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4. Aschta

Nachdem sich der Pferdedieb entfernt hatte, gab ich den Häuptlingsschmuck in den Koffer zurück. Dann konnten wir endlich essen. Der Junge Adler hatte wieder Lebensfarbe bekommen. Es war ihm sichtlich unangenehm, daß wir Zeugen seiner Schwäche gewesen waren. Es lag ihm daran, von uns nicht etwa falsch eingeschätzt zu werden. Damm teilte er uns mit, daß ihm vor nun fast vier Tagen unten am Carriso Creek sein Pferd gestohlen worden war, und zwar mit dem ganzen Inhalt der Satteltaschen. Unterwegs gab es zu seiner Nahrung nur einige eßbare Wurzeln oder Beeren, weiter nichts. Er hatte sein schweres Paket nun selber getragen, und es war daher kein Wunder, daß er so erschöpft hier eingetroffen war. Er erfuhr, daß sein Lederanzug unangetastet für ihn bereit lag. Jetzt aß er mit uns.

Ich hatte so meine eignen Gedanken über ihn, sagte aber nichts. Auch Hammerdull und Holbers hätten wohl gern etwas Näheres über ihn erfahren; doch der Indianer benahm sich trotz seiner Jugend wie ein Mann, den man gegen seinen Willen schlechterdings nicht ausfragen kann.

So hätten wir zunächst nichts Näheres über ihn erfahren, wäre er im Verlauf der Mahlzeit nicht freiwillig aus seiner Zurückhaltung herausgetreten. Er erzählte, man habe ihm mit seinem Pferd auch die Waffen entwendet; sie hätten am Sattel gehangen. Und in den Satteltaschen wäre sein Geld gewesen. Er sei also mittellos.

Meine Frau warf mir einen Blick zu, den ich verstand. Ich sollte ihn einladen, mit uns zu reiten. Und das war grade der Grund gewesen, weshalb ich drei Pferde und nicht nur zwei hatte haben wollen. Ich machte ihm kurz den gewünschten Vorschlag. Da ging ein frohes Leuchten über sein Gesicht. Er sprang auf, setzte sich aber sogleich wieder, denn ein Indianer soll weder Freude noch Schmerz so offen zeigen. An diesem Aufleuchten seines Gesichts sah ich, daß er, obwohl er mich nie gesehn hatte, doch vermutete, wer ich war.

Auf meine Frage, zu welchem Stamm er gehöre, und was sein Reiseziel sei, schwieg er einen Augenblick nachdenklich.

»Ich bin Apatsche«, gestand er dann, »und will nach dem Süden.«

Während er das sagte, sah er mich nicht an, sondern schaute vor sich nieder; aber ich fühlte, wie gespannt er darauf lauschte, was ich antworten würde.

»Wir auch«, erwiderte ich so unbefangen, als ob ich nicht daran dächte, ihn zu beobachten und zu durchschauen. »Vorher aber nötigen uns verschiedene Gründe zu einigen Abstechern.« Und mich an Hammerdull wendend, fragte ich: »Kennt Ihr vielleicht die Teufelskanzel, die hier in der Nähe liegen soll?«

»Ob ich sie kenne oder nicht, das bleibt sich gleich, aber Pitt und ich sind wiederholt dort gewesen. Und der Junge Adler kennt sie auch, denn er sagte mir damals vor vier Jahren, er käme von dort oben herab. Sie liegt westlich von hier an einem Flüßchen. Wollt Ihr hin?«

»Ja, ich möchte dieser Teufelskanzel auf alle Fälle einen Besuch abstatten, obwohl mein nächstes Ziel dann im Südosten von Trinidad liegt. Das gibt einen unvermeidlichen Umweg. Hoffentlich ist er nicht gar zu groß.«

»Ob groß oder nicht, das bleibt sich gleich, die Hauptsache ist, daß Ihr keine Woche bis zur Devils Pulpit zu reiten braucht. Soll ich Euch führen?«

