres Verlobten, aber der fieberhafte Glanz ihrer Augen, das unwillkürliche Beben der Lippen, das häufige hastige Aufstehen, bei welchem sie sich irgendetwas im Zimmer zu schaffen machte, bewiesen genügend, daß ihre äußere Ruhe nur die Folge einer Willensanstrengung war, mit welcher sie die bange Unruhe ihres Herzens zurückdrängte.

Der Diener trat ein und meldete den General von Knesebeck.

Der frühere hannöverische Gesandte am wiener Hofe trat ein im einfachen Zivilanzug. Seine hohe Gestalt war fest und kräftig wie früher, aber auf seinem scharfen, ausdrucksvollen Gesicht lagen die Spuren der Eindrücke, welche das letzte ereignisschwere Jahr hinterlassen hatte; ernst und traurig blickten seine klaren, braunen Augen.

Er begrüßte die Damen, küßte Frau von Wendenstein mit ritterlicher Artigkeit die Hand und setzte sich an ihre Seite.

»Ich komme,« sagte er, »meine gnädige Frau, um Ihnen meine herzliche Teilnahme an dem unangenehmen Fall auszusprechen, der Ihre Familie betroffen hat, zu meiner Freude höre ich von allen Bekannten, daß er in keiner Weise ernstlich kompromittiert sein soll und also nichts weiter zu besorgen hat, als eine kurze Haft.«

»Gott gebe es!« sagte Frau von Wendenstein seufzend. – »O welche Zeiten, lieber General,« fuhr sie fort, indem ihre Augen sich mit leichtem Tränenduft verschleierten, »wer hätte das vor einem Jahre gedacht, als wir so ruhig in unserm alten Hause in Blechow saßen! – Für Sie,« sagte sie sanft lächelnd, »ist dieser Eingriff in die häusliche Ruhe weniger empfindlich, die Diplomaten sind daran gewöhnt, ein Leben wie die Zugvögel zu führen und ihr Haus nur wie ein Absteigequartier, eine Station auf der Reise des Lebens zu betrachten.«

»Wenn es nur das wäre,« sagte bei General, »so könnte man freilich leicht darüber hinwegkommen, obgleich trotz unseres wechselnden Lebens sich die menschliche Natur immer mit den tausend Ranken der Gewohnheit an das tägliche Dasein knüpft und schmerzlich davon losreißt, aber,« fuhr er mit schmerzlichem Tone fort, »hier handelt es sich um mehr als das, eine ganze, schöne und ehrenvolle Vergangenheit wird begraben, um nie mehr zu erstehen!«

»Viele hoffen auf eine Auferstehung,« bemerkte Frau von Wendenstein, »und trösten sich mit der Geschichte der ersten Jahre dieses Jahrhunderts.«

»Ich weiß es wohl,« erwiederte der General, »aber,« fügte er ernst und trübe hinzu, »sie täuschen sich; damals brachte die nationale Erhebung des deutschen Volkes folgerichtig die Selbständigkeit Hannovers zurück, heute ist das anders, Hannover ist geopfert der Idee der nationalen Einigung, nur große, weitumfassende Ideen, klares, festes und kluges Handeln könnten dem Welfenhause seine Bedeutung, vielleicht unter günstigen Umständen seinen Thron wiedergeben, aber davon ist man leider sehr weit entfernt,« sagte er seufzend, »man beschränkt sich auf kleinliche Agitationen, welche viele ins Unglück stürzen werden. – Leider höre ich, daß in diesem Augenblick solche Agitationen ernster und gefährlicher Natur im Gange sein sollen, deshalb auch die strengen Maßregeln. Wie traurig ist es, daß alle diese jungen Leute, aus einem in seinem innern Kern so edlen und hochachtungswerten Motiv, sich hinreißen lassen, sie werden es einst bitter bereuen –«

Er schwieg abbrechend.

»Und Sie, Herr General,« sagte Frau von Wendenstein, »werden Sie hier bleiben?«

»Ich denke mich in eine kleinere Stadt zurückzuziehen,« sagte der General, »und fern von allen Beziehungen der Welt und der Politik ruhig meinen Altersstudien und meinen Erinnerungen zu leben, leider,« fügte er seufzend hinzu, »schließen dieselben traurig genug ab.«

Der Blick der alten Dame ruhte teilnahmsvoll auf dem von schmerzlicher Bewegung durchzuckten Antlitz des Generals.

»Sie haben keine freundlichen Eindrücke von Hietzing mitgebracht?« sagte sie sanft.

Zornige Entrüstung flammte im Auge des Herrn von Knesebeck auf.

»Ich mag davon nicht sprechen, meine gnädige Frau,« sagte er mit gepreßtem Tone, »ich habe bis zum letzten Augenblick alles für die Sache des Königs getan, ich habe keine Schwierigkeiten und keine Mühen gekannt, und endlich hat man mich entlassen – wie einen Übellästigen, es ist das ein Kapitel über die Dankbarkeit der Fürsten,« fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. – »Ich bin übrigens weit entfernt,« fuhr er nach einem tiefen Seufzer fort, »den armen Herrn verantwortlich zu machen, er ist umgeben von Einflüsterungen aller Art, das alles kann nur zu traurigem Ende führen. – Doch alle diese Dinge sind zu traurig, um davon zu sprechen,« sagte er abbrechend, »für mich ist die Vergangenheit begraben, mein Blick richtet sich hoffnungsvoll in die große Zukunft Deutschlands, ich werde an dem schönen, herrlichen Gebäude der kommenden Tage nicht mehr mitarbeiten können, aber ich werde ihm meine besten Wünsche weihen.«

Der Diener trat ein, er trug ein Paket und näherte sich Helene.

»Der Kaufmann Sonntag sendet hier die Gegenstände, welche das Fräulein zu sehen gewünscht haben,« sagte er, »und hier ein Verzeichnis der Preise.«

Er überreichte ihr das Paket und einen verschlossenen Brief.

