Oskar Meding
Europäische Minen und Gegenminen
Oskar Meding

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Neunzehntes Kapitel.

Die Abendsonne sank auf das stille Dorf Blechow im hannöverischen Wendlande nieder, langsam zogen sich die Bauern in die Häuser zurück, hie und da entzündete sich ein Licht im Innern und schimmerte in den immer tiefer herabbunkelnden Abend hinaus, mit seinem zitternden Strahl einzelne Gruppen von jungen Burschen und Mädchen beleuchtend, welche bald lachend und scherzend, bald leise flüsternd und kosend vor den Türen der Häuser sich zusammengefunden hatten und diese Stunde des geselligen Beisammenseins so lange als möglich ausdehnten. Dann folgten die Mädchen langsam und zögernd, mit leichtem Händedruck Abschied nehmend oder kichernd und errötend vor einem kecken Scherz flüchtend, den wiederholten Rufen, welche aus dem Innern der Häuser mahnend ertönten – und bald lag alles in tiefer Stille und Dunkelheit, nur die allmählich überall erleuchteten Fenster und die hier und dort anschlagenden Hunde zeugten von dem Dasein der Bewohner in dem schweigenden Dorfe.

Oben auf der Anhöhe zeichneten sich gegen den mehr erblassenden Abendhimmel die mächtigen Umrisse des Amtshauses mit seinen hohen Bäumen ab, aber in dem großen Gebäude, das sonst, als der Oberamtmann von Wendenstein hier Haus hielt, in hellem Lichtglanz strahlte, hatten sich nur wenige Fenster erleuchtet, der neue preußische Verwalter des Amtes war ohne Familie und wohnte allein mit seinem Diener in dem weiten Hause, auf der andern Seite schimmerte ein Licht von dem stillen Pfarrhause herab, dort oben saß der Pastor Berger in ruhigem Gespräch mit dem Kandidaten Behrmann. Wehmütig folgten seine Gedanken den seinen Freunden, mit denen er hier eine lange Reihe froher und ernster Tage durchlebt hatte, mit Trauer gedachte er der vergangenen, auf immer dahin geschwundenen Zeit, aber mit Dankbarkeit und stiller Freude dachte er auch daran, daß diese neue Zeit, wenn sie ihm auch schmerzliche Trennung von lieber Gewohnheit auferlegte, doch seinem Kinde Glück und eine frohe, sonnige Zukunft gebracht habe.

Im Innern der Häuser erklangen auch fast an jedem Herde in den Gesprächen der Familien die Erinnerungen an die Vergangenheit, mehr ober minder vermischt mit zornigen Ausbrüchen gegen die neuen Zustände, welche an die Stelle jener lieben Vergangenheit getreten waren und das, was früher alltäglich und selbstverständlich gewesen war, nun in höherem, verklärtem Reiz erscheinen ließen.

In dem großen, reichen Hause des Bauermeister Deyke war das Abendessen fast beendet.

Der alte Deyke saß an dem Ende des Tisches, das Brot mit dem großen Messer vor sich, ihm zur Seite seine junge Schwiegertochter Margarete, welche seit den Weihnachtstagen als glückliche, junge Frau eingezogen war und mit ihren geschickten Händen dem alten, wohlgeordneten Haushalt neues Leben eingeflößt hatte. Sie trug die kleidsame Tracht der Bäuerinnen des Landes sauber und zierlich von feinerem Stoff gearbeitet und mit sicherer Gewandtheit versah sie ihre Pflichten als Hausfrau, den Knechten und Mädchen die kräftigen Speisen zuteilend, strahlendes Glück leuchtete aus ihren Augen, ihr Mann, der ihr gegenüber zur andern Seite des Vaters saß, folgte mit den entzückten Blicken seiner blauen, treuen Augen den anmutig geschäftigen Bewegungen der jungen Frau, und die strengen, scharfen Züge des Alten verklärten sich in freundlichem Schmunzeln, wenn seine Schwiegertochter ihm mit sorgsamer Aufmerksamkeit die besten Bissen auswählte und auf den Teller legte. Wenn dann die junge Frau den Blicken ihres Mannes oder seines Vaters begegnete, dann überflog wohl eine flüchtige Röte ihre Wangen und in lieblicher Verschämtheit schlug sie die Augen nieder, befangen durch die noch neue Würde ihrer Stellung.

Der Alte warf einen scharfen Blick über die Tafel hin, als er sah, daß alle Teller geleert waren, erhob er sich, faltete die Hände, und nachdem alle seinem Beispiele gefolgt waren, sprach er langsam mit ernstem, kräftigem Tone das alte, einfache Tischgebet des lutherischen Katechismus, alle sprachen, das Haupt neigend, das »Amen« mit, so war es unvordenkliche und unabänderliche Sitte in dem alten Bauernhause.

Dann nahm die junge Hausfrau das Brot vom Tisch, das »liebe Brot«, dem man in den rechten, alten Bauernhäusern eine Art von religiöser Ehrfurcht zollt, als der unmittelbarsten und reinsten Gottesgabe, der Frucht bäuerlicher Arbeit, der Grundlage alles bäuerlichen Wohlstandes, sie trug es selbst an seinen Ort im großen Schranke, die Knechte entfernten sich mit einem kurzen, ehrerbietigen »Gute Nacht« – und bald hatten die Mägde unter der Aufsicht Margaretens das Geschirr und Tischtuch abgeräumt und fortgetragen.

Der alte Deyke setzte sich in einen weiten, bequemen Lehnstuhl mit braunem Leder überzogen, seine Schwiegertochter stellte die Lampe mit der Glocke von weißem Milchglas – eine städtische Neuerung, welche sie in das alte Bauernhaus gebracht hatte, welche aber von dem Alten sehr wohlgefällig aufgenommen war – auf den Tisch und reichte ihrem Schwiegervater mit freundlichem Lächeln die gestopfte, halblange Pfeife, zugleich mit einer kleinen Zange die rotglühende Kohle auf den Tabak legend. Der alte Deyke tat einige große Züge und blickte dann mit einem so milden Ausdruck, dessen man sein hartes, scharfes Gesicht gar nicht für fähig gehalten hätte, auf die anmutige, junge Frau hin, welche zwei Gläser mit schäumendem Braunbier füllte und dann vor den Alten auf den Tisch die große Hausbibel in schwarzem Lederband niederlegte, in welcher er des Abends, wenn er nicht den Plaudereien seiner Kinder lächelnd zuhörte, wohl ein oder das andere Kapitel zu lesen pflegte.

Dann rückte sie einen Stuhl nahe zu ihrem Manne, welcher dem Vater gegenüber saß, und indem sie zum erstenmale am Tage in dieser traulichen Abendstunde die fleißigen Hände im Schoße ruhen lieh, lehnte sie ihr Haupt leicht an die Schulter des kräftigen, jungen Bauern, der sanft und leise mit seiner starken, arbeitsfesten Hand über ihr reiches, zierlich gescheiteltes Haar strich.

»Bald ist's ein Jahr,« sagte der alte Deyke sinnend, indem er einen langen Schluck aus seinem Glase tat und bedächtig die ringelnden Rauchwolken von sich blies, »bald ist's ein Jahr, daß wir hier des braven Oberamtmanns Geburtstag zum letztenmal« feierten, der gute, vortreffliche Herr, er ahnte damals wohl nicht, was das Jahr bringen würde, ihm, dem König und dem Lande!«

Margarete neigte das Haupt tiefer an die Brust des Gatten, es bewegte sie stets schmerzlich, wenn die großen Ereignisse berührt wurden, welche ihr angeborenes preußisches Vaterlandsgefühl in Konflikt brachten mit den Empfindungen, welche sie bei all den braven und treuen Menschen fand, die sie in ihrer neuen und lieben Heimat umgaben.