»Wenn Ihr wollt.«

»Welche Frage! Ob ich will! Ich habe nur eine Bedingung.«

»Welche?«

»Ich führe Euch nach der Teufelskanzel, wenn Ihr mir erlaubt, dann noch weiter mit Euch zu reiten. Darf ich?«

Da rief das Herzle freudig: »Er erlaubt es – er erlaubt es, Mr. Hammerdull! Er hat Euch gern und ich auch. Und er hat drei Pferde und drei Maultiere, also mehr, als wir brauchen.«

Ich lächelte dazu und hatte nur einen Einwand vorzubringen.

»Aber Euer Hotel hier – Euer Hotel?«

»Hotel? – Geht mich nichts mehr an. Pitt hier ist Manns genug, den Kram beisammenzuhalten, bis ich wiederkomme. Meinst du nicht, Pitt Holbers, altes Coon?«

Der Angeredete holte tief Atem, als ob er einen langen Spruch vom Stapel lassen wollte, sagte aber nur ein Wort.

» No.«

Hammerdull zog in sichtlichem Erstaunen die Brauen so weit in die Höhe, daß sich auf der Stirn tiefe Falten bildeten.

»Nicht? Möchte wissen, was du dagegen einzuwenden hättest.«

» Pshaw! Dieser alte Kasten, den sie Hotel schimpfen, geht mich noch viel weniger an als dich. Dein Name ist als der des Besitzers eingetragen, nicht der meine.«

»Ob der deine oder der meine, das bleibt sich gleich. Auf alle Fälle hast du ebensoviel Recht auf den ›Wilden Westen‹ wie ich. Hätte ihn gar nicht kaufen können, wenn du mir nicht dein letztes Geld gegeben hättest. Ich selber war ja schon abgebrannt.«

»Mag sein. Aber streiten wir uns nicht! Hab dir das Geld gegeben, weil – weil – nun, hab eben an dieser Gegend meinen Narren gefressen, du weißt schon, warum. Aber an dem Gasthof selber war und ist mir gar nichts gelegen. Mögen sie mit ihm machen, was sie wollen! Ich geh mit euch.«

»Nichts da! Du bist zu alt für die Anstrengungen, die uns vielleicht erwarten.«

»Hör auf, Dicker! Tu tust ja, als ob du zwanzig Jahre jünger wärst als ich. Die fünf Jahre, die wir beide auseinander sind, machen nichts aus. Noch bin ich nicht ganz unbrauchbar geworden, und Ihr werdet und dürft mir die Freude nicht nehmen, Mr. Shatterhand – Heavens, was hab ich getan!«

Er hatte sich von seinem Herzenswunsch fortreißen lassen und dabei mein Geheimnis verraten. Erschrocken hielt er inne. Da ging ein sonniges Lächeln über das Gesicht des jungen Indianers.

»Nicht erschrecken! Ich habe es längst erraten. Und ich hätte es nicht verschwiegen, daß der Bruder unsres großen Winnetou und der beste Freund unsres Volkes von mir erkannt worden ist. Ich war verpflichtet, ihm dies zu sagen.«

Klara gefiel diese Entwicklung der Dinge.

»So wird es ja, wie ich wünsche! Es dürfen alle drei mit, nicht wahr, lieber Mann?« bat sie.

»Alle drei?« erwiderte ich. »Der Junge Adler wird nicht Zeit und Lust haben, mit uns so viel in der Irre umherzureiten. Denke an seine schwere Last!«

Mein Blick streifte dabei wieder den Apatschen. In seinen Augen leuchtete es auf.