»Einkäufe für die künftige Häuslichkeit,« sagte Herr von Knesebeck lächelnd.

»Ich weiß in der Tat nicht,« sagte Helene, erstaunt das Paket betrachtend, »ich erinnere mich nicht, etwas bei Sonntag bestellt zu haben.«

Und in unwillkürlicher Bewegung öffnete sie das Papier. Kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, als ein Helles Rot ihr Gesicht überzog, dem sogleich eine tiefe Blässe folgte. Sie drückte die Hand krampfhaft auf die Lehne des Sessels, und mit gewaltiger Anstrengung sich zu ruhigem Lächeln zwingend, sagte sie zu Frau von Wendenstein gewendet:

»Ich hatte es vergessen, ich hatte neulich gewünscht, einige Arbeitskörbchen zu sehen, Sonntag sendet mir eine Auswahl. – Lassen Sie Herrn Sonntag danken,« sagte sie dem Diener, »ich werde, was ich nicht brauche, zurücksenden, oder selbst bringen, wenn ich ausgehe.«

Der General von Knesebeck empfahl sich, indem er nochmals den Wunsch aussprach, daß das Mißverständnis, welches die Verhaftung des Leutnants herbeigeführt, sich bald aufklären möge.

»Was hat man dir da geschickt?« fragte Frau von Wendenstein.

»Es sind einige Arbeitskörbchen, ich äußerte neulich im Laden des Kaufmanns Sonntag, daß ich eines bedürfte, es ist eine Aufmerksamkeit, daß man mir eine Auswahl hierhersendet.« Sie öffnete das Paket und die Damen besahen flüchtig den Inhalt.

Bald darauf zog sich Frau von Wendenstein und ihre Tochter zurück, um sich zum Ausgehen vorzubereiten, Helene begleitete sie, um sich ebenfalls auf ihr Zimmer zu begeben. Kaum hatte sie sich von den Damen getrennt, so eilte sie zurück und begab sich nach der andern Seite des Korridors, wo das Zimmer des Oberamtmanns lag. Der alte Diener war im Vorzimmer seines Herrn.

»Ist der Herr Oberamtmann schon zurückgekehrt?« fragte sie in leichtem Tone.

»Soeben,« erwiederte der alte Johann, schnell aufstehend.

»So fragen Sie, ob ich ihn sprechen kann, ich bin begierig, Nachrichten zu hören.«

Der Diener beeilte sich, der natürlichen Ungeduld der jungen Braut zu entsprechen, trat in das Zimmer seines Herrn und öffnete unmittelbar darauf dem jungen Mädchen die Türe.

Der alte Herr hatte Hut und Stock abgelegt und noch im Überrock ging er mit langsamem Schritt und tief ernster Miene in feinem Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet und den podagrischen Fuß leicht nachziehend.

Bei dem Eintritt des jungen Mädchens flog ein freundlicher Schimmer über sein Gesicht, mit herzlichem, aber etwas wehmütigem Lächeln trat er ihr entgegen und sagte:

»Nun, was bringt meine kleine Schwiegertochter? – Das Herz ist ein wenig in Unruhe, ich soll erzählen, was ich gehört, nun –«

»Papa,« unterbrach ihn Helene, auf deren Gesicht, sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen, der Ausdruck lebhafter Unruhe und banger Besorgnis erschienen war, »Papa, es steht sehr schlimm um Karl!«

Ernst blickte der Oberamtmann in die Augen des jungen Mädchens, welche die aufsteigenden Tränen kaum zurückhielten.

»Nun,« sagte er ruhig, »es wird sich ja wohl alles zum Guten fügen, denn es liegt ja doch im Grunde nichts Bestimmtes gegen ihn vor, aber woher hast du –«

»Nein, nein,« rief Helene lebhaft, »es wird nicht gut, er ist in ernster Gefahr, es gilt, ihn zu retten! – Hier, dies habe ich soeben erhalten!«

Sie zog das Papier hervor, welches die Sendung des Kaufmanns Sonntag begleitet hatte, und reichte es dem Oberamtmann.

Es war ein Rechnungsformular, beschrieben in einzelnen Zeilen, gleich dem Posten einer Rechnung. An der Spitze stand mit großen Buchstaben: »Zeigen Sie keine Unruhe, wenn Sie diese Zeilen in Gegenwart anderer lesen!«

Der Oberamtmann las weiter:

»Die Sache des Leutnants von Wendenstein steht sehr schlimm. Man hat bei ihm kompromittierende Papiere gefunden, für welche er verantwortlich gemacht werden wird, wenn er keine Denunziationen macht, es soll ein Beispiel statuiert werden. Freunde sind entschlossen, ihn um jeden Preis zu befreien. Sprechen Sie mit seinem Vater – aber mit niemand sonst, und schaffen Sie so viel Geld als irgendmöglich, in Gold, und bringen Sie dasselbe in den beifolgenden Arbeitskörbchen, so bald als tunlich.«

Ernst und sinnend betrachtete der Oberamtmann das Papier, nachdem er es gelesen.

Mit angstvoller Spannung blickte Helene zu ihm empor.

»Wenn er flieht, gesteht er seine Schuld ein, wenn die Flucht mißlingt, wird seine Lage erheblich verschlimmert,« sagte er nachdenklich.