Fritz Deyke biß die Zähne zusammen, ein zorniger Ausdruck flammte über sein Gesicht und mit gepreßter Stimme sprach er:

»Ich muß nicht daran denken, was dies Jahr über uns gebracht hat, sonst erfaßt mich ein wütender Grimm, wenn ich an den König denke, der da fern in der Verbannung lebt, wenn ich an unsere Soldaten denke, die sich so tapfer geschlagen haben – überall und immer, bis zuletzt, und wenn ich dann die fremden Uniformen sehen muß, da möchte man an der Gerechtigkeit Gottes verzweifeln!«

Ernst sprach der Alte: »Das muß man niemals, können wir die Wege des Herrn ermessen? – wohl blicke ich mit Schmerz in die Vergangenheit, in welcher mein altes Leben fester gewurzelt ist, als das deine, mein Sohn, aber ich vermesse mich nicht, Gott zu meistern in seinen großen Urteilen über Fürsten und Völker. – ›Seid Untertan der Obrigkeit, die über euch Gewalt hat‹,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort, »sagt unser würdiger Pastor Berger, der ja wahrlich die alte Zeit in treuer Erinnerung trägt und von ganzem Herzen unserem armen Könige ergeben ist, und wir haben ja auch hier gewiß nicht über die neue Obrigkeit, der Gott die Gewalt gegeben, zu klagen, der Herr von Klentzin, das muß man ihm lassen, ist ein tüchtiger, gerechter und wohlwollender Mann, wenn er auch nicht so versteht zum Herzen des hannoverischen Bauern zu reden, wie der Oberamtmann, er meint es doch gut, und was mir am besten gefällt, er achtet unsere Liebe und Anhänglichkeit für das Alte –«

»Aber –« rief Fritz in unwilligem Tone.

Schnell erhob Margarete ihren Kopf von seiner Schulter, ihr Auge blitzte und indem eine flüchtige Röte ihre Wangen überzog, sprach sie lebhaft:

»Es ist nicht recht von dir, zu murren über das Schicksal, und du hast auch keinen Grund dazu, hat das letzte Jahr, das so viel verändert in der Welt, uns nicht zusammengeführt, und hat uns und unserem Hause der Segen Gottes gefehlt? – Was haben wir hinauszusehen in die Welt, wenn Frieden und Glück in unserem Hause wohnt! – Laß den Streit der Könige, er liegt uns nicht so nahe, als unser Haus und Hof und – unsere Liebe, Gott ist Richter über sie, und ist ein Unrecht geschehen, so wird er es zu finden und zu vergelten wissen! – Sieh,« sprach sie sanfter, »dort hängt das Bild deines Königs, ich ehre es – und ich bete oft für den armen Herrn, aus Liebe zu dir, ich habe nicht verlangt, auch das Bild meines Königs dort aufzuhängen, wie es mir Gewohnheit ist, seit ich denken kann, aber es tut mir weh im Herzen, wenn ich Zorn und Haß bei dir sehe, wenn ich sehe, daß du nicht daran denkst, daß – wir beide doch vor allem Eintracht, Versöhnung und Liebe in diese Zeit des Streites und der Feindschaft tragen sollten.«

Ihre klaren Augen schimmerten in feuchtem Glanz und eine Träne rann langsam über ihre Wange herab.

Rasch reichte der junge Bauer ihr die Hand, zog sie an sich und küßte ihre Augen. Er sagte nichts, aber der zornige Ausdruck verschwand von seinem Gesicht und mild und freundlich ruhte der warme Blick seines blauen Auges auf ihrem erregten Gesicht.

»Margarete hat Recht,« sagte der Alte, ernst zu den Kindern hinüberblickend, »pflegen wir den Frieden des Hauses, wenn da draußen die Stürme brausen, sorgen wir, daß auch unter der neuen Obrigkeit Recht und Gerechtigkeit im Lande walten, und danken wir Gott für das Gute, das er uns gab, hat er uns doch viel Segen ins Haus geführt.«

Sein Blick ruhte freundlich auf der jungen Frau, dann schlug er wie unwillkürlich die Bibel auf, das große Buch öffnete sich an der Stelle der Psalmen, wo der Alte so oft Trost und Erbauung gesucht hatte, langsam wendete er einige Blätter um, dann hielt er inne, sein Blick heftete sich auf eine Stelle des aufgeschlagenen Buches und mit ruhiger, fester Stimme las er:

»Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, daß in unserem Lande Ehre wohne; daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; daß Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; daß uns auch der Herr Gutes tue, damit unser Land sein Gewächs gebe; daß Gerechtigkeit dennoch vor ihm bleibe und im Schwange gehe!«

Sanft drückte Fritz seine junge Frau an sich, dann erhob sich diese, eilte hinüber zu dem Alten, der langsam das Buch wieder geschlossen hatte, und küßte in lieblich, demütiger Bewegung seine Hand, wahrend er die andere liebevoll auf ihr Haupt legte.

Während so das Leben des Dorfes Blechow sich in das Innere der Häuser zurückzog und tiefe Stille sich auf den Straßen und weit umher auf den Feldern verbreitete, erschien am Saume des dunkeln Föhrenwaldes, welcher sich ganz nahe an das Dorf heranzog, ein Reiter auf einem schlanken, schönen Pferde.

Langsam bog er sich vor und spähte rechts und links am Walde hin und die Straße hinab.

Als sich seinem Blick nichts zeigte, als die stillen Bäume und der weiße Strich des zum Dorfe hinabführenden Weges, da stieg er langsam ab, klopfte sein Pferd auf den schlanken, schweißbebeckten Hals, führte es ein wenig von der Straße in den Wald hinein und band es sorgfältig mit den Zügeln an einen Baum.

»Dank, mein tapferes Tier, sagte er, während das Pferd ihn erstaunt mit den großen, klugen Augen ansah, »du sollst bald geholt werden und den Lohn für deine Mühe erhalten, wir haben einen schönen Ritt gemacht, und einen guten Vorsprung gewonnen, freilich,« sagte er seufzend, »hilft das nicht viel in der heutigen Zeit der Telegraph«, nun immerhin vorwärts, hier bin ich auf bekannten Wegen.«

Er zog die Pistolen aus den Halftern und schritt langsam den Weg zum Dorfe hinab, von wundersam wechselnden Gefühlen bewegt. Tiefe Wehmut erfüllte ihn, wenn er der vergangenen Zeit gedachte, da er hier als Knabe gespielt, da er von der Garnison her froh dem elterlichen Hause zugeeilt war, das jetzt dort oben so finster und schweigend da lag, während er flüchtig, verfolgt dieser Straße folgte, an welcher jeder Stein, jeder Strauch ihn heimisch begrüßte. Mit Schmerz und Trauer dachte er an das Glück, das er hier gefunden, dessen höchster Blütenkranz ihm so nahe gewesen war und von dem er nun so plötzlich fern hinaus in die unbekannte Zukunft geschleudert wurde, aber bei dem allem schlug sein Herz doch mit einer gewissen freudigen Erregung unter dem Reiz dieser abenteuerlichen Lage. Diese Flucht mit ihren Gefahren, das Leben voll bunten Wechsels, voll reicher Bewegung, dem er entgegenging, das alles sprach zu seinem jungen, lebensdurstigen Herzen mit geheimnisvollen Zaubertönen, welche um so tiefer in seiner Seele wiederklangen, da sie sich mit der wehmütigen Erinnerung an die Vergangenheit vermischten.

Leichten Schrittes, die aus den Fenstern fallenden Lichtstreifen sorgfältig vermeidend, schritt der junge Mann durch die Dorfstraße und erreichte, ohne jemand zu begegnen, das Haus des alten Deyke. Er ging zur Seite nach dem erleuchteten Fenster hin, der Haushund sprang laut anschlagend gegen ihn an, erkannte aber sogleich den früher oft gesehenen Freund des Hauses und richtete sich freundlich wedelnd an ihm empor.

Der junge Mann näherte sein Gesicht den Scheiben und sah den alten Deyke mit der Bibel in der Hand, er sah Margarete aufstehen und die Hand des Alten küssen, die Familie war allein, rasch eilte er zur Tür, öffnete dieselbe so geräuschlos als möglich und trat im nächsten Augenblick in das Wohnzimmer unter diese drei braven und treuen Menschen, welche noch bewegt waren von der vorhergegangenen Szene.

»Mein Gott, der Herr Leutnant!« rief Fritz aufspringend und eilte dem jungen Mann entgegen.

Der alte Deyke richtete mit tiefem Erstaunen den Kopf empor und erhob sich langsam, wahrend Margarete ihre Schürze glatt strich und in zögernder Verlegenheit ihrem Manne folgte.

Herr von Wendenstein drückte Fritz herzlich die Hand und trat dann zu dem Alten in den hellen Lichtkreis der Lampe.