»Der Junge Adler hat Zeit. Er würde es als eine große Ehre ansehn, wenn er sich anschließen dürfte.«

»Gut!« entschied ich. »So reiten alle drei mit uns. Der Junge Adler wird den dritten Schwarzschimmel reiten. Unsre beiden Freunde hier bekommen die drei Maultiere mit dem Zelt.«

Nach dem Essen sorgten wir zunächst dafür, daß das Zelt wieder abgebrochen, zusammengeschnallt und mit allen dazugehörigen Gegenständen hinein ins Haus geschafft wurde; da war es mir sichrer als draußen. Während dies geschah, zeigte Hammerdull hinaus nach dem erwähnten Platz.

»Schaut, was kommt dort gelaufen?«

»Das Maultier, das vierte Maultier!« antwortete meine Frau.

»Ja! Es ist den Spitzbuben entkommen! Es ist widerspenstig geworden und hat sich losgerissen, weil es zu seinen Kameraden zurückwollte. Wir können es gut gebrauchen.«

Hierdurch gewannen wir eine Kraft mehr zum Tragen des Gepäcks, und die Zahl der Tiere, die man Old Surehand gestohlen hatte, war nun wieder voll.

Später ging ich noch einmal in die Stadt, um für den Jungen Adler ein Gewehr und einen Revolver zu kaufen; sein Messer hatte er noch. Dann schrieb ich einen Brief. Er war an Hariman F. Enters gerichtet und lautete:

»Habe Wort gehalten und mich hier eingestellt. Lernte hier Eure Freunde Wycliffe und Howe kennen. Bin darum weit eher fort, als ich eigentlich wollte. Trotzdem bleibt, was ich versprach. Wenn Ihr ehrlich seid – aber nur dann – werde ich wieder zu Euch stoßen und Euch nach den beiden Orten führen, die Ihr sehn wollt.

Burton.«

Daß ich mich unter den gegebnen Umständen nach Trinidad setzen sollte, um die Ankunft der Brüder Enters abzuwarten, konnte mir schlechterdings niemand abverlangen.

Gewiß, ich hatte die beiden hierherbestellt und damit eine Art Verpflichtung übernommen. Darum wäre ich auch in jedem andern Fall bereit gewesen, sogar kostbare Zeit zu versäumen, um mein Wort einzulösen.

Nun aber hatte ich aus einigen nebenbei aufgefangenen Worten der Rowdies herausgehört, daß die beiden Enters zu diesen üblen Burschen irgendwie in Beziehung standen. Das änderte für mich die Sachlage. Die beiden Enters hatten mich – auch sonst ja zur Genüge – zu täuschen und zu übervorteilen gesucht. Deshalb war es genug, wenn ich hier eine Nachricht für sie hinterließ.

Im übrigen hüllte ich mich und meine Pläne wohlweislich in schützendes Dunkel. Wie mein Name verschwiegen worden war, so sagten wir auch keinem Menschen, wohin wir von hier aus gingen.

Am Abend kehrten die Verfolger der Pferdediebe heim; sie hatten keinen einzigen erwischt. Und der, den wir freigelassen hatten, schien doch nicht gleich wieder zum Dieb geworden zu sein; denn wir hörten nichts davon, daß irgend jemand ein Pferd vermisse. So verließen wir denn schon am nächsten Morgen die Stadt, um in westlicher Richtung zunächst hinauf nach dem sogenannten Parkplateau zu kommen.

Die Verteilung der Tiere war so, wie schon erwähnt, am günstigsten. Meine Frau, ich und der Junge Adler hatten die Rappschimmel, während die zwei Westmänner die besten der Maultiere ritten und die zwei andern zum Tragen des Zelts und des Lederpakets des Indianers verwendeten. Was für Dinge oder was für einen Gegenstand dieser Packen enthielt, wußten wir nicht. Wir fragten auch nicht danach. Aus dem Gewicht der gar nicht so umfangreichen Last schlossen wir, wie gesagt, auf Eisen. Doch schien dieses Eisen von besonderem Wert zu sein. Das folgerten wir aus der Sorgfalt, die der Eigentümer während des Auf- und Abladens an den Tag legte.