»Aber mein Gott,« rief Helene, »wenn er hier bleibt, wenn er lange in diesem entsetzlichen Gefängnis bleiben soll, seine Gesundheit ist noch immer nicht ganz fest nach seiner Verwundung, wenn sie ihn dann verurteilen, o ich »mag es nicht denken, ich bitte, ich bitte,« rief sie flehend, »laß ihn fliehen!«

»Wäre die Sache sicher!« sprach der Oberamtmann halb zu sich selbst, »doch, wenn auch die Flucht gelingt, so ist ihm die Heimat für lange, vielleicht für immer verschlossen. Bedenkst du das wohl, mein Kind?«

»Ich bedenke nichts,« rief Helene lebhaft, »nichts – als daß er in Gefahr ist, in ernster Gefahr, und daß es einen Weg gibt, ihn zu retten! – O, und wenn ich jahrelang von ihm getrennt sein soll, er muß fliehen, wie viel besser ist es, ihn in der Ferne, in der sicheren Freiheit zu wissen, als hier zu vergehen vor Angst – jeden Tag, jede Stunde!«

»Es ist wahr,« sagte der Oberamtmann, »auch seine Mutter würde es schwer ertragen – und im Grunde, ein Fluchtversuch, wenn er mißlingt, würde momentan seine Lage verschlimmern, aber darauf allein hin kann man ihn nicht verurteilen, und wenn es gelingt, nun, es läßt sich ja überall eine Heimat bauen.«

Mit mildem Lächeln wendete er sich zu Helene.

»Es sei gewagt,« sagte er, »in einer Stunde sollen deine Körbchen gefüllt sein, aber nichts an meine Frau und meine Töchter, sie sollen es erfahren, wenn es gelungen ist,« fügte er hinzu, indem er den Finger erhob.

»Dank, Dank!« rief Helene, indem sie die Hand des alten Herrn küßte, »ich bringe die Körbchen hierher und werde sie dann selbst zu Sonntag tragen.« [leer] Wählend dies im Hause des Oberamtmanns sich begab, ging der Tierarzt Hische langsam und ruhig über den Friedrichswall und trat in ein großes und elegantes Haus. An der Türe der rechten Parterreseite las man auf einem kleinen Schilde: Baron von Eschenberg.

Herr Hische zog die darüber befindliche Glocke.

Ein Reitknecht kam aus dem Hofe.

»Der Herr Baron zu Hause?« fragte er in gleichgültigem Tone, »ich möchte nach den Pferden sehen.«

Der Reitknecht kehrte nach einigen Minuten zurück und führte den Tierarzt in das Zimmer seines Herrn, in welchem der Baron, früherer Offizier der hannoverischen Gardes du Corps, ein junger Mann mit seinem, schwarzen Schnurrbart und vornehmen, scharf geschnittenen Zügen, auf dem Sopha lag und mit gelangweiltem Ausdruck den Dampf seiner Zigarre gegen die Decke blies.

»Guten Morgen, lieber Hische!« rief der junge Mann, sich ein wenig erhebend und dem Tierarzt die Hand reichend, »was machen Sie in diesen trostlosen Zeiten? – ich vergehe vor Langeweile und,« fügte er, seine Zigarre zwischen den Zahnen zusammenbeißend, hinzu, »vor Ärger. – Es ist doch entsetzlich, so zum Nichtstun verurteilt zu sein! – Setzen Sie sich zu mir, rauchen Sie eine Zigarre und erzählen Sie mir etwas, meine Pferde sind gesund wie die Fische!«

Der Tierarzt setzte sich neben den jungen Mann auf einen amerikanischen Schaukelstuhl und sprach ernst:

»Die Langeweile möchte ich wohl ein wenig beseitigen können, mit dem Arger wird es freilich schlimmer aussehen, der ist inkurabel in diesen Zeiten.«

Der junge Mann richtete sich halb auf und sprach, auf den Ellenbogen gestützt:

»Nun, was haben Sie, Sie sehen ja aus, als ob Sie mir etwas zu erzählen hatten!«

»Das habe ich auch,« sagte Herr Hische, »und ich will nur schnell zum Ziel kommen, denn wir haben nicht viel Zeit. – Sie wissen,« sagte er, »daß die Polizei auf den Beinen ist, man hat Wind bekommen von verschiedenen Plänen, Sie werden alle überwacht –«

»Haha,« lachte der junge Mann, »das ist nichts Neues, sehen Sie,« sagte er, nachlässig mit der Hand nach dem Fenster deutend, »ich wette, da draußen steht so eine angenehme Ehrenwache, die nicht von meinem Hause weicht, und wenn ich ausgehe, mir auf Schritt und Tritt folgt. – Den armen Wendenstein haben sie festgesetzt,« sagte er nach einer kleinen Pause, »nun, dem werden sie nicht viel tun können –«

»Sie irren, Herr Baron,« sagte Hische ernst, »sie werden ihm sehr viel tun, denn sie haben bei ihm Papiere des Herrn von Tschirschnitz gefunden, der glücklich fort ist, und da wird Herr von Wendenstein die Suppe ausessen müssen.«

»Den Teufel auch!« rief der junge Mann aufspringend, »das ist unangenehm!«

»Mehr als unangenehm,« sagte Hische, »aber die Sache darf nicht weitergehen, es ist eine Ehrenpflicht für uns alle, den Leutnant von Wendenstein fortzuschaffen.«

»Aber wie?« fragte Herr von Eschenberg lebhaft.

»Wie?« sagte Hische, »das müssen nur diejenigen wissen, welche die Sache ausführen, alle andern müssen mit bestem Gewissen und durch unanfechtbare Zeugnisse unbeteiligt sein. – Herr Baron,« sagte er nach kurzem Schweigen, »Sie haben das beste Pferd in Hannover – schnell wie der Wind und allen Strapazen gewachsen.«

»Mein Hamlet,« rief der junge Mann, »ja das ist ein Kapitalgaul, er –«

»Wollen Sie mir das Pferd geben, um den Leutnant von Wendenstein zu retten?« fragte Hische, »ob Sie es wieder bekommen, weiß ich nicht.«

»Wie können Sie fragen!« rief der junge Mann, »nehmen Sie Hamlet, aber,« fügte er hinzu, indem ein wehmütiger Ausdruck auf seinem Gesicht erschien, »wenn es möglich wäre, daß er erhalten würde, es ist ein so braves, treues Tier.«

»Herr von Wendenstein wird ihn wahrlich nicht unnütz zugrunde richten,« sagte der Tierarzt, »aber natürlich, es ist für nichts zu stehen bei einer solchen Sache, und im Grunde,« sagte er, »die Rettung des Herrn von Wendenstein ist doch immer tausend Louisd'or wert.«

»O – es ist nicht das!« rief Herr von Eschenberg lebhaft, »und hätte es den doppelten Preis, aber Sie wissen, für einen Kavalleristen ist ein Pferd keine Sache, es ist ein Freund. – Nehmen Sie Hamlet,« unterbrach er sich kurz.