»Willkommen, Herr Leutnant,« rief dieser, kräftig die Hand des jungen Mannes schüttelnd, »herzlich willkommen! was führt Sie hierher, zu so später Stunde, wohin –«

»Aber um Gotteswillen,« rief Fritz, »wie sehen Sie aus, bestaubt, erschöpft, Pistolen in der Hand, was gibt es, was ist passiert –?«

»Ruhig, meine lieben Freunde,« sagte der Leutnant, »ruhig, sprecht nicht so laut,« und mit einem eigentümlichen, halb heitern, halb wehmütigen Lächeln setzte er hinzu: »ich bin auf der Flucht –«

»Auf der Flucht!?« rief Margarete in angstvollem Tone, wählend der alte Deyke und sein Sohn in stummem Erstaunen den jungen Mann ansahen, dessen außergewöhnliche Lage und plötzliche Anwesenheit sie nicht begreifen konnten.

»Ah,« sagte der Leutnant, sich schnell zu der jungen Frau wendend, »da ist ja die liebe Margarete, der ich auch einen guten Teil meines Lebens danke, und hübscher als je in der neuen Würde als Hausfrau, meinen herzlichen Glückwunsch!«

Er reichte der jungen Frau die Hand und sagte lächelnd zu Fritz hinüberblickend: »Dir vor allem meinen Glückwunsch, uns beiden hat der Krieg Glück gebracht, du hast das deine in Sicherheit, während ich –«

»Aber nun, ich bitte, Herr Leutnant,« rief Fritz, »erzählen Sie, was gibt es? – ist es Ernst oder Scherz –?«

»Es ist Ernst, wirklicher Ernst,« sagte der Leutnant, »ich bin auf der Flucht und die ganze Polizei, alle Gendarmen sind wohl jetzt schon auf meiner Fährte!«

»Warum, mein Gott, was ist geschehen?«

»Warum?« sagte Herr von Wendenstein, »ich weih es selbst kaum, was geschehen ist – das ist einfach, man hat mich arretiert, in das Polizeigefängnis in Hannover gesetzt, und ich bin geflohen, meine Rettung hängt davon ab, daß ich so schnell als möglich Hamburg erreiche und dort auf ein Schiff gelange, bis hierher bin ich glücklich gekommen, jetzt mußt du mir weiter helfen und mir diesmal die Freiheit retten, wie du mir das Leben gerettet hast, ich werde niemals aus deine Schuld herauskommen. – Doch vor allem bitte ich die junge Frau, mir etwas zu essen zu geben, denn ich verkomme vor Hunger und Durst.«

Margarete eilte hinaus.

Der Leutnant setzte sich an den Tisch.

»Nun aber sagen Sie uns, was diese traurige Sache bedeutet,« sprach der alte Deyke, ich habe wohl etwas gehört von Dingen, die im Werke! sind, verzeihen Sie die Frage, Herr Leutnant, sind Sie unvorsichtig gewesen und haben sich in Verschwörungen eingelassen?«

Mit fast väterlicher Teilnahme und sorgenvoller Spannung ruhte sein Blick auf dem jungen Mann.

»Nein, guter Deyke,« antwortete dieser, »ich bin nicht unvorsichtig gewesen und habe mich auf Nichts eingelassen, wißt Ihr,« fuhr er fort, »es sieht nach Krieg aus in der Welt und bald vielleicht kann der Moment kommen, wo der König wieder ins Feld zieht, um sein Land wieder zu erobern, da sind denn viele Offiziere und Soldaten ausgezogen, um sich jenseits der Grenze zu vereinen und bereit zu halten; ich aber hatte mich entschlossen, ruhig abzuwarten, ob wirklich der Krieg ausbräche, wie mein Vater es riet.«

»Er hat Recht gehabt wie immer, der Herr Oberamtmann,« rief der alte Deyke, kräftig auf den Tisch schlagend, »auch hier im Dorfe spukte so etwas herum – und mancher junge Bursche sind zu mir gekommen und haben mich um Rat gefragt, ich habe aber allen geraten, hier zu bleiben und zu warten –«

»Aber,« sagte Fritz, der mit lebhafter Spannung dem Leutnant zugehört hatte, »früher, zur Franzosenzeit, da waren doch so viele junge Burschen ausgezogen und dienten in der deutschen Legion, Ihr habt uns selbst oft davon erzählt, Vater.«

»Das war etwas anderes,« sagte der Alte ernst, »damals hatte der König sein englisches Land und seine Armee im Felde, und die hannoverschen Jungen, die da auszogen, waren rechtliche Soldaten und standen im offenen Felde, jetzt aber sollen sie herumziehen in fremden Ländern ohne regelrechte Tätigkeit und Ordnung, ohne Heimat und Schutz, das tut nicht gut, wenn der König wieder dasteht im Felde und seine Soldaten ruft, dann werde ich keinen zurückhalten, der hingehen will zu der alten Fahne, aber so weit ist es noch nicht, und so weit wird es auch wohl nicht kommen,« sagte er das Haupt neigend. – »Doch,« fragte er nach einem kurzen Schweigen, das sein Sohn nicht zu unterbrechen wagte, obgleich seine Mienen deutlich zeigten, daß er die Ansicht seines Vaters nicht teilte, »warum hat man Sie denn verhaftet, Herr Leutnant?« »Ich weiß es nicht, man muß Verdacht geschöpft haben, und dann nach meiner Verhaftung hat man meine Wohnung durchsucht und Papiere gefunden, die meinen Freunden gehörten, da muß ich denn nun die Verantwortung tragen, und wie es scheint, will man sehr strenge vorgehen, darum bin ich mit Hilfe von Freunden, die ich zum Teil selbst nicht kenne, geflohen, und gelingt es mir nicht zu entkommen, so sehe ich langer, langer Haft entgegen.«

Der Alte schüttelte traurig den Kopf.

»Welcher Schmerz für Ihre Frau Mutter!« sagte er leise.

»Wir bringen Sie fort, Herr Leutnant,« rief Fritz, »durch die Heide, da findet Sie kein Mensch.«

Margarete kam zurück. Sie trug eine große Platte mit kalten Fleischspeisen und eine Flasche Wein, breitete ein schneeweißes Tuch auf den Tisch, und bald war der Leutnant eifrig beschäftigt, durch die kräftigsten Angriffe auf die Erzeugnisse der Küche des wohlhabenden Hauses seine erschöpften Kräfte wieder zu ersetzen.

Der alte Deyke sah einen Augenblick mit zufriedenem Lächeln und mit jener fast ehrerbietigen Rücksicht, welche in den alten rechten Bauernhäusern dem Appetit des Gastes gezollt wird, der eifrigen Tätigkeit des jungen Mannes zu, dann sprach er langsam und bedächtig:

»Da das Unglück nun einmal geschehen und es so weit gekommen ist, so muß alles geschehen, um Sie so schnell als möglich in Sicherheit zu bringen, klären sich die Sachen später zu Ihren Gunsten auf, so ist es immer besser, Sie warten das in sicherer Ferne ab. – Mein Rat ist,« fuhr er fort, »Sie ruhen eine Stunde aus, dann spannen wir den kleinen Korbwagen an und Fritz fährt Sie durch die Heide, er kennt die Wege, und, so Gott will, sind Sie morgen in Hamburg.«

»Vortrefflich, vortrefflich,« rief der junge Mann, »aber,« fügte er zögernd hinzu, »ich möchte gern, da ich einmal hier bin, den alten Pastor Berger sehen, von ihm Abschied nehmen, ihm Grüße für Helene auftragen, wer weiß, wann ich alle wiedersehe,« sagte er mit weichem Tone.

»Ich will gleich zum Pfarrhause gehen,« rief Fritz, »der Pastor kommt gewiß gern her, Sie dürfen nicht ausgehen, man könnte Sie doch sehen, und wenn Sie hier auch gewiß niemand mit Absicht verrät, so ist es doch besser, daß Sie vollkommen ungesehen bleiben –«

»Ich weiß nicht, ob es gut ist,« sagte der Alte, »den armen Herrn in Unruhe zu versetzen und die Gefahr der Entdeckung zu vermehren,« doch schon war Fritz hinausgegangen, leichten Schritts das Dorf durcheilend stieg er die sanfte Anhöhe zum Pfarrhause hinauf.

