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16. Ferne Weissagung erfüllt sich

Nun kamen Intschu inta, Hammerdull und Holbers vom Schloß zurück. Sie brachten die gewünschten Fackeln. Ich nahm zu den dreien noch einige zuverlässige Winnetous und stieg mit ihnen, von andern unbemerkt, in den Gang, der unter der Kanzel mündete.

Da, wo der Gang zu dem andern, nach dem Passiflorenraum führenden, stieß, sah es arg aus. Zu den Stalaktiten, die wir aufgehäuft hatten, war eine Menge andres Geröll gekommen, so daß wir fast eine Stunde brauchten, uns einen Weg zu bahnen. Von dort ging es dann zu der Stelle, wo der schmale Weg mit dem breiten zusammentraf, der hinter dem Schleierfall mündete. Das war der Punkt, wo ich den ersten Riß in der Decke und das erste Abbröckeln des Gesteins bemerkt hatte. Dort war der Gang vollständig verschüttet; wir konnten nicht einmal bis ganz zu der Einsturzstelle vordringen. Aber wir trafen auf zwei Menschen, die nebeneinander an der Erde saßen und sich nicht rührten, als wir uns ihnen näherten. Eine ausgelöschte halbe Fackel lag neben ihnen. Es waren die beiden entflohenen Medizinmänner, die an der Spitze unsrer viertausend Gegner durch die Höhle marschiert waren. Sie bewegten sich nicht und kannten uns kaum. Der Schreck und die überstandne Todesangst hatten ihnen die Sinne verwirrt. Sie starrten verstört vor sich hin und waren nur schwer zum Sprechen zu bringen. Es kostete uns viel Zeit und Mühe, uns aus ihren verworrenen Antworten zusammenzureimen, was geschehn war.

Sie hatten die Pferde im Tal gelassen und waren zu Fuß in die Höhle gedrungen. Da sie Zeit hatten, rückten sie nur langsam vor. Als das Verhängnis hereinbrach, befanden sie sich grad am Ende des breiten Reitwegs, glücklicherweise nicht im Mittelpunkt, sondern am äußern Rand des Zerstörungsbereichs. Es hatte einen Luftstoß gegeben, der sämtliche Fackeln auslöschte. Die Wände zitterten, der Boden bebte, die Decke krachte. Viele wurden von dem herabstürzenden Gestein getroffen. Es brach eine ungeheure Verwirrung aus. Man dachte nur noch an Flucht. Aber wohin? Die einen drängten vorwärts, die andern rückwärts. Alles schrie und brüllte. Einer riß den andern nieder. Einer trat und stampfte auf dem andern herum.

Da versiegte plötzlich der Fluß. Bald aber kam er um so stärker wieder. Das war, als droben ein See entstehn wollte, der glücklicherweise in einem Strudel verschwand. Unten in der Höhle ergab das eine gewaltige Hochwelle, die alles überflutete und jeden, der nicht irgendwo festen Halt fand, mit sich fortriß. Diese Flutwelle hatte eine solche Gewalt, daß sie große, schwere Felsstücke mit sich fortschleppte, die sie unten an der Mündung in gewaltiger Menge absetzte. Dadurch entstand ein undurchdringliches Bollwerk, das den Roten die Flucht aus der Höhle zurück ins freie Tal unmöglich machte. Mehr und mehr verstopfte sich der Ausgang, so daß kaum noch das Wasser abzufließen vermochte.

Nur stockend und in abgerissenen Sätzen erzählten das die beiden Medizinmänner, denen das Grauen noch in allen Gliedern lag. Mitunter brachen sie ihre Rede ab, und ich mußte sie durch Fragen und Ermunterungen erst wieder antreiben. Dann sprachen beide plötzlich erneut durcheinander. Es war nicht leicht, Ordnung in diesen Wirrwarr zu bringen und sich dabei ein richtiges Bild zu formen.