»Kommen Sie in den Stall, Herr Baron,« sagte der Tierarzt, »und widersprechen Sie mir in nichts!«

Herr von Eschenberg verlieh das Zimmer und schritt über den Flur in den Hof. Der Tierarzt folgte ihm.

An der Stalltüre stand der Reitknecht. Alle traten zu den vier Pferden des Barons, welche glänzend geputzt in den sauberen Verschlagen standen.

»Nun sehen Sie nach, ob alles in Ordnung ist,« sagte der junge Mann in leichtem Tone zu dem Tierarzt, der prüfend auf die schönen Tiere blickte.

»Herr Hische wird nichts finden,« rief der Reitknecht stolz, »sie haben alle vortrefflich gefressen, es ist keine Ader an ihnen krank.«

Der Tierarzt besah und untersuchte die Pferde nach der Reihe und nickte zufrieden mit dem Kopf.

Er kam zu dem letzten, an dessen Verschlag sich eine Tafel mit dem Namen Hamlet befand.

Freundlich klopfte er den Hals des Tieres und fuhr dann mit der Hand an seinen Beinen herunter.

Mehrmals strich er aufmerksam und den Kopf schüttelnd über den linken Vorderfuß.

»Nun,« rief der Baron, »ist da etwas nicht in Ordnung?«

»Ich weiß nicht, Herr Baron,« sagte der Tierarzt, »es ist da eine kleine Verhärtung, die mir nicht recht gefallen will, bei einem andern Pferde würde ich kaum darauf achten, aber ein Tier von diesem Wert – das edle Blut ist weit empfindlicher.«

»Was kann das sein?« rief der Baron.

»Er ist doch gestern ganz gut gegangen,« sagte der Reitknecht, besorgt das Pferd anblickend.

»Noch ist es nichts,« sagte der Tierarzt, immer das Bein des Pferdes streichend, »aber es könnte wohl etwas werden, man müßte es scharf beobachten, ich würde dem Herrn Baron raten, das Pferd einige Tage in meinen Stall zu stellen, damit ich es immer unter Augen habe.«

»Wenn Sie meinen,« sagte der Baron, »aber achten Sie wohl darauf –«

»Sie kennen mich und können sich auf mich verlassen!« sprach Herr Hische ruhig, »es ist immer besser, zu vorsichtig zu sein, als daß solchem Prachtpferd etwas widerführe.«

»Gut, so will ich Ihnen das Tier zuführen lassen,« sagte der Baron.

»Es ist wohl besser, ich nehme es gleich mit,« bemerkte Herr Hische, »ich kann dann am besten seinen Gang beurteilen.«

»Auch gut, lege den Sattel auf, Johann!«

»Zuvor aber möchte ich zu aller Sicherheit die Stelle mit einer Kompresse umlegen,« sagte der Tierarzt, und mit einem schnell herbeigebrachten Stück Leinen schnürte er das Bein des Pferdes über dem Fesselgelenk ein.

Nach kurzer Zeit war das Pferd gesattelt, das Hoftor wurde geöffnet und Herr Hische stieg auf.

Der Baron klopfte den Hals des Tieres und legte sein Gesicht sanft an dessen Kopf.

»Sorgen Sie gut für das brave Tier,« sagte er, und mit wehmütiger Stimme fügte er hinzu:

»Auf Wiedersehen, mein guter Hamlet!«

Herr Hische ritt hinaus. Die festgewickelte, ungewohnte Kompresse tat ihre Wirkung, das Pferd hinkte leicht.

Ein in einfaches Zivil gekleideter Mann ging in der Allee, dem Hause gegenüber, langsam umher. Aufmerksam blickte er hinüber, als das Tor geöffnet wurde, und sah den bekannten Tierarzt auf einem verbundenen, hinkenden Pferde langsam hinausreiten. Er wendete sich um und setzte ruhig seinen Weg fort. [leer] Einige Stunden später hielt der Wagen des Oberamtmanns von Wendenstein vor dem Laden des Kaufmanns Sonntag. Frau von Wendenstein mit ihrer Tochter und Helene stiegen aus. Aufmerksam eilte Herr Sonntag und seine junge, hübsche und gewandte Frau den Damen entgegen. Helene hielt das Paket, welches ihr am Morgen gesendet war.

»Fräulein Berger bringt Ihnen die Arbeitskörbchen zurück,« sagt Frau von Wendenstein, »sie hat keines nach ihrem Geschmacke gefunden, und zugleich möchte ich einige Sachen sehen,« fügte sie hinzu, einen Zettel öffnend, auf welchem sie Notizen über ihre Besorgungen gemacht.

»Was befehlen Sie, gnädige Frau?« fügte Madame Sonntag, Frau von Wendenstein verbindlich zum Ladentische führend und ihr einen Stuhl hinstellend, und mit großer Gewandtheit unterhielt und bediente sie die alte Dame.

»Es tut mir unendlich leid,« sagte Herr Sonntag laut zu Helene, »daß Sie nichts Passendes unter den Sachen gefunden, welche ich Ihnen geschickt, aber vielleicht habe ich doch noch etwas, dort im Magazin, wenn Sie die Güte haben wollen, einen Augenblick hineinzutreten.«

Er nahm das Paket, welches Helene zurückgebracht hatte, und ging schnell durch den Laden in ein Hinterzimmer, in welchem eine Menge Waren auf Repositorien aufgestellt waren, die Türe zu diesem Zimmer blieb offen stehen, so daß man dasselbe vom Laden aus übersehen konnte.