Er fand den Pastor in seinem Lehnstuhl, seine lange Pfeife im Munde, auf dem Tische befanden sich mehrere Zeitschriften und einige Bogen Papier. Der Kandidat las aus einem der Hefte vor und der alte Herr hörte aufmerksam zu, machte von Zeit zu Zeit einige Bemerkungen zu dem Gelesenen, welche der Kandidat mit ruhiger, freundlicher Aufmerksamkeit entgegennahm, und notierte auch wohl hie und da einen Gedanken, der ihm während der Lektüre gekommen war.

Bei dem Eintritt des jungen Bauern zu dieser ungewöhnlichen Stunde erhob der alte Herr verwundert den Kopf.

Fritz Deyke drehte mit einem Seitenblicke auf den Kandidaten verlegen die Mütze hin und her.

»Herr Pastor,« sagte er zögernd, »mein Vater, der gerne mit Ihnen über etwas gesprochen hätte, läßt Sie recht freundlich bitten, ob Sie nicht die Güte haben wollten, einen Augenblick zu ihm zu kommen.«

Es war eine so ungewöhnliche Bitte, die der junge Bauer da aussprach, daß der alte Deyke zu dieser für die Gewohnheiten des Landlebens so späten Stunde den Pastor sprechen wollte, daß er dazu dann nicht selbst kam, das lag so ganz außerhalb der gewohnten Verhältnisse, daß der Pastor einen Augenblick schweigend den jungen Menschen ansah, während der scharfe Blick des Kandidaten von der Seite forschend auf ihm ruhte.

»Der Herr Pastor werden verzeihen,« sagte Fritz mit einiger Verlegenheit, »es ist eine Familienangelegenheit, der Vater hat eben eine Nachricht bekommen und er ist nicht ganz wohl, da möchte er Ihren Rat haben, und wenn die Bitte, noch jetzt zu ihm zu kommen, nicht zu unbescheiden ist –«

Der Kandidat stand auf.

»Es ist wohl eine Sache, die nur an dich persönlich gerichtet ist, lieber Oheim,« sprach er mit sanfter Stimme, »ich lasse dich mit Fritz allein, soll ich dich abholen?« fragte er, »der Weg ist uneben –« und abermals richtete sich sein Blick forschend auf den jungen Bauer.

»Ich werde den Herrn Pastor zurückführen,« rief dieser, »ich bitte den Herrn Kandidaten, sich nicht zu bemühen.«

Dieser senkte die Augen und leicht den Kopf gegen Fritz neigend, verließ er das Zimmer durch die Tür, welche in das Nebengemach führte.

Diese Tür schloß sich langsam hinter ihm, man hörte das laute Klappen des Schlosses. War es Zufall, daß das Schloß nicht faßte und die Tür zurückspringend eine kleine Spalte offen ließ?

Fritz bemerkte es nicht, denn kaum hatte der Kandidat sich entfernt, so trat er eilig einen Schritt naher zu dem Pastor und rief mit einer Stimme, welche durch das seiner einfachen Natürlichkeit so ungewohnte Bestreben, sie zu dämpfen, nur noch lauter wurde:

»Der Herr Leutnant von Wendenstein ist auf der Flucht hier, sie haben ihn in Hannover verhaftet, er muß schnell durch die Heide weiter und wünscht den Herrn Pastor zu sprechen, um von Ihnen Abschied zu nehmen!«

»Mein Gott!« rief der Pastor, erschrocken aufspringend, »warum, – wie?«

»Kommen Sie, kommen Sie schnell, er wird Ihnen alles erzählen, es ist keine Zeit zu verlieren.«

Fast mechanisch vertauschte der Pastor sein Hauskäppchen mit dem Barett, zündete eine kleine Laterne an und verließ, auf den Arm des jungen Bauern gestützt, das Haus.

Kaum war er hinausgegangen, so öffnete sich langsam die Tür des Nebenzimmers, der Kandidat trat herein.

Der Ausdruck evangelischer Milde war von seinem Gesicht verschwunden, hart und streng waren die Züge, feindlicher Haß zuckte um seine festgeschlossenen Lippen, sein scharfes Auge blickte sinnend gerade vor sich hin.

»Er ist entflohen,« flüsterte er in leise zischendem Tone, »er ist auf dem Wege zur Rettung, aber ein glücklicher Zufall gibt sein Schicksal vielleicht in meine Hände.«

Er schritt schweigend einige Male auf und nieder.

»Ist es nicht besser,« sprach er, »ihn fliehen zu lassen, er kann nicht wieder zurückkommen, wenigstens lange nicht, die Zeit ist mein. – Doch,« fuhr er nach längerem Nachdenken fort, »die Familie wird ihm folgen, sie können in der Schweiz eine Heimat gründen, Helene wird ihm folgen. – Nein, nein,« rief er dann, »er darf nicht entkommen, man wird mit Strenge vorgehen, sein Fluchtversuch kompromittiert ihn noch mehr, der Hochverrat wird mindestens mit einer langen Gefängnishaft bestraft werden, und im Gefängnis heiratet man nicht,« fügte er mit einem bleichen, kalten Lächeln hinzu, er darf nicht entkommen. – Aber wie es verhindern?« sagte er dann, »ich darf persönlich nicht hervortreten.«

Und finster die Augenbrauen zusammenziehend ging er abermals auf und nieder.

Endlich glitt ein leichter Ausdruck von Zufriedenheit über seine Züge.

»Das Mittel ist nicht sicher,« flüsterte er stehen bleibend, »er wird vielleicht einigen Vorsprung gewinnen, es ist indes das einzige, das mir zu Gebote steht.«

Er trat an den Tisch, nahm ein Blatt Papier und beschrieb es eifrig, sorgsam seine Handschrift durch rückwärts gelehnte Buchstaben verstellend.

Dann faltete er das Blatt zusammen, schloß es mit einer Oblate und schrieb auf die Rückseite mit derselbe verstellten Handschrift: »Dem Herrn Baron von Klentzin. – Eilig und dringend!« nahm dann seinen Hut und geräuschlos die Tür öffnend, schritt er in die dunkle Nacht hinaus.

Schnell, aber vorsichtig ringsum spähend eilte er dem Amtshause zu, das in tiefer Stille dalag, er näherte sich dem großen geschlossenen äußeren Tor, lehnte das Papier gegen dasselbe und zog dann mit raschem, starkem Zug an dem Glockenknopf.

Ein schriller Ton durchzitterte die tiefe nächtliche Stille, während der Kandidat mit eiligen Schritten in der Dunkelheit verschwand.

Der Leutnant von Wendenstein hatte inzwischen ein wenig auf dem Bett des alten Deyke geruht und mit jener wunderbaren Elastizität der Jugend, in welcher die körperliche Natur selbst unter den schwersten Aufregungen und Bekümmernissen der Seele ihre Rechte geltend macht, hatte ein kurzer Schlummer seine ermüdeten Glieder erquickt.

Schnell fuhr er empor, als der alte Deyke an sein Lager trat, um ihm zu sagen, daß der Pastor gekommen sei.

Er eilte dem Vater seiner Geliebten entgegen und umarmte ihn in tiefer Bewegung.

Während er dann dem geistlichen Herrn, der noch immer diesen so plötzlich und unerwartet hereinbrechenden Ereignissen gegenüber seine ruhige Fassung nicht wiedergefunden hatte, in schnellen Worten seine Erlebnisse der letzten Zeit erzählte, brachten Fritz und der alte Deyke einen kleinen Korbwagen in Ordnung und spannten eins der kräftigen, wohlgepflegten Pferde davor, Margarete aber füllte einen Korb mit mancherlei Speisevorräten, einer der ältesten und vertrautesten Knechte war geweckt worden und leistete hilfreiche Hand. Alles geschah schweigend und ohne Geräusch.