Jetzt aber schienen ihre Lebensgeister erwacht zu sein, aufgerüttelt von der Wucht der Rückerinnerung an das furchtbare Geschehn der letzten Stunde. Ihre Darstellung wurde klarer, und wo der eine in seiner Schilderung nicht weiterfand, sprang der andre ein.

»Wir konnten uns nur nach oben retten«, sagte der Komantsche und machte dazu unwillkürlich eine entsprechende Armbewegung. »Die zurückgeflohen waren, kehrten wieder um und drängten auswärts. Aber auch da war der Weg verschüttet.«

Der Mann ließ Arme und Schultern sinken, als habe er soeben erst die gräßliche Entdeckung gemacht, sich und die Seinen tief unter der Erde lebendig begraben zu finden. Ein kurzes Schweigen entstand, in das plötzlich wieder die Stimme des Kiowa klang.

»Nicht ganz verschüttet«, verbesserte er seinen Schicksalsgenossen. »Das bemerkten wir nach einiger Zeit. Die gewaltigen Steinmassen, die niedergestürzt waren, hatten eine Lücke freigelassen. Freilich mußte man nun erst vorsichtig untersuchen, wie weit und wohin sie führte, und dazu wurden mein roter Bruder und ich bestimmt, weil wir ja die Führer waren.«

»Nun verstehe ich, warum ich euch hier finde, getrennt von den andern«, nickte ich. »Ihr seid durch die Lücke vorwärtsgedrungen bis hierher und wolltet vermutlich bald wieder umkehren, um nach rückwärts zu melden, daß der Weg frei sei, da ...«

»... da zitterte und dröhnte die ganze Höhle zum zweiten Mal«, fiel mir der Komantsche ins Wort. »Mein Bruder und ich liefen vor dem Tod, obwohl wir ihm nicht zu entrinnen hofften; denn wir fühlten, daß Manitou gegen uns war und uns zürnte. Was hinter uns geschehn ist, wissen wir nicht. Unsre Sinne hatten uns verlassen. Nach einiger Zeit fanden wir uns hier an diesem Platz, wo wir unser Ende erwarten wollten.«

Es war erschütternd, diese Männer, die zu unsern grimmigsten Feinden zählten, so reden zu hören, und ich glaubte, die Gelegenheit nützen und ihnen ein paar ernste Worte sagen zu müssen, solange sie im Innern noch aufgewühlt und für eine Ermahnung empfänglich waren.

»Die roten Männer haben die Wahrheit gesprochen«, begann ich. »Manitou zürnt ihnen. Er zürnt allen, die gegen den ehrwürdigen Tatellah-Satah stehn. Er läßt das Grauen des Todes über sie kommen, damit sie erkennen, daß sie auf dem falschen Weg sind. Doch Manitou grollt nicht ewig. Er ist gerecht und weiß zu strafen, aber er ist auch die Liebe und verzeiht gern denen, die ihren Irrtum einsehn und zur Besserung bereit sind. Darum hat er uns hierher gesandt zu eurer Rettung. Kommt mit uns! Wir wollen euch wieder ans Licht der Sonne führen. Dann werden wir daran gehn, auch eure Brüder zu retten, soweit sie dem Verderben entronnen sind.«

Die beiden gehorchten schweigend. Sie fragten nicht einmal, ob wir sie fortan als Feinde behandeln oder ihnen verzeihen würden. So kehrten wir durch den Gang an die Oberwelt zurück.

Hier sahen wir, daß es dem Ingenieur und seinen Leuten inzwischen gelungen war, eine Notbeleuchtung zu schaffen. Bei ihrem Schein führte ich die Medizinmänner nach der Kanzel, wo Tangua mit seinen Genossen gefangen saß.

Als er die beiden Roten erkannte, jubelte er auf.