Herr Sonntag nahm rasch von einem der Repositorien einige Körbchen und brachte sie dem jungen Mädchen.

»Das Paket enthält zweitausend Taler in Gold,« sagte Helene leise, »genügt das?«

»Vollkommen,« sagte Herr Sonntag, »ich hoffe, daß er heute abend gerettet sein wird.«

»Ich muß ihn sprechen und von ihm Abschied nehmen,« sagte Helene mit leiser Stimme, aber in festem und energischem Tone.

»Unmöglich, mein Fräulein,« rief Herr Sonntag, indem er einen Blick in den Laden warf, wo seine Frau mit Frau von Wendenstein beschäftigt war.

»Warum unmöglich?« flüsterte Helene, indem sie aufmerksam eines der Körbchen betrachtete, »ich will alles – alles tun, was die Vorsicht erfordert, aber ich bitte Sie, ich bitte Sie inständigst, machen Sie es möglich, daß ich ihn noch einmal sehe.«

Und mit tränenschimmerndem Auge blickte sie in das intelligente Gesicht des kleinen Kaufmanns.

Dieser sah sie voll Teilnahme an und dachte einen Augenblick nach.

»Gut – mein Fräulein,« sagte er dann, »vielleicht ist es sogar nützlich, wenn er mit Ihnen die Stadt verläßt, das erregt noch weniger Aufmerksamkeit. – Können Sie heute abend um neun Uhr hier sein?«

»Ich werde pünktlich kommen,« sagte Helene.

»Noch eins,« sagte Herr Sonntag, indem er durch eine Wendung dem Laben den Rücken zuwendete und ihr eine Stearinkerze reichte, »senden Sie Herrn von Wendenstein heute Abend diese Kerze, diese allein.«

Helene verbarg die Kerze in ihrer Mantille.

»Gut denn, kehren wir jetzt in den Laden zurück – nehmen Sie ein Körbchen.«

Beide verließen das Magazin, nachdem Herr Sonntag das Paket mit dem goldgefüllten Arbeitskörbchen in ein Schubfach geworfen und verschlossen hatte.

»Wie freue ich mich,« rief er Frau von Wendenstein zu, »daß das Fräulein endlich doch etwas Passendes gefunden!«

Lächelnd zeigte Helene das Arbeitskörbchen, welches sie in der Hand hielt, der alten Dame.

»Auch ich bin mit meinen Einkäufen fertig,« sagte diese aufstehend, Herr Sonntag und seine Frau begleiteten die Damen bis an den Wagen und reichten die gekauften Sachen hinein. [leer] Traurig saß am Abend der Leutnant von Wendenstein in seinem Zimmer. Der Abend dunkelte herein, in traurige Gedanken versenkt, stützte der junge Mann den Kopf auf den Tisch und blickte hinaus in das blasse Abendrot, welches matt den wolkenumzogenen Himmel erhellte.

Es war die Stunde, in welcher sich sonst die Familie um den traulichen Teetisch versammelte, und je heller dies freundliche Bild in der Seele des jungen Mannes heraufstieg, um so trüber und trauriger trat ihm die dunkle Einsamkeit um ihn her entgegen.

Er seufzte tief. »Arme Helene!« sagte er leise. »Wie anders, wie viel schöner war es doch,« flüsterte er, »der Schlacht entgegenzureiten, und doch lag in ihr die Drohung des Todes, eine größere Gefahr, als hier mir entgegentritt! Ich erinnere mich, einmal ein Bild gesehen zu haben,« sagte er, düster vor sich niederblickend, »einen jungen Mann in einer Zelle – mit der Unterschrift: ›Die erste Viertelstunde von fünfundzwanzig Jahren‹, daran erinnert mich meine jetzige Lage, doch ich bin ja schon einen Tag hier – und,« rief er, wieder mutig aufblickend, »fünfundzwanzig Jahre wird es ja wohl auch nicht dauern!«

Ein Geräusch von Schlüsseln wurde draußen hörbar, das Schloß knirschte, der Riegel wurde zurückgeschoben, die Türe öffnete sich. Der alte Diener des Oberamtmanns traf ein vom Schließer und einem Beamten begleitet, er trug einen Korb und stellte denselben auf den Tisch.

»Viele Grüße von der gnädigen Herrschaft und Fräulein Helene,« sagte er, den jungen Mann mit tiefer Teilnahme anblickend.

»Wie geht es?« rief der Leutnant lebhaft, »ist meine Mutter sehr unruhig – und Helene, was sagt sie? –«

»Die Herrschaften sind betrübt über das Unglück des Herrn Leutnants,« sagte der alte Diener, »aber sie haben guten Mut – und hoffen, daß der Herr Leutnant bald wieder frei sein werden.«

»Nun und was bringst du?« rief der junge Mann, neugierig den Korb öffnend.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte der Beamte, »ich muß jeden Gegenstand untersuchen.«

Der Diener zog aus dem Korbe einige Brödchen, welche der Leutnant auf das Ersuchen des Beamten vor dessen Augen zerbrach, dann einiges kaltes Fleisch, bereits zerlegt, eine Flasche Bordeaux und ein Glas, einen Leuchter, eine Kerze und Schwefelhölzchen. Der Beamte betrachtete jeden Gegenstand aufmerksam und schien an keinem etwas auszusetzen zu haben.

»Darf ich Sie bitten, auch diesen Bordeaux zu untersuchen?« sagte der Leutnant, ein Glas einschenkend.