Es war Mitternacht, als der alte Deyke hereintrat, um zum Aufbruch zu mahnen. Der Pastor hatte ruhig die Erzählung des jungen Offiziers angehört. In stiller Ergebung hatte er die Hände gefaltet und mit tiefem Seufzer leise gesagt: »Arme Helene!«

»Wenn ich in Sicherheit bin,« rief der Leutnant, »so senden Sie ihr meine Grüße, meine treuesten, liebevollsten Grüße, noch weiß ich nicht, wie die Zukunft sich gestaltet, aber was sie auch bringen möge, mein Herz gehört ihr für ewig, und wenn es nicht anders ist, so wird sich ja auch in fremdem Lande eine Heimat gründen lassen, die unserer Liebe und unserem Glück eine Stätte bietet.«

Mit wehmütigem Lächeln sprach, der Pastor: »Gottes Wille geschehe, auch wenn er so schmerzlich eingreift in unsere Hoffnungen und Wünsche. Ich habe seit lange,« fuhr er ernst fort, »meine Gedanken gewöhnt, ihre Richtung nach unserer ewigen Heimat dort oben zu nehmen, aber das Herz zieht sich doch recht traurig zusammen, wenn so die gewohnte irdische Heimat mit ihren Erinnerungen und Hoffnungen zerstört wird.«

»Es ist Zeit zum Aufbruch,« sagte der alte Deyke, »wenn Sie noch vor dem Morgen die schützende Heide erreichen wollen, so ist keine Minute zu verlieren.«

Der Leutnant sprang auf.

»Ihren Segen, mein Vater!« rief er, das Knie vor dem Pastor beugend.

Der geistliche Herr legte die Hand auf sein Haupt und sprach:

»Der Herr segne deinen Ausgang, und beschere dir dereinst wiederum einen gesegneten Eingang, wenn aber sein heiliger Wille es anders beschlossen hat, so sei er mit dir auf deinen Wegen. Amen.«

Dann breitete er die Arme aus und schloß den jungen Mann innig an seine Brust.

»Sie müssen sich auf den Boden des Wagens ins Stroh legen,« sagte der Alte, »damit niemand Sie sieht, bis Sie ganz aus der Umgebung des Dorfes heraus sind.«

»Wird aber nicht diese nächtliche Fahrt Aufsehen erregen,« fragte der Leutnant, »und Eure Knechte und Mägde, sie müssen doch etwas merken?«

»Mein Sohn bricht immer nachts auf, wenn er zur Stadt fährt,« sagte der Alte, »um früh dort zu sein, und meine Leute sind gute und treue Hannoveraner, sie werden schweigen wie das Grab.«

»Aber Margarete, die kleine Preußin?« sagte der Leutnant lächelnd.

Eine unmutige Röte flog über das Gesicht der jungen Frau.

»Hier ist sie nur die Frau Ihres Jugendgespielen,« rief sie lebhaft,« »übrigens,« sagte sie, stolz den Kopf aufwerfend, »ist es in Preußen nicht Sitte, seine Freunde zu verraten!«

Rasch trat der junge Mann zu ihr.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er mit herzlichem Tone. »Du erlaubst es, mein alter Fritz,« fuhr er dann fort, legte seinen Arm um die Schulter der jungen Frau und drückte einen Kuß auf ihre reine, weiße Stirn.

»Noch eins,« sagte ei, »oben am Ausgang des Waldes dicht neben dem Wege steht das brave Pferd, das mich bis hierher, getragen, es gehört dem Herrn von Eschenberg in Hannover, holt es herein und pflegt es gut in eurem Stall, aber verbergt den Sattel, und habt Ihr Gelegenheit, so laßt Eschenberg wissen, daß es hier ist. – Und nun Gott mit euch!« Er nahm seine Pistolen, stieg in den Wagen und legte sich auf dessen Boden nieder, Fritz folgte ihm, ergriff die Zügel, ein Zungenschlag und dahin rollte der Wagen in die Nacht hinaus.

Lange sahen die Zurückbleibenden ihm nach. Dann führte Margarete den Pastor nach Hause, während der alte Deyke zum Walde hinausging, um das Pferd des Flüchtlings zu holen und ihm ein gastliches Asyl in seinem Stalle zu gewahren.

Der Baron von Klentzin war in seinem Zimmer beschäftigt gewesen, die Arbeiten des täglichen Amtswaltung zu erledigen, und schickte sich eben an, die Ruhe zu suchen, als jener heftige plötzliche Klingelzug das weite Haus durchschallte.

Erstaunt horchte er auf, nach einiger Zeit wurde es langsam im Hause lebendig, der Amtsdiener ging mit schweren Schlitten durch den Korridor, dann hörte Herr von Klentzin die Tür öffnen, lange Zeit darauf wieder schließen, sein Schritt kam herauf und lebhafte Worte wurden im Vorzimmer gewechselt. Der Diener des Herrn von Klentzin trat ein, ihm folgte der Amtsbedienstete.

»Der Herr Baron,« sagte der letztere, »haben gewiß den heftigen Glockenzug gehört, ich habe nachgesehen, es war niemand da, nur dieser Brief war gegen die Tür gelehnt.«

Und er reichte das Papier dem Amtsverwalter.

Dieser nahm es kopfschüttelnd, öffnete es und durchflog den Inhalt. Ein Zug tiefen Unmuts erschien auf seinem Gesicht.

»Ein Drohbrief, wie einige in der letzten Zeit gekommen sind,« sagte er leichthin, das Papier auf den Tisch werfend, und auf seinen Wink entfernten sich die beiden Personen.

»Welche Niedrigkeit!« rief Herr von Klentzin, als er allein war, »nie hätte ich geglaubt, daß unter diesem Volk, dessen Treue und Zähigkeit ich so hoch achten gelernt habe, obgleich sie mir mein Amt so schwer macht, sich diese gemeine Angeberei finden könnte!«

Er ergriff nochmals das Papier und las: »Der frühere Leutnant von Wendenstein, in Hannover wegen Hochverrats verhaftet, ist entflohen, er befindet sich hier im Hause des Bauern Dyke und wird wahrscheinlich seine Flucht selbst durch die Heide nehmen?«

Herr von Klentzin sann nach.

»Noch ist mir amtlich nichts davon mitgeteilt,« sagte er, »die Sache ist möglich, eine Bewegung unter den jungen Offizieren und Soldaten ist im Gange, aber ist es meine Aufgabe, freiwillige Polizeidienste zu tun, diesen Leuten gegenüber, die ja doch,« sagte er seufzend, »im Grunde aus Motiven handeln, die ich achten muß, auf anonyme Denunziationen hin? – Nein, gewiß nicht!« rief er lebhaft, »ist etwas an der Sache, so ist es ja wahrlich auch für uns besser, wenn der Verfolgte entkommt. Was kann es uns nützen, Märtyrer zu schaffen, welchen die Sympathie des Landes gehört und deren Strafe die Erbitterung gegen uns nur steigern kann? Und warum? Weil sie nicht von heute zu morgen die Treue vergessen können, welche sie beschworen hatten. Wahrlich, nicht durch Abschreckung und Einschüchterung werden wir die Herzen in diesem Lande gewinnen, die wir nur mit uns versöhnen können, wenn wir ihnen Achtung und Vertrauen zeigen, wenn wir ihren Schmerz ehren und sie mit schonender Hand in die neuen Verhältnisse einführen.«

Er warf das Papier auf den Tisch und ging in sein Schlafzimmer.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als abermals mit lautem Ton die Glocke durch das Haus schallte.

Diesmal war es ein Bote mit einem expressen Brief an den Amtsverwalter.

Herr von Klentzin, der sich schnell erhoben und angekleidet hatte, öffnete denselben und seufzte tief, als er ihn gelesen.

Der Gendarm soll sogleich kommen!« befahl er dem Amtsdiener, der sich eilig entfernte. »Die Sache ist richtig,« sagte er dann traurig, »hier ist die Requisition und der Steckbrief, armer junger Mann, den ich so glücklich hier im Kreise der Seinigen sah, soll ich ihn hier vielleicht von dem Hause seiner Heimat aus dem Gefängnis, der Verurteilung ausliefern? Es ist ein trauriges, trauriges Amt! – Doch meine Pflicht muß ich erfüllen,« fugte er, »der dienstliche Befehl ist da, ich werde ihn ausführen, – aber nicht mehr!«

Er ergriff den Brief des Kandidaten, näherte ihn der Flamme der Kerze und ließ ihn langsam zu Asche verbrennen.

Der Gendarm trat ein.