»Gerettet! Gerettet! Sie waren die Führer! Wenn sie mit dem Leben davongekommen sind, ist auch Pida nicht tot!«

Das war nun freilich ein voreiliger Schluß. Ich nahm mir jedoch nicht Zeit, ihn über seinen Irrtum aufzuklären, sondern schickte ihm einfach die Medizinmänner hinauf, die ihm berichten sollten. So war ich die beiden los und hatte sie zudem auf der gutbewachten Kanzel in sicherer Obhut.

Mein nächster Gedanke galt Old Surehand; er hatte die Arbeiter unter sich, die wir jetzt brauchten. Ich fragte mich zu ihm durch und besprach mit ihm das Rettungswerk. Das war in wenigen Minuten geschehen. Dann rief er seine Leute zusammen und teilte ihnen mit, worum es sich handelte. Das furchtbare Naturereignis hatte auch diese rauhen Gesellen gepackt und aufgerüttelt. Sie dachten nicht mehr an Empörung, sondern waren sogleich bereit, in die Höhle zu steigen. Sie wollten den Versuch wagen, einen Weg durch die niedergebrochenen Erd- und Gesteinsmassen zu bahnen. Dabei zeigte sich das elektrische Licht von hohem Wert. Mit Hilfe von Drähten, die in Mengen vorhanden waren, wurde es in den unterirdischen Gang geleitet. So brauchten die Leute nicht bei dem ungewissen Schein und dem lästigen Qualm brennender Fackeln zu arbeiten.

Während auf diese Weise die Männer ihre Kräfte anspannten, ja sogar ihr Leben daran setzten, den Verschütteten Hilfe zu bringen, ließ ich alle Frauen, die es in der Zeltstadt am Mount Winnetou gab, zusammenkommen und sprach kurz zu ihnen von den Pflichten, die ihrer jetzt warteten. Viele Worte brauchte ich da nicht zu machen, denn ich hatte in der Hauptsache Indianerinnen vor mir, die wußten, was zu tun ist, wenn Männerwunden zu verbinden und zu heilen, Kranke zu betreuen und zu pflegen sind. Immerhin lag hier ein besonderer Fall vor. An die viertausend Menschen sollten untergebracht werden, eine ungewöhnlich hohe Zahl, und die meisten Schwierigkeiten würde es voraussichtlich bereiten, die Ernährung so vieler sicherzustellen.

Diese Dinge konnte ich nun freilich wieder nicht allein mit den Frauen verhandeln; dazu brauchte ich abermals Old Surehand. Ich fand ihn mit Apanatschka in der Höhle, wo sie gewissermaßen die Oberaufsicht bei den Ausgrabungsarbeiten führten. Ein Wort von mir, und sie folgten mir in einen abseits gelegenen Winkel, wo wir uns ungestört besprechen konnten.

Die sachliche Seite der Angelegenheit war erfreulicherweise in kurzer Zeit geregelt. Old Surehand verfügte am Mount Winnetou über weit größere Vorräte von Lebensmitteln, als ich erwartet hatte, und neue Lieferungen waren verhältnismäßig leicht zu erhalten. Wegen der Unkosten, die ihm so entstanden, wollte er sich mit den Häuptlingen der in Frage kommenden Stämme einzeln einigen.

Old Surehand zeigte sich, ebenso wie Apanatschka, bei diesen Verhandlungen sehr höflich und freundlich. Aber ich merkte den beiden unschwer eine leise Verlegenheit, wenigstens eine gewisse Unsicherheit mir gegenüber an. Den Grund dafür glaubte ich zu erraten, und so beschloß ich denn, dem unerquicklichen und außerdem zwischen uns alten Kameraden unnatürlichen Zustand der Entfremdung ein Ende zu bereiten. Dabei mußte ich freilich sehr behutsam und taktvoll zu Werke gehn: denn ich hatte einerseits meinen Stolz für mich und mochte mir nichts vergeben, zumal ich ja den beiden nichts angetan hatte; anderseits aber durfte und wollte ich auch das stark ausgeprägte Ehrgefühl der Freunde von ehedem nicht verletzen.