Her Beamte zögerte einen Augenblick, dann trank er den Wein und sagte höflich: »Auf baldige Freilassung!«

»Ich kann nicht anstoßen, da ich nur ein Glas habe,« rief der Leutnant heiter, indem er das Glas wieder füllte, »allein daran sind wir Soldaten gewöhnt, wenn ich frei bin, werde ich Sie einladen, mit mir ein fröhlicheres Glas zu leeren.«

Der Abend war immer dunkler geworben.

Johann steckte die Kerze auf den Leuchter und zündete sie an.

»So sparsam?« rief der Leutnant, »nur eine Kerze?«

»Der Herr Oberamtmann glaubten, daß nicht mehr erlaubt wäre, morgen sollen der Herr Leutnant mehr haben, wenn es nicht verboten ist?« sagte er mit fragendem Blick auf den Polizeibeamten.

»Ich sehe kein Bedenken dabei,« bemerkte dieser.

»Und hier noch ein Buch,« sagte der Diener, einen Band aus der Tasche ziehend.

»Ich bitte,« rief der Beamte, das Buch ergreifend und sorgfältig schüttelnd.

Ein Zettel fiel heraus.

Der Beamte hob ihn auf und las: »Herzlichste und innigste Grüße, Helene.«

»Von meiner Braut!« rief der junge Mann, die Hand ausstreckend.

»Ich bedaure, Herr von Wendenstein,« sagte der Polizeibeamte, »ich darf Ihnen das Papier nicht lassen, es könnte eine geheime Schrift darauf sein, man hat dergleichen,« fügte er mit feinem Lächeln hinzu.

Traurig sah der junge Mann das Papier, welches die Hand seiner Geliebten berührt hatte, in der Tasche des Beamten verschwinden.

»Nun gute Nacht, Sie bedürfen nichts mehr?« fragte dieser.

»Nichts, ich danke, gute Nacht, Johann, herzliche Grüße zu Hause!«

Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Riegel klirrten, der junge Mann blieb allein.

Traurig setzte er sich nieder, die Einsamkeit ist schmerzlicher, wenn sie einen Augenblick durch einen Lichtstrahl aus der lebensvollen, bewegten Welt erhellt worden ist.

Er schlug das Buch auf. Es waren die Papiere des Pickwickklubs von Boz, jene unerschöpfliche Fundgrube humoristischer Welt- und Menschenkenntnis.

Der Leutnant begann zu lesen und bald zog unwillkürlich ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, er las weiter und weiter und vergaß über diesen fröhlichen, ewig jungen und frischen Lebensbildern seine Lage.

Plötzlich begann das Licht trübe zu brennen und erlosch nach kurzem Flackern gänzlich.

Überrascht erhob sich der junge Mann, suchte tastend die Zündhölzchen und wollte die Kerze wieder anzünden; statt des Dochtes fand er einen harten Gegenstand, welcher die Flamme nicht annahm.

Herr von Wendenstein nahm die Kerze vom Leuchter, um sie zu untersuchen, und fand an der Stelle des Dochtes einen kleinen, schmalen Zylinder von Metall, am untern Ende offen und so in die Mitte der Kerze gefügt, daß dieselbe äußerlich vollkommen glatt und an beiden Enden brennbar war.

Rasch kehrte der junge Mann die Kerze um, steckte sie verkehrt in den Leuchter und zündete den Docht des unteren Endes an.

Die kleine Metallröhre enthielt ein fein zusammengerolltes Blatt Papier.

Herr von Wendenstein las von einer ihm völlig unbekannten Hand die Worte:

»»Entkleiden Sie sich nicht und bleiben Sie wach, die Befreiung naht.«

»Was ist das,« lief erstaunt, »die Befreiung naht? – wie ist das möglich – aus diesem Hause? – Doch gleichviel, genug, daß die Hoffnung mir winkt, der Wink kommt von einem Freunde – warten wir.«

Und er ergriff abermals sein Buch und begann von neuem zu lesen.

Aber sein Geist folgte den Zeilen nicht, welche sein Auge las, fieberhafte Unruhe bewegte seine Nerven, er hörte in der tiefen Stille den Schlag der Uhren von den Türmen der Stadt jede Viertelstunde herüberschallen, und jede Viertelstunde schien ihm eine Ewigkeit.

Es schlug zehn Uhr, das Geräusch von Tritten und Stimmen, welches bis dahin noch durch die Korridore dumpf und unklar zuweilen zu ihm heraufgedrungen war, verstummte, die Unruhe des jungen Mannes vermehrte sich.

Es schlug ein Viertel nach zehn Uhr. Ein leises Geräusch am Schloß der Tür ließ sich hören.

Der junge Mann stand auf und blickte starr auf diese Tür, welche ihn von der Welt trennte.

Man hörte leise, kaum vernehmbar, langsam und von sicherer Hand bewegt die Feder des Schlosses spielen.

Die Tür öffnete sich ebenso langsam und geräuschlos. Ein Mann trat ein mit einem Paket unter dem Arm.

Der Leutnant sah diesen Mann mit forschender Neugier an.

Er erblickte ein völlig unbekanntes Gesicht.

»Hier, Herr von Wendenstein,« sprach der Mann flüsternd, »der Überrock eines Polizeiwachtmeisters und dessen Dienstmütze, ziehen Sie das schnell an, hier ein schwarzer Backenbart und Schnurrbart, so, jetzt den Überrock zugeknöpft, hier eine Zivilmütze, stecken Sie dieselbe in die Tasche. Jeder andere Ausweg aus dem Hause ist unmöglich, als allein der durch den großen Haupteingang. – Sie gehen die große Treppe hinab, unten stehen zwei Posten, der große Flur ist hell erleuchtet, die Tür nach der Straßentreppe offen. – Alles kommt darauf an, daß Sie schnell, fest und sicher hinausgehen, einmal aus dem Hause, sind Sie geborgen. – Hören Sie genau zu,« fuhr der Mann fort, sich nahe zu dem jungen Mann neigend und in leisem Ton in sein Ohr sprechend, »Sie gehen in das erste Bosket am Waterlooplatz, dort werfen Sie den Überrock und die Mütze fort, setzen die Zivilmütze auf, behalten aber den Bart, dann gehen Sie langsam und in ruhigem Schritt nach der Brücke, welche zum Friedrichswall führt, dort werden Sie weiteres hören. – Fragen Sie nicht,« sagte er, als der junge Mann eine Bewegung machte, »befolgen Sie genau, was ich gesagt, und nun – glückliche Reise!«

Herr von Wendenstein, der in seinem falschen schwarzen Barte, seinem Dienstüberrock und seiner Polizeimütze völlig unkenntlich war, ging mit leisen Schritten bis an das Ende des Korridors, dann stieg er rasch und fest die große Treppe hinab.