»Hier ist eine Requisition und der Steckbrief, es ist wahrscheinlich, wie man schreibt, daß der Verfolgte sich in die Heide gewendet hat, reiten Sie sofort aus und suchen Sie ihn zu erreichen.«

Er gab dem Gendarm die Papiere, dieser blickte in den Steckbrief, mit finsterem Ausdruck biß er die Zähne in den Schnurrbart. – Dann grüßte er militärisch und ging hinaus, kurze Zeit darauf hörte man den Hufschlag seines Pferdes, das im scharfen Trabe davoneilte.

»Und nun,« rief Herr von Klentzin, »gebe Gott, daß er ihn nicht erreiche.«

Fritz Deyke war in kurzem, ruhigem Trabe zum Dorfe hinausgefahren auf der Straße nach Lüchow zu. Als die letzten Häuser des Dorfes in der Dunkelheit verschwunden waren, hielt er sein Pferd an und ließ den Leutnant auf den Sitz neben sich steigen, dann wendete er in einen Seitenweg, und das Dorf seitwärts liegen lassend, fuhr er mit aller Schnelligkeit, welche das kräftige Pferd zu entwickeln im Stande war, der Lüneburger Heide Zu.

Beide sprachen wenig, Fritz achtete sorgfältig auf den in der Dunkelheit nur wenig erkennbaren Weg, und der Leutnant folgte, seinen Gedanken, welche bald zurückträumten in den Kreis der Lieben, die er verlassen, bald weit vorausflogen in den geheimnisvollen Reiz der unbekannten Ferne, der er entgegenging.

In einer Stunde hatten sie den Anfang dieses weiten wogenden Meeres von Heidekraut erreicht, in welchem wie auf dem wirklichen Meer nur der Horizont dem Blick sich als Grenze darbietet, der Horizont, der wie eine große Glocke rings diese weite, in kräuselnder Bewegung zitternde Fläche von kleinen Blättchen einfaßt.

Wer nie in dieser Heide war, verbindet mit ihr den Begriff des Wüsten, Öden, traurig Einsamen. So aber ist sie nicht, diese weite, weite, gleichmäßige Fläche; ein reges, wunderbares Leben webt da unten in diesen Wellen der kleinen, zierlichen beweglichen Pflanzenblättchen, welche im Hauch des Windes hin und her beben mit einem leisen, säuselnden Flüstern, und auch noch unter diesen Pflänzchen, da lebt es wieder so reich und mannigfaltig, da bauen kleine Ameisen, unberührt von dem zerstörenden Schritt des menschlichen Lebens, ihre kunstreichen Städte und Magazine, da gehen die kleinen Käfer, die bunten Fliegen einher, und blickt man aufmerksam hinab an irgend einer Stelle, so glaubt man das mikroskopische Bild eines Urwaldes zu sehen, in der freien Entwicklung der schaffenden Natur. Und wenn das Heidekraut in der Blüte steht und dies ganze graugrün wogende Meer sich mit rötlich schimmerndem Hauch überzieht, dann ruht ein süßer, lieblich seiner Duft über dieser weiten Ebene, alle jene kleinen Blütenkelche in ihrer zierlichen Unscheinbarkeit strömen ihre Wohlgerüche wie ein dem Schöpfer dargebrachtes Dankopfer zum Himmel empor, summende Bienenschwärme ziehen darüber hin und farbenschimmernde Schmetterlinge gaukeln und schaukeln auf den Blüten.

Fährt man dann durch diese Welt des stillen Pflanzen- und Insektenlebens, sorgfältig der Spur folgend, welche der letztvorhergehende Wagen das Kraut niederdrückend zurückgelassen hat, so begegnet man hie und da den Herden der Heidschnucken, jener dichtwolligen Schafe mit dem Hirten in seinem Räderkarren, und lange vorher am Horizont auftauchend tritt näher und naher das Gehöft eines Heidebauern heran, eine kleine Oase kultivierten Landes. Man hält an, erfrischt sich, wechselt freundliche Grüße, läßt sich die Spur und Richtung zur nächsten Etappe zeigen und fährt wieder weiter hinaus in die stille Ebene, auf deren unveränderte Ruhe seit Jahrhunderten der Himmel herabblickt, während ringsumher die Welt in schaffendem und zerstörendem Wechsel ihre Gestalt immer von neuem formt und wieder zerbricht.

Rasch und sicher lenkte Fritz sein Pferd durch die schweigende Heide hin, er konnte die Spur nicht sehn in dem Kraut am Boden, aber er kannte die Sternbilder, welche ihm die Richtung angeben mußten, wie alle Bewohner und Anwohner der Heide, und tiefer und tiefer drangen die Flüchtlinge in die gleichförmig wogende Ebene, umhaucht von dem kräftig tannenartigen Geruch der Heidekräuter. In einiger Entfernung folgte dem Wagen der Gendarm von Blechow.

Er ritt langsam an die Grenze der Heide vor, hielt sein Pferd an und lauschte aufmerksam dem immer schwächer werdenden Geräusch des in die schweigende Nacht hinausfahrenden Wagens.

»Dorthin fahren sie,« sagte er dann, »gut – so werde ich sie nach jener Richtung suchen, wo ich sicher bin, sie nicht zu finden. – Glauben sie etwa, die Herren da oben,« murrte er, sich im Sattel zurechtrückend, daß ich den Sohn meines alten Oberamtmanns arretieren würde, den braven jungen Herrn – wegen des neuerfundenen Hochverrats? Ich will ordentlich und pünktlich die Spitzbuben fangen, aber zu solchen Diensten, da mögen sie andere Leute suchen.«

Mit scharfem Schenkeldruck ließ er das Pferd hingehen und ritt rasch in die Heide hinein, weit seitwärts ab von der Richtung, welche der Wagen genommen hatte.

Fritz mäßigte den Schritt seines Pferdes ein wenig, um das Tier nicht zu sehr anzustrengen.

»Hier hat's keine Gefahr,« sagte er, »ich glaube nicht, daß uns irgend jemand hier begegnen wird, die Hauptsache ist, daß wir auf der anderen Seite glücklich heraus und nach Hamburg kommen.«

»Ich bin müde,« sagte der Leutnant, »laß mich die Zeit benützen, um zu schlafen.«

Fritz hielt an, dem Leutnant wurde auf dem Boden des Wagens ein Lager aus Stroh bereitet, auf welches er sich so behaglich als möglich niederstreckte, dann nahm der junge Bauer dem Pferde das Gebiß ab und reichte ihm etwas Brot und Branntwein aus dem Vorratskorbe, und nach kurzem Aufenthalt ging die Fahrt weiter, der Leutnant von Wendenstein war bald in tiefen Schlaf versunken, in welchem ihn die leichte Bewegung des flüchtig über die weiche Ebene hinrollenden Wagens nicht störte.

Die wenigen Stunden bei Nacht flogen dahin, gegen fünf Uhr morgens erhob sich ein gelblicher Schein zur Rechten der Flüchtigen, ein scharfer Wind strich über die Heide hin, das Kraut in rauschenden Wirbeln bewegend, allmählich verblaßten die Sterne, man begann die Linie des aus den äußersten Grenzen des Blickes auf der Ebene ruhenden Horizonts zu erkennen, immer klarer wurde das Licht, leichte Nebel wallten auf und zogen vor dem schärfer wehenden Winde in vielgestaltigen weißen Streifen über die weite Fläche. Gelbrot erhob sich endlich die Sonnenscheibe über den Horizont, im klaren Morgenlicht glänzten die Spitzen der kleinen Blättchen des Heidekrauts.

Fritz ermunterte das Pferd durch einen leichten Zungenschlag zu schnellerem Lauf, zog eine Branntweinflasche hervor und tat einen kräftigen Schluck.

Er hatte einen Reiter nicht bemerkt, welcher hinter dem Wagen von der Seite herkommend durch die Heide hinritt.

Als das erste Licht die weite Ebene erhellte, konnte man die Knöpfe der Uniform dieses Reiters blinken sehen, er hielt sein Pferd einen Augenblick an und folgte dann in schnellem Trabe dem Wagen.

Als der Reiter dem Wagen etwa auf fünfzig Schritt nahe gekommen war, hörte Fritz das Klirren des Säbels, welcher im scharfen Ritt gegen den Steigbügel schlug.