»Ja«, sagte ich scheinbar leichthin, um die Absicht der Überleitung zu verschleiern, »das war wieder einmal ein erschütterndes Erleben, und ich weiß nicht, was mich innerlich mehr gepackt hat, dieser Zusammenbruch hier am Mount Winnetou oder die Dinge, die wir drei vor Jahren gemeinsam durchmachten, als wir hinaufritten nach dem Devils-head, das furchtbare Ende des alten Wabble und alles, was dann kam, bis hin zum Tod des angeblichen Generals Dan Etters.«

Ich sah, wie die Augen Apanatschkas durchdringend auf mir ruhten, denn wir standen nicht im Finstern; die elektrische Notbeleuchtung reichte bis in unsre Ecke. Apanatschka schien mich im Grund meiner Seele prüfen und erraten zu wollen, worauf meine Worte abzielten. Er schwieg. Old Surehand aber, dessen Blick an mir vorbeiging, suchte nach einer Antwort und fand sie auch.

»Ich meine«, begann er, »das Heute ist schlimmer und gewaltiger. Damals starb ein alter Sünder und verunglückte ein großer Verbrecher, im ganzen zwei Menschen. Hier handelt es sich um viertausend, von denen vielleicht kein einziger mehr lebt; und diese viertausend sind obendrein weder Sünder noch Verbrecher, sondern einzig ... Irregeleitete.«

Da war es heraus, das entscheidende Wort. ›Irregeleitete‹ hatte er gesagt. Das war ein Geständnis, wofür ich ihm am liebsten sogleich die Hand gedrückt hätte. Er sah mich jetzt gleichfalls an, ebenso wie Apanatschka, und so trafen sich unsre Blicke, hielten sich gegenseitig fest und sprachen von Wiederverstehn und Versöhnung.

»Irregeleitete«, nickte ich, »ja, das ist der richtige Ausdruck, und ich freue mich, Mr. Surehand, daß Ihr die Dinge jetzt so seht. Ich sage das wirklich nicht aus Rechthaberei, sondern um der Verständigung willen.«

Da zuckte es plötzlich auf in den Augen Apanatschkas. Der stolze Krieger hatte offenbar soeben einen seiner schönsten Siege erfochten, den Sieg über sich selbst. Und richtig, seine Rede bestätigte sogleich meine Vermutung.

»Mr. Shatterhand«, sagte er mit seiner vollen, klangreichen Stimme, »wir wollen es kurz machen, wir wollen offen gegen Euch sein und Euch ein Geständnis ablegen. Das mit dem Riesendenkmal war ein Irrtum. Was uns veranlaßt hat, den törichten Plan so hartnäckig zu betreiben, gehört nicht mehr hierher. Seid großzügig und erlaßt es uns, darüber zu sprechen! Die Hauptsache ist, wir haben eingesehn, daß unser Bestreben falsch war.«

Statt einer Antwort streckte ich ihm die Hand entgegen. Er legte seine Rechte hinein, die ich ihm herzhaft drückte. Dabei sagten unsre Blicke, was die Lippen verschwiegen. Und nun mochte auch Old Surehand nicht zurückstehn.

»Ich darf doch mit im Bund sein?« lächelte er. Und als ich nickte und auch ihm die Hand zur Versöhnung bot, fuhr er eifrig fort: »Wißt Ihr auch, wodurch die Wandlung in uns angebahnt wurde? Durch Eure Vorlesungen! Ihr habt den lebendigen, den echten Winnetou vor uns hingestellt, da mußte der steinerne Götze in uns zerbrechen, schon bevor er in Wirklichkeit in die Tiefe sank. Das Naturereignis hat dann nur den letzten Rest innerer Gegenwehr in uns beseitigt und uns zu dem Entschluß gebracht, unsern Irrtum offen zu bekennen. – Ja, das war ein Zusammenbruch! Und auch eine gewaltige Ohrfeige für uns und die Jungens. Der Spaß, den wir uns da gestattet haben, kostet uns ein Heidengeld. Unsre Söhne bezahlen ihn mit einem guten Teil ihres künstlerischen Selbstbewußtseins, und wir Väter haben bedeutende Summen an die Sache gewendet, Summen, die wir nun leider als verloren betrachten müssen.«

»Verloren nur für den Augenblick«, tröstete ich ihn.