Fast hörbar schlug sein Herz, als er den großen, erleuchteten Flur betrat, auf welchem zwei Militärposten auf und ab gingen. Aus der in der Nahe gelegenen Polizeiwachtstube schallte das Geräusch ruhig sich unterhaltender Stimmen.

Der junge Mann ging mitten zwischen den beiden Posten hindurch, öffnete die äußere Tür, vor welcher auf dem Trottoir abermals ein Militärposten auf und nieder ging, und schritt in die kühle Nachtluft hinaus.

Nichts rührte sich in dem weiten Polizeigebäude, man hörte nur den ruhigen, gleichmäßigen Schritt der Schildwachen.

Herr von Wendenstein ging in ein ganz in der Nahe am Waterlooplatze befindliches Boskett, warf seine Verkleidung zur Erde, setzte die Zivilmütze auf und schritt langsam der kleinen Brücke zu, welche der Mann ihm bezeichnet.

Eine dunkle Gestalt löste sich von einer Ecke der zum Waterlooplatze führenden Straße, trat in das Boskett, welches der Leutnant verlassen, machte aus den von ihm weggeworfenen Gegenständen ein Paket und schritt dann, dies Paket unter dem Arm, langsam der inneren Stadt zu.

Der junge Mann schritt über die Brücke. Wenige Menschen gingen dort im zitternden Schein der zwischen den Bäumen hervorleuchtenden Gaslaternen.

Ein kleiner Mann mit einer bürgerlich gekleideten weiblichen Gestalt am Arm trat dem Leutnant entgegen.

»Guten Abend!« rief er mit lauter Stimme, »endlich kommst du, Vetter, wir haben dich lange erwartet, was hast du noch in der Gesellschaft getrieben? – jetzt schnell nach Hause!«

Und leise fügte er hinzu, dicht an den Leutnant herantretend:

»Kein Wort, keine Bewegung, geben Sie der Dame den Arm!«

Eine zitternde Hand legte sich auf den Arm des jungen Mannes.

»Herr Sonntag – Helene!« flüsterte dieser, aber schon schritt der kleine Kaufmann Sonntag eilig die von Bäumen eingefaßte Straße entlang, und Helene zog ihren Verlobten in raschem Schritt mit sich fort.

Bald erreichten sie das Ende des Friedrichswalls und schritten rasch dem Gehölz zu, welches man die Eilenriede nennt und das mit seinem schönen Kranze von alten, hohen Bäumen die Stadt Hannover umgibt.

Der kleine Sonntag schnitt jeden Versuch des Leutnants, zu sprechen, schnell mit der kurzen Bemerkung ab: »Warten Sie, bis wir aus der Stadt sind!«

So begnügte sich denn der junge Mann damit, in diesem eiligen, unruhevollen Gange, immerfort vorwärts schreitend, den zarten Arm sanft zu drücken, welcher auf dem seinen ruhte, und zuweilen die Hand, welche leise diesen Druck erwiderte, liebevoll mit der seinigen zu berühren.

Die drei Personen hatten die letzten Häuser der Stadt erreicht, niemand hatte sie beachtet, sie schienen aus einer Gesellschaft zurückkehrende Bürger zu sein.

Vorsichtig spähte Herr Sonntag umher. Niemand war auf weite Entfernung zu erblicken.

»Jetzt schnell in den Schatten der Bäume!« rief er und schritt den beiden jungen Leuten voran aus dem Lichtkreis der letzten Laterne hinaus.

Der Schatten der Eilenriede nahm sie auf.

»So,« rief Herr Sonntag, tief aufatmend, »die erste und dringendste Gefahr ist überwunden, mein Fräulein, Sie haben uns viel genützt, ein Mann, der eine Dame führt, erscheint niemals verdächtig, jetzt überlasse ich Sie,« fügte er lächelnd hinzu, »Ihrer Unterhaltung, wir haben noch zehn Minuten zu gehen, ich gehe zwanzig Schritt voraus, aber unter der Bedingung, daß Sie mich nicht aus den Augen verlieren und mir im Tempo meines Schrittes folgen, die Augenblicke sind kostbar.«

Und schnell schritt er auf dem in der Dunkelheit erkennbaren weißen Wege voran.

Die jungen Leute folgten ihm in leise flüsterndem Gespräch, aber sie mußten schnell schreiten, denn die dunklen Umrisse der Gestalt des Herrn Sonntag bewegten sich in unaufhaltsamer Eile vorwärts, einem Wege folgend, der zur großen, die Eilenriede durchschneidenden Chaussee führte.

Es waren Augenblicke von eigentümlicher, tiefer Bewegung, welche die beiden durchlebten. Die Freude über den glücklich gelungenen Anfang der Rettung, der Schmerz der Trennung für eine Dauer, die nicht zu bemessen war, die bange Sorge um die Gefahren der nächsten Tage, denn noch mußte ja der Flüchtling das ganze Land bis zur Grenze durchziehen, das alles füllte und schwellte diese jungen Herzen bis zum Zerspringen und schnürte sie wieder zusammen mit den eisigen Ringen einer krampfhaften, angstvollen Unruhe, es waren nur abgerissene Worte, welche sie sprachen, Worte der Liebe, Versicherungen der Treue, wehmütige Erinnerungsklänge aus der Vergangenheit, Angst und Hoffnung, Glück und Schmerz in wundersam durcheinander klingenden Tönen.