Er blickte schnell rückwärts, erkannte im Strahl der Morgensonne den Gendarm, ein scharfer Peitschenhieb sauste durch die Luft, das Pferd zuckte zusammen, schüttelte schnaubend den Kopf und flog über die Heide dahin, den leichten Wagen fast in Sprüngen nach sich reißend.

Der Gendarm setzte sein Pferd in Galopp.

Herr von Wendenstein fuhr empor, geweckt von den heftigen Bewegungen des Wagens.

»Bleiben Sie liegen, Herr Leutnant, bleiben Sie um Gotteswillen liegen,« rief Fritz, »wir werden verfolgt, ein Gendarm!« und indem er mit der einen Hand den jungen Mann, der sich halb aufgerichtet hatte, in das Stroh zurückdrückte, führte er einen sausenden Peitschenschlag.

Das Pferd, solcher Behandlung ungewohnt, schien instinktmäßig zu begreifen, daß es sich um einen höchst außergewöhnlichen Fall handle, den Kopf weit vorstreckend, öffnete es schnaubend die Nüstern und flog in langen Sätzen dahin, das leichte Gefährt nach sich reißend.

Aber das Gefährt, so leicht es war, hemmte die Schnelligkeit seiner Bewegung, der Gendarm, dessen Pferd in seinem Laufe durch nichts gehemmt war, gewann Terrain, er war dem Wagen bis vierzig Schritt nahe gekommen.

»Halt! – da vorn der Wagen!« rief er mit lauter Stimme.

»Geben Sie die Pistolen, Herr Leutnant,« rief Fritz, »wir können ihm nicht entkommen, und selbst wenn sein Pferd ermüdete, er verliert uns meilenweit nicht aus dem Gesicht –«

Er nahm eine der doppelläufigen Pistolen aus dem Stroh vom Boden des Wagens, und die Zügel mit den Zähnen haltend, spannte er die Hähne.

»Halt da!« rief der Gendarm, »oder ich gebe Feuer!«

Er ließ die Zügel auf den Sattelknopf fallen, man hörte das Knacken des Hahnes an seinem Karabiner.

Mit scharfem Ruck hielt Fritz sein Pferd an.

In wenigen Sekunden war der Gendarm an der Seite des Wagens.

»Halt – zurück!« rief Fritz seinerseits, seine Pistole schußgerecht erhebend, »die Sache ist ernst, mein Freund, ich bin nicht gesonnen, mich ohne weiteres hier anhalten zu lassen, die erste Kugel für Euer Pferd, die zweite für Euch, wenn Ihr mich nicht meines Weges ziehen laßt!«

Der Gendarm erhob den Karabiner und schlug an.

Die Mündungen der Waffen befanden sich in beinahe unmittelbarer Nähe einander gegenüber.

In schneller Bewegung sprang Herr von Wendenstein empor und stand aufrecht im Wagen.

»Ab das Gewehr!« rief er laut im militärischen Kommandoton.

Der Gendarm nahm den Karabiner von der Backe und wie in unwillkürlicher Bewegung rückte er in dienstlicher Haltung sich im Sattel zurecht.

»Kennen Sie mich?« fragte der junge Mann ruhig.

»Zu Befehl, Herr Leutnant,« sagte der Gendarm, »ich bin zuweilen mit Meldungen nach Blechow gekommen, und auch nach Lüchow und habe den Herrn Leutnant öfter gesehen!«

»Haben Sie Order, mich zu arretieren?« fragte Herr von Wendenstein weiter.

»Zu Befehl, Herr Leutnant, an alle Ämter ist eine Requisition und ein Steckbrief gekommen, und von allen Seiten wird nach dem Herrn Leutnant gesucht.«

»Wo haben Sie gedient?«

»Bei den Cambridge-Dragonern, Herr Leutnant, aber lange vor Ihrer Zeit bin ich zur Gendarmerie kommandiert.«

»Ihr seht,« rief Fritz mit ungeduldiger Lebhaftigkeit, »Ihr seid einer und wie sind zwei, Ihr habt einen Schuß und wir haben vier, jetzt kommt an und wagt es ein wenig, uns aufzuhalten!«

Der Gendarm hob seinen Karabiner und schlug gegen das Wagenpferd an.

»Sei still, Fritz und sprich keinen Unsinn!« rief Herr von Wendenstein, »glaubst du, daß ein alter Kavallerist sich fürchtet? – Hören Sie mich an,« sagte er, zu dem Gendarm gewendet, der seine Waffe wieder sinken ließ, »glauben Sie, daß ich eine gemeine Handlung, ein ehrloses Verbrechen begangen habe?«

»Nein, Herr Leutnant, das glaube ich nicht!« rief der Gendarm mit lauter, fester Stimme.

»Nun denn,« sagte Herr von Wendenstein, »ich sage Ihnen, ich weiß nicht, weshalb man mich verfolgt, ich bin im Herzen meinem alten Herrn treu, aber ich habe auch von allem dem nichts getan, was man jetzt Hochverrat nennt, aber wenn man mich fängt, so wird man mich verurteilen, zum Zuchthaus verurteilen – mit Dieben und Fälschern. Wollen Sie, ein alter Soldat, einen Offizier Ihres früheren Regiments dem Zuchthaus ausliefern, so greifen Sie mich an, versuchen Sie mich zu arretieren, aber ich bitte Sie um eins, wenn Sie schießen, so zielen Sie gut, denn ich will lieber von der Kugel eines alten Soldaten fallen, als im ehrlosen Gefängnis zugrunde gehen.«

Tiefe Bewegung zuckte über das Gesicht des Gendarmen.

»Ich habe Weib und Kind, Herr Leutnant,« sagte er, »wenn man erführe –«

»Was soll man erfahren?« rief Fritz, »Seht, um uns ist die alte treue Heide, über uns der Himmel und darin der alte Gott, kein Mensch sieht und hört uns, und ich bin auch Soldat gewesen, kurze Zeit freilich, ich habe meinen Leutnant da zum Tode verwundet vom Schlachtfeld von Langensalza getragen, glaubt Ihr, daß ich Euch verraten werbe, wenn Ihr helft, ihn zu retten?«

Der Gendarm schwieg einen Augenblick.

»Glückliche Reise, Herr Leutnant, der liebe Gott sei mit Ihnen!« rief er dann, wendete schnell sein Pferd und jagte seitwärts in die Heide hinein.

»Gott segne den braven Kerl,« rief Fritz. »Nun vorwärts, hoffentlich begegnen wir keinem zweiten!«

Und sie fuhren schnell weiter.

Nach einiger Zeit erschien in der Ferne, schräg durch die Heide kommend, ein anderer Wagen, eine Chaise mit Halbdeck, mit zwei Pferden bespannt.

»Sollen wir ausweichen?« fragte Fritz, »wir würden viel Zeit verlieren.«

»Der Wagen sieht nicht bedenklich aus,« sagte der Leutnant, »also immer vorwärts!«

Der zweite Wagen hatte etwas hinter den Flüchtlingen die in das Heidekraut eingedrückte Wegspur erreicht, auf welcher sie sich befanden, und dieser ebenfalls folgend, näherte er sich ihnen schnell, da seine zwei kräftigen Pferde ihn schneller vorwärts brachten, als das bereits ermüdete Pferd des jungen Bauern zu laufen vermochte.

Ein Kutscher in der Tracht der Landleute saß auf dem Bock der Chaise, er nickte freundlich, als er an Fritz und dem Leutnant vorbeifuhr.

Ein junger Mann, in einen Mantel gehüllt, mit blondem Bart, sah unter dem Halbdeck hervor.

»Mein Gott!« rief er, »Herr Leutnant, wie kommen Sie hierher?«

Sein Kutscher hielt an.

Fritz brachte sein Pferd zum Stehen – und griff unwillkürlich nach der Pistole.

»Guten Tag, mein Herr!« sagte der Leutnant, »ich erinnere mich, Sie gesehen zu haben, aber ich kann mich in der Tat nicht besinnen –«

»Sie standen auf Feldwache, Herr Leutnant, vor Göttingen,« sagte der junge Mann in der Chaise, »ich passierte die Vorposten als Kurier, ich bin der Kanzlist Duve, Sie waren mit einem andern Offizier Ihres Regiments – und gaben mir ein Glas Grog auf den Weg –«

»Der arme Stolzenberg,« sagte Herr von Wendenstein seufzend, »ja, ja, ich besinne mich, Sie gingen zu den Hessen, und nun,« fuhr er abermals seufzend fort, »treffen wir uns hier in der Heide.«

Herr Duve sah ihn mit seinem Lächeln an.