»Wieso?« fragte er rasch.

Ich war froh, den beiden wiedergefundenen Freunden, in denen endlich die alte, ehrliche Westmannsart wieder durchgebrochen war, eine gute, trostreiche Mitteilung machen zu können, und hielt mit meiner Ansicht von der Lage der Dinge nicht zurück.

»Ich meine, daß gesunde Jugend über eine solche Verletzung des künstlerischen Selbstbewußtseins rasch hinwegkommen muß, zumal das Künstlertum eurer Söhne bestimmt echt ist. Kritik, und sei sie noch so hart und rückhaltlos, muß sich befruchtend auswirken. Mögen sie ihr Streben auf neue große Ziele lenken, sich für neue, bessere Aufgaben begeistern, ihr ganzes Ich an die Lösung einer solchen Aufgabe setzen und dabei ihr Können beweisen, so wird es nicht lange dauern, bis sie die Köpfe wieder erheben, und zwar in berechtigtem Stolz. Ihr Väter aber müßt bedenken, daß zwar das Denkmal verloren ist, der zweite Teil eurer Pläne jedoch bestehn bleibt. Und er ist der geschäftlich einträglichere.«

»Welcher Teil?« fragte Old Surehand.

»Die Gründung der Stadt Winnetou.«

»Ihr meint nicht, daß sie nun hinfällig wird, nachdem wir mit unserm Riesenstandbild Schiffbruch gelitten haben?«

»Gewiß nicht! Ich bin im Gegenteil der erste, der mit größtem Nachdruck auf diese Gründung dringt.«

»Wenn das wäre!« rief er erfreut aus, während Apanatschka wieder nur den leuchtenden Blick sprechen ließ.

»Es wird!« versicherte ich. »Wenn wir wünschen, daß die Seele der roten Rasse erwachen soll, genügt es nicht, allein für ihre geistige Zukunft zu sorgen, sondern wir müssen ihr auch eine äußere Stätte bereiten, aus der sie die nötige Erdenkraft zu ziehn vermag. Das soll und wird die Stadt Winnetou sein, die ihr geplant habt, ohne an die Volksseele, der sie als Heimstätte dienen soll, zu denken. Fragt euch, was für Straßen, für Plätze, für Häuser, für Gebäude wir da brauchen! Ein Stammeshaus für jeden einzelnen roten Stamm! Ein Heim für jeden einzelnen Clan, den größten und schönsten für den jüngsten Clan, den der Winnetous! Wieviel gewaltige Bauten ergibt schon das allein! Denkt euch hierzu das Schloß hoch über der Stadt in würdiger Weise ausgebaut! Bedenkt ferner, daß der Berg der Königsgräber sich öffnen wird und ihr die Schätze, die er euch sendet, so unterbringen müßt, wie man es solchen unvergleichlichen Reichtümern schuldig ist! Das ist nur einiges, was ich euch einstweilen sagen kann.«

Die beiden hatten mir schweigend zugehört. Nun waren sie voll Freude und Dankbarkeit. Apanatschka begnügte sich mit wenigen Worten und einem erneuten Händedruck, der mehr als lange Reden besagte. Old Surehand aber machte es nicht so kurz; er sprach lebhaft auf mich ein. Zum Schluß bot auch er mir nochmals die Rechte.