Es war ein Vergnügen, die beiden ›Toasts‹ im Sattel ihrer Maultiere zu sehn. Sie hielten sich kerzengrade, und es war ihnen die Freude vom Gesicht abzulesen, die es ihnen bereitete, mit bei unserm Unternehmen sein zu dürfen. Beide trugen gediegnes, wenn auch nicht mehr neues Wollzeug. Jeder hatte im Gürtel zwei Revolver und das unvermeidliche Bowiekneif stecken, und auf ihrem Rücken baumelte je ein alter Knüttel am Gewehrriemen. So sah es wenigstens aus. Bei näherm Zusehn entpuppte sich das Ding jedoch als ein Gewehr. Aber niemand anders als der Besitzer hätte sich getraut, aus diesem Prügel einen Schuß zu tun, aus Angst, das Ding müsse sofort zerspringen. Die glücklichen Eigentümer freilich hätten es nicht einmal gegen das teuerste und neuste Gewehr eingetauscht, und sie hatten am Abend vor der Abreise noch stundenlang gearbeitet, nicht um der Waffe ein erträgliches Aussehn zu geben – das war nicht möglich – sondern um den Rost zu entfernen, der sich in der langen Ruhezeit gebildet hatte.

Hier muß ich erwähnen, daß ich die erste Gelegenheit benützte, Erinnerungen mit den alten Westläufern auszutauschen. Am Tag unsrer Ankunft in Trinidad hatte ich keine Zeit dazu gefunden. Erst als wir am nächsten Vormittag die Stadt hinter uns gelassen hatten, lenkte ich meinen Schwarzschimmel zwischen die Maultiere der beiden Unzertrennlichen.

Ich war vor einer Reihe von Jahren das letzte Mal im Westen gewesen, und so war es nicht verwunderlich, daß ich über das Schicksal vieler meiner ehemaligen Gefährten nicht mehr im Bilde war. Wohl stand ich mit einigen wenigen noch in brieflicher Verbindung, aber man kennt den Inhalt der Briefe von Schreibungewohnten nur zu gut: meistens allgemeine, nichtssagende Bemerkungen und wenig oder gar keine Einzelheiten.

Über das Schicksal einiger Hauptpersonen wußte ich allerdings Bescheid.

Old Firehand zum Beispiel hatte schon längst sein Haupt in Frieden zur Ruhe gelegt, und zwar in Saint Louis, wohin er sich nach der Ausbeutung der Mine am Silbersee zurückgezogen hatte. Das war mir bekannt. Dagegen war über das Schicksal Harrys, seines Sohnes aus erster Ehe mit Ribanna, der Tochter der Assiniboins, leider nichts Genaues zu erfahren gewesen. Der Junge hatte zu früh gelernt, auf eignen Füßen zu stehn, als daß er noch daran Geschmack gefunden hätte, sich unter den Fittichen des Vaters zu bergen. Zu unruhigen Geistes, als daß er sich bei irgendeiner Beschäftigung lange aufgehalten hätte, führte er ein unstetes Jägerleben. Seine Rache für die grausame Ermordung seiner Mutter und seines kleinen Schwesterchens hatte sich durch die in ›Winnetou‹ II geschilderten Ereignisse keineswegs abgekühlt. Er war und blieb der erbittertste Feind der Sioux-Ogellallahs, in deren Reihen seine unfehlbare Büchse bei hundert Gelegenheiten Tod und Verderben sandte. Und eine dunkle Ahnung, die sich allerdings auf reiche Erfahrung gründete, sagte mir, daß sein Leben kein friedliches Ende nehmen würde.