So schritten sie weiter und weiter in fliegender Eile, schnell atmend in der Erregung des hastigen Ganges und der inneren Unruhe, der frische Nachtwind strich über ihre glühenden Wangen, und vom dunklen Himmel, durch die fliegenden Wolkenstreifen, schimmerten die ewigen Sterne herab, in majestätischer Ruhe und Stille niederbückend auf diese zitternden, eilenden Menschen da unten, welche flohen vor anderen Menschen, denen sie nichts Böses getan – und die ihnen weder Haß noch Rache geweiht; des unaufhaltsam daherschreitenden Völkerschicksals verhängnisvolle Gewalt trieb die Verfolgten vor sich her, wie sie ihre Gegner trieb, sie zu verfolgen. Die Sterne aber da oben wußten nichts von diesen Kämpfen und Leiden der Bewohner der Erde, jene Steine, deren lichte Bahnen, in ewiger Ordnung und Harmonie verschlungen, sich niemals kreuzen und feindlich durchschneiden, wie die Wege der ringenden Menschen, die an der Grenze des Licht- und des Schattenreiches sich in harten Kämpfen emporringen müssen aus den Wollen der Finsternis zur ewigen Klarheit und Ruhe.

Der Weg machte eine Wendung, man sah die Öffnung der Bäume erscheinen, welche zu der großen Chaussee führte.

Herr Sonntag stand still. In wenigen Augenblicken hatten die jungen Leute ihn erreicht. Aus dem dunklen Schatten zur Seite des Weges trat ein Mann, ein Pferd am Zügel führend.

»Gott sei Dank, daß Sie glücklich da sind, Herr von Wendenstein,« sagte der Tierarzt Hische, an den jungen Mann herantretend und ihm die Hand schüttelnd, »ich habe nicht wenig Angst ausgestanden, nun, da das Schlimmste überstanden ist – wird ja Gott weiter helfen.«

»Jetzt schnell, schnell zu Pferde!« rief Herr Sonntag lebhaft drängend, »in den Halftern stecken zwei Doppelpistolen und hier,« – er zog zwei gefüllte Börsen hervor – »ist Gold, mit einer Tasche voll Gold und vier Schüssen kann man weit kommen. – Hier,« fuhr er fort, »noch einige Hände voll kleines Silbergeld, stecken Sie das in die Taschen, Sie werden es bedürfen, wo das Gold auffallen könnte. – Nun fort, suchen Sie das Meer oder die holländische Grenze zu erreichen, vor allem seien Sie bis zum Morgen irgendwo in vorläufiger Sicherheit, im dichten Walde oder bei einem Bauern, die verraten Sie nicht. Vor morgen früh wird Ihre Flucht nicht entdeckt, Sie haben acht bis neun Stunden, am Tage dürfen Sie nicht reisen, vorwärts, vorwärts!«

Der junge Mann klopfte den Hals des Pferdes.

»Das ist ja der ›Hamlet‹ von Eschenberg,« sagte er, »warum nicht mein Pferd?«

»Welche Idee!« rief Herr Sonntag, »Ihr Pferd aus dem Stall holen, das hätte ja die ganze Polizei hinter uns hergezogen.«

»Wenn es nötig ist,« sagte Herr Hische, »so opfern Sie das Pferd, aber,« fügte er hinzu, den Hals des schönen, unruhig scharrenden Tieres klopfend, »wenn es möglich ist, so erhalten Sie den braven ›Hamlet‹, geben Sie ihn irgendeinem Bauern, so wird er sicher zu seinem Herrn zurückgelangen.«

»Seien Sie versichert,« sagte Herr von Wendenstein, »daß ich das Pferd so sehr schonen werde als möglich, meinen Dank an Eschenberg für diesen Freundschaftsdienst, und vor allem auch Ihnen meinen Dank, meine Herren!« Er drückte Sonntag und Hische die Hände.

Dann wendete er sich zu Helene, welche stumm dastand, die Hände über der Brust gefaltet.

»Lebe wohl, meine Geliebte!« sprach er mit tief bewegter Stimme.

Helene breitete die Arme aus und umschlang ihn fest, das Haupt schluchzend an seine Brust gelehnt.

»Du sangst mir einst – auf Wiedersehen,« sagte er, ihr Gesicht leise emporrichtend, »als ich zum Kriege auszog, und wenn auch nach schweren Leiden, so haben wir uns doch glücklich wiedergefunden.«

»Auf Wiedersehen!« hauchte das junge Mädchen leise.

»Fort, fort, um Gottes willen!« rief der kleine Sonntag.

Herr von Wendenstein drückte sanft und innig einen Kuß auf Helenens Lippen. Dann löste er leise ihre Arme von seinen Schultern und sprang in den Sattel.

Leicht grüßte er mit der Hand, das Pferd sprang an, und in scharfem Trabe dahinreitend, verschwand er in wenigen Sekunden in der Dunkelheit.

»Gott schütze ihn!« lief Helene laut, dann brach sie in heftiges Schluchzen aus, die bange Aufregung machte nun dem tiefen Schmerze der Trennung Platz, sie brach kraftlos in sich zusammen.

»Mut, Mut, mein Fräulein,« sagte der kleine Sonntag, ihr den Arm reichend, »fassen Sie sich, er ist ja zunächst über die größte Gefahr hinaus, fassen Sie sich wenigstens, bis wir Sie nach Hause gebracht haben!«

Helene richtete sich auf und legte ihren Arm in den des Kaufmanns Sonntag.

Schweigend gingen alle Drei zur Stadt zurück. [leer]


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