»Habt Dank, Mr. Shatterhand! Ich sehe ein, es ist hier nicht anders, als es damals schon war, vor Jahren. Wenn man Euch folgt und auf Euch hört, ist man gut beraten. So laßt uns denn vergessen, was einmal kurze Zeit trennend zwischen uns gestanden hat! Wir wollen wieder die alten Freunde sein!«

Ich muß gestehn, daß ich nach dieser Aussprache so froh und so leichten Herzens die Höhle verließ, als lastete auf mir überhaupt keine Sorge mehr, auch nicht die quälende Ungewißheit über das Schicksal von viertausend Menschen, die da unten, lebendig oder tot, verschüttet und begraben waren.

So verging die Nacht, in der ich erst gegen Morgen ein wenig Schlaf fand. Zeitig schon weckte man mich wieder. Ein Bote war eingetroffen. Er kam von den Apatschenhäuptlingen, die wir nach dem Tal der Höhle geschickt hatten, und meldete, daß sie glücklich dort angekommen seien und sofort einen Teil der Pferdewachen überrumpelt hätten; den andern Teil würde man wohl jetzt eben, bei Tagesanbruch, überwältigen.

Das zu wissen, genügte mir einstweilen. Ich nahm rasch ein paar Frühstücksbissen zu mir und begab mich hinunter nach der Zeltstadt.

Ein hastiges, sorgenvolles Regen und Treiben belebte die Unglücksstätte. Es sah wüst aus um den großen Abgrund. Menschen kamen und gingen. Sie alle bewegte die bange Frage, wann wohl die ersten Geretteten erscheinen würden. Leider handelte es sich hierbei nicht nur um Stunden. Der Gang, in dem gearbeitet wurde, war ja sehr schmal. Es konnten also nicht zahlreich vereinte Kräfte in Tätigkeit treten, und deshalb schritt das Rettungswerk nur langsam vorwärts, so daß vielleicht mehr als ein voller Tag verging, bevor man zu den Verschütteten gelangte. Zuweilen erklang über den weiten Platz der Jammerruf des alten Tangua:

»Pida – mein Sohn – mein Sohn!«

Oder man hörte einen der andern Häuptlinge klagen:

»Meine Komantschen! Meine Utahs! Meine Sioux!«

Mich rührte das zwar, aber ich konnte den jammernden Hartköpfen nicht helfen. Sie hatten sich ihr Unglück selber geschaffen, und nun hieß es, den Erfolg der Ausgrabungen abwarten.

Im Lauf des Vormittags traf ich auf den Jungen Adler, der mich nach den Medizinen fragte, die ich im Haus des Todes an mich gebracht hatte.

»Du versprachst, sie mir zu geben, sobald ich dich darum bitte«, erinnerte er mich an mein Versprechen von damals. »Jetzt ist es so weit. Du weißt, welche Rolle mir in dem seltsamen Spiel zufällt, das wir wohl oder übel aufführen müssen, um vor der Menge des schwer belehrbaren Volks, das sich immer an das Handgreifliche hält, zu zeigen, daß alte Weissagung sich durch uns erfüllt und daß endlich die Stunde der großen Verbrüderung aller roten Männer gekommen ist. Heute noch gedenke ich zu fliegen. Dann werde ich den Feinden von gestern, wenn sie die Freunde von heute und morgen geworden sind, ihre Medizinen zurückgeben.«

Das war wieder einmal eine Rede, wie man sie aus dem Mund eines Indianers nicht zu hören erwartet. Dieser junge Mensch hatte die Zeit, die er unter den Weißen zugebracht, wahrhaft eifrig genützt, sich geistig und seelisch zu bilden und zu entwickeln.