»Sollten wir uns vielleicht in gleicher Lage befinden?« fragte er.

Herr von Wendenstein blickte ihn forschend an.

»Was mich betrifft,« fuhr Herr Duve fort, »so bin ich auf der Flucht, hier dieser Mann« – er deutete auf den Kutscher – »ist ein braver Bauer, der niemand verrät, ich gehe nach Altona, um mich nach England zu retten.«

»Man hat Sie arretiert?« fragte Herr von Wendenstein ein wenig zögernd, »und wie sind Sie entkommen?«

Herr Duve lachte. »Zwei preußische Polizeibeamte holten mich von meinem Bureau,« sagte er, »da man Papiere bei mir vermutete, die man haben wollte, sie führten mich nach dem Ministerium des Innern, wo man mich vernehmen sollte, da sie aber mit den Lokalitäten unbekannt waren, so führte ich sie durch einen wenig betretenen Gang in ein abgelegenes Zimmer, sprang schnell hinaus, drehte von außen den Schlüssel um und überließ sie einstweilen ihrem Schicksale, während ich bei einem ganz unbeobachteten und unverdächtigen Freunde Zuflucht suchte.«

»Und hat man Sie nicht gesucht und verfolgt?« fragte Herr von Wendenstein lachend.

»Man hat mich gesucht und verfolgt durch das ganze Königreich,« sagte Herr Duve, »aber ich bin vier Wochen in Hannover geblieben, jetzt glaubt man wohl, ich sei längst fort! – Sie können mir trauen,« sagte er dann, »und wenn ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann –«

»Wohlan, mein Herr,« sagte der junge Offizier, »ich bin der Leutnant von Wendenstein – und –«

»Ich weiß alles,« rief Herr Duve, »denn in meinem Versteck bin ich immer gut unterrichtet gewesen, die ganze Polizei ist nach Ihnen auf den Beinen, kommen Sie mit mir, alles ist für meine Flucht vorbereitet, wenn wir nicht ganz besonderes Unglück haben, so bringe ich Sie glücklich durch, steigen Sie in meinen Wagen, Ihr Pferd ist ohnedies müde, lassen Sie uns keine Zeit verlieren!«

Fritz hatte den jungen Mann und den Kutscher forschend beobachtet.

»Tun Sie es, Herr Leutnant,« sagte er, »Sie kommen schneller fort, und wir haben ja auch noch nichts für die Überfahrt vorbereitet, da würden Sie noch große Gefahr laufen, ich werde so schnell als möglich nach Lüchow fahren und von dort mit Einkäufen zurückkommen, das wird allen Verdacht ablenken –«

Der Leutnant stieg ab, Fritz sprang ebenfalls zur Erde.

»So lebe denn wohl, mein alter Freund,« rief Herr von Wendenstein, »tausend Dank für diese zweite Rettung, und tausend Grüße an alle – alle!« sagte er mit inniger, wehmütiger Stimme.

Fritz ergriff ehrerbietig seine Hand, der Leutnant breitete seine Arme aus und drückte ihn an seine Brust.

»Gute Reise, Herr Leutnant – und glückliches Wiedersehen!« sagte er mit halb erstickter Stimme, die sich in ein leises Schluchzen verlor.

Herr von Wendenstein sprang in die Chaise, rasch zogen die Pferde an und dahin rollte der Wagen in die Ferne.

Lange sah ihm Fritz mit seinen treuen, klaren Augen nach, dann stieg er auf seinen Wagen, und seinem Pferde Zeit zur Erholung gönnend, fuhr er langsam seinen einsamen Weg rückwärts durch die schweigende Haide.

Der Leutnant von Wendenstein fuhr mit Herrn Duve ohne jede bedenkliche Begegnung in die Gegend von Hamburg. Hier verließen sie den Wagen, ließen Mantel und Pistolen in demselben zurück und schlenderten lachend und plaudernd wie harmlose Spaziergänger in die alte Hansestadt hinein. Ebenso langsam, oft die Schaufenster der glänzenden Läden betrachtend, durchschritten sie die Straßen, und als die Abendsonne unter dem Horizont zu sinken begann, gelangten sie an den Hafen.

Langsam gingen sie auf dem Kai auf und nieder, als mit nachlässigem Gruß ein Mann mit rotem, wetterrauhem Gesicht auf sie zutrat und neben ihnen herging.

»Lassen Sie uns noch einige Augenblicke auf und niedergehen, wenn jemand da sein sollte, der uns beobachtete, was ich aber nicht glaube.«

Er zog ein Zigarrenetui von Panamastroh aus der Tasche und offerierte ihren Inhalt den beiden Flüchtlingen, indem er einen leicht forschenden Blick auf Herrn von Wendenstein warf.

»Ein Leidensgefährte, den Sie auch in Sicherheit bringen müssen,« flüsterte Herr Duve, indem er seine Zigarre an der des Fremden anzündete und sie dann an Herrn von Wendenstein reichte.

»Gut,« sagte der Mann, »aber warten wir noch etwas, bis es dunkler wird.«

Der Abend sank immer mehr herein, die Gaslaternen entzündeten sich. Die Häuser und Schiffe warfen ihre langen Schatten über den Kai. Der Fremde blieb an einer Landungstreppe stehen.

Mit leichtem, kaum hörbarem Ruderschlag schoß ein kleines Boot heran, von zwei Matrosen bedient.

Die drei Personen stiegen ein.

Wie ein Pfeil schoß das Boot durch das Labyrinth von nebeneinanderliegenden Schiffen hin und legte sich in kurzer Zeit an die Seite einer Brigg, an deren Spiegel mit großen goldenen Buchstaben: »Johanna von Emden« stand.

Man stieg hinauf. Schweigend folgten die beiden Flüchtlinge ihrem Führer in die Kajüte.

»Hier,« sagte dieser, eine kleine Lampe anzündend, »sind Sie in Sicherheit, glänzend ist die Gastfreundschaft meiner Kajüte nicht, aber sie wird Sie schützen. – Nur müssen Sie noch zwei Tage hier bleiben und die Kajüte nicht verlassen, die beiden Matrosen, die uns hergerudert, sind zuverlässig und treu, die übrige Mannschaft habe ich heute an Land beordert. Übermorgen werde ich klar zum Auslaufen sein, dann müssen Sie auf eine Stunde in den Holzraum, wenn die Hafenpolizei an Bord kommt. Jetzt aber eine kleine Stärkung, das wird Ihnen Not tun.«

Und mit geschäftigem Eifer brachte der Kapitän seine kräftigen Speisevorräte und einige Flaschen vortrefflichen Bordeaux herbei, die jungen Leute erwiesen seiner Gastfreundschaft alle Ehre – und versanken dann auf Lagerstätten, die man am Boden der Kajüte aus den Bettvorräten des Kapitäns improvisierte, in einen so tiefen und süßen Schlaf, wie ihn die Jugend und das Gefühl überstandener Gefahren nur verleihen kann.

Am dritten Tage lief die Brigg aus, alle Formalitäten waren erfüllt, die Beamten der Hafenpolizei hatten alle Räume genau durchsucht und alles in Ordnung gefunden.

Die Brigg segelte die Elbe hinab an Cuxhaven vorbei, und als sie auf der hohen See angekommen war, da traten der Leutnant von Wendenstein und Herr Duve auf das Verdeck heraus und blickten ernst hinüber nach dem grauen Landstreif der Küste, der immer mehr mit dem Horizont zu verschwimmen begann.

»Leb' wohl, mein Vaterland, leb' wohl, Deutschland!« flüsterte Herr von Wendenstein, »wann werde ich dich wiedersehen? leb wohl, Helene!« sagte er noch leiser, während ein tiefer Seufzer seine Brust hob.

Der Kapitän trat heran und klopfte ihm auf die Schulter.

»Jetzt sind Sie gerettet,« sagte er, indem ein helles Lächeln über sein rotes, ehrliches Gesicht flog, »nun lassen Sie das Land hinter sich liegen und sehen Sie vorwärts, kommen Sie, wir wollen ein Glas trinken – auf gute Fahrt in Ihre Zukunft!«


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