»Du kannst sie haben«, sagte ich bereitwillig. »Für mich haben sie ihren Zweck erfüllt. Komm mit mir in meine Wohnung aufs Schloß! Dort will ich sie dir aushändigen. Dann tu damit, was dir gefällt! Aber ich bitte dich, vorher mit Tatellah-Satah über deine Absichten zu sprechen.«

Das mußte er dann wohl auch getan haben, denn gegen Mittag sah ich ihn bei seinem Flugzeug erscheinen, das er jetzt auf freier Höhe neben dem Schloß aufgestellt hatte. Ich erkannte, wie geschickt dieser Startplatz gewählt war. Das Flugzeug hatte vor sich die sanft geneigte Halde, gegen die seit dem Morgen ein kräftiger Wind wehte. Er würde den kunstvoll gebauten Riesenvogel auffangen, tragen und heben. Ort und Stunde des Flugs konnten gar nicht besser gewählt sein.

Und richtig, der Junge Adler nahm in seiner Maschine Platz, die von einigen Roten sogleich bergab geschoben wurde. Plötzlich verließ sie den Boden. Sie schwebte und begann zu steigen, hoch und immer höher. Ich bestaunte einen Segelflug, so glatt und vorschriftsmäßig, wie ich bisher noch keinen gesehn hatte.

In diesem Augenblick wurde ich durch einen Boten hinab zur Kanzel gerufen. Es hieß, Tatellah-Satah erwarte mich. Als ich unten eintraf, sah ich, daß alles, was am Mount Winnetou zur Zeit nicht in der Höhle arbeitete, hier im Freien versammelt war, um den Flug des Jungen Adlers zu bestaunen. Stumm, wirklich andächtig verharrte die Menge.

Das Flugzeug hatte beträchtlich an Höhe gewonnen, dank einer geschickten Steuerung, die es immer wieder gegen den Wind zu treiben verstand. Jetzt hielt es plötzlich auf den Berg der Medizinen zu und – wahrhaftig, es landete da oben, wie mir schien, etwa am Fuß der Felsnadel. Offenbar gab es da eine weite Fläche, die nicht nur eine Landung ermöglichte, sondern auch den erneuten Start gewährleistete. Sonst wäre der kühne Flieger ja oben auf dem unersteigbaren Felsen gefangen gewesen.

Es vergingen bange Minuten. Die Zuschauer warteten schweigend in unerhörter Spannung. Da erschien das Flugzeug plötzlich wieder. Der Start war also gelungen. Es stieg noch einmal, wendete dann und umkreiste schließlich dreimal den Berg, genau so, wie es die alte Weissagung vorschrieb.

Da brach der Jubel der Menge los.

»Der Junge Adler! Der verheißene ›Wecker des Volks‹! Dreimal umfliegt er den Berg der Sage! Er bringt die verlorengegangenen Medizinen wieder!« so ertönte es ringsum.

Tatellah-Satah, der neben mir stand, schaute in ernstem Schweigen hinauf nach dem kühnen Flieger. Als er meinen Blick bemerkte, nickte er mir kurz zu, als wollte er sagen: Ein Schauspiel für die Menge und doch mehr! Wir wollen die Stunde nützen!

Nun schwebte der Riesenvogel vom Berg ab, ging tief und tiefer und ließ sich endlich auf freiem Plan neben der Fahrstraße nieder. Wir eilten alle hin, auch Tatellah-Satah. Soeben stieg der Junge Adler aus seinem Flugzeug.

»Hast du das Gesuchte gefunden?« war die erste Frage des Bewahrers der großen Medizin.

»Ja«, antwortete der Junge Adler leuchtenden Auges. »Den Stein und unter ihm diese beiden Teller.«

Er gab sie unserm alten Freund. Es waren zwei kleine, uralte, irdene Teller, deren Ränder mit einem sehr harten Bindemittel vereinigt waren. Wir mußten sie zerbrechen, um zu dem Gegenstand zu kommen, der sich dazwischen befand. Dieser Gegenstand war ein zusammengelegtes, weißgraues Stück Zeug mit Nesselglanz. Nachdem wir es auseinandergeschlagen hatten, sahen wir, daß es eine Karte war, ein Wegplan, mit einer dauerhaften, farbigen Flüssigkeit gezeichnet. Kaum hatte Tatellah-Salah einen Blick auf diese Zeichnung geworfen, so rief er im Ton der freudigsten Genugtuung:

»Er ist es! Er ist es, der Schlüssel! Das ist der genaue Weg vom Berg der Medizinen bis auf die Spitze des Bergs der Königsgräber! Wir werden schon morgen oder übermorgen einen Entdeckungszug nach den hochgelegnen Königsgräbern veranstalten! Es soll Freude herrschen von heute an! Freude für Winnetous Erben!«

Von jetzt an gab es trotz der ernsten Lage der Verschütteten eine frohe Feststimmung am Fuß des Mount Winnetou. Ich aber entzog mich diesem Treiben; es drängte mich zu hören, wie es in der Höhle stand.

Dort sah ich, daß mit großem Eifer und viel Umsicht gearbeitet worden war; aber es gab eine solche Menge von Gestein und Erde wegzuräumen, daß noch immer nicht abzusehn war, wann das ein Ende nehmen würde. Es vergingen noch mehrere Stunden. Dann erhielten wir endlich die Kunde, man sei den Gesuchten so nahe gekommen, daß man ihr fernes Klopfen hören könne. Es war anzunehmen, daß wenigstens noch eine Stunde verstreichen würde, bis man die Eingeschlossenen erreichte. So rief ich denn sämtliche befreundete Häuptlinge zusammen, um mit ihnen unter dem Vorsitz Tatellah-Satahs über das Schicksal unsrer Gefangnen zu beschließen.

Die Beratung fand auf unsrer Kanzel statt, weil die Häuptlinge, über deren Schicksal wir jetzt zum Schein bestimmten, alles mit anhören sollten. Zum Schein, sage ich; denn es war uns nicht ernst mit der Ausführung des harten unbarmherzigen Urteils, das hier gefällt wurde. Nur schrecken wollten wir die Gegner, damit die Verzeihung dann endlich den Funken der Bereitwilligkeit zu ehrlicher Versöhnung in ihnen auslösen sollte.

Als wir die Kanzel wieder verließen, kam aus der Höhle die Botschaft, man habe den Weg zu den Verschütteten freigelegt. Sie seien zum großen Teil mit dem Grauen und der Todesangst davongekommen. Tote seien verhältnismäßig wenig zu beklagen, Verletzte gäbe es allerdings viele. Pida sei unversehrt. Er möchte mit Old Shatterhand sprechen.

Ich ließ ihn herausführen und empfing ihn am Ausgang der Höhle. Die tiefe Erschütterung war dem glücklich Befreiten vom Gesicht abzulesen. So ernst habe ich selten die Augen eines Menschen auf mir ruhen gefühlt wie jetzt die Pidas.

»Pida ist mein Gefangner«, erklärte ich ihm. »Dennoch erlaube ich ihm, zu seinem Vater zu gehn, um sich mit ihm zu besprechen. Ich nehme an, daß Pida zu stolz ist, mein Vertrauen zu mißbrauchen und einen Fluchtversuch zu machen, der ihm obendrein schlecht bekommen würde.«

Er ging, begleitet von einem Winnetou, und kam bereits nach einer halben Stunde wieder. Ich erkannte sogleich, daß ihn irgend etwas heftig erregt haben mußte, und glaubte schon, er sei bei den Häuptlingen auf starren Trotz gestoßen. Dann aber erklärte sich sein Zustand anders. Er konnte es nicht fassen, daß die Gefangnen drüben auf ihrer Kanzel jedes Wort unsrer Beratung gehört hatten und so über ihr vermeintliches Schicksal bereits unterrichtet waren. Er glaubte an ein Wunder.

Ich ließ ihn dabei und bat um sachlichen Bescheid.

»Tangua, mein Vater«, begann er, »hat mich beauftragt.«


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