Die Tante Droll war schon wenige Monate nach den im ›Ölprinz‹ geschilderten Abenteuern durch die Kugel eines Mörders, auf dessen Fährte ihn sein Spürsinn gebracht hatte, gefallen – Westmannslos! Vgl. Ges. Werke, Bd. 61 ›Der Derwisch‹, Bd. 62 ›Im Tal des Todes‹

Und wo sind sie geblieben, die Helden des Westens alle, Bloody-Fox, der Bärenjäger, die beiden Snuffles, Dick Stone, Will Parker, der lange Davy und die ganze große Schar berühmter Westmänner? Von den meisten ist jede Spur verloren gegangen. Vielleicht deckt ein hastig aufgeworfner Hügel irgendwo in der Savanne oder im Felsengebirge ihren Körper. Oder ihre Gebeine bleichen im glühenden Sand des Llano estakado oder im kühlen Abgrund irgendeiner der vielen, dem Fuß des Menschen unzugänglichen Schluchten des Grand Cañon – Westmannslos!

Das Lebensschifflein nur weniger ist in stillem Hafen gelandet. So weiß ich zum Beispiel vom dicken Jemmy, daß er am Ontariosee unter seinem bürgerlichen Namen Jakob Pfefferkorn einen ruhigen Lebensabend genießt. Und der Hobble-Frank widmet heute noch als alternder Rentner seinem Freunde Droll ein wehmütiges Gedenken – der Geist der Savanne hat ihn nie mehr dazu vermocht, auch nur für kurze Zeit sein behagliches Heim am Ufer der Elbe mit den ›finstern und blutigen Gründen‹ zu vertauschen.

Über meinen alten Sam Hawkens konnten mir die zwei eine, wenn auch nur dürftige Auskunft geben. Er hatte mir all die Jahre her nicht ein einziges Mal geschrieben. Aber das hatte nichts zu sagen, denn ich wußte, daß er lieber mit einem bloßen Taschenmesser auf einen Grisly losgegangen wäre, als ›weißes Papier mit Tinte schwarz zu machen‹, wie er sich so bildsam ausdrückte. Bis vor acht Jahren war er, der sich einer unverwüstlichen Gesundheit erfreute, am Leben gewesen. Damals hatte er die beiden ›Toasts‹ in Trinidad besucht. Beim Abschied hatte ihn Dick gefragt, ob er sich nicht auch zur Ruhe setzen wolle. Darauf hatte er die alte Perücke zurechtgerückt, den grauen Barturwald mit den Fingern gekämmt und verschmitzt aus den Äuglein geblinzelt.

»Ruhe? Sam Hawkens und Ruhe? Wie stellt Ihr Euch das vor? Glaubt Ihr denn, der Sohn meiner Mutter würde es zwischen Euern Mauern auch nur einen Tag aushalten? Fällt ihm nicht ein! Hab all mein Lebtag in der Wildnis gelebt, wenn ich mich nicht irre, und will auch dort sterben. Werde schon ein Plätzchen finden, wo es mir gefällt, und wo ich mich einmal zur Ruhe legen werde, ich und meine Liddy, hihihihi!«

Sprachs, schulterte sein geliebtes Schießholz und wanderte davon.

»Und seitdem habt Ihr nichts mehr von ihm gehört?« fragte ich.

»Es war das letzte, was wir von ihm erfuhren.«

»Ob er wohl noch am Leben ist?«

»Warum nicht? Der alte Sam machte gar nicht den Eindruck, als ob er so bald ins Gras beißen wollte. Der kann hundert Jahre alt werden. Egad, am liebsten hätte ich damals schon den ganzen Bettel fortgeworfen und wäre mit ihm gegangen!« meinte Dick voller Eifer.

»Wer sollte Euch daran gehindert haben?«

»Könnt Ihr noch fragen? Natürlich dieses große Kind da, das an Eurer andern Seite reitet. Es wollte nicht von dieser Gegend fort.«

»So? Warum denn nicht?«

»Hm! Nichts für ungut, Mr. Shatterhand, aber – ich weiß nicht, ob ich von dieser Sache zu Euch reden darf.«

»Sprich nur!« forderte ihn sein langer Freund auf. »Ich erlaube es dir, denn vor Mr. Shatterhand habe ich kein Geheimnis.«

»Ob Geheimnis oder nicht, das bleibt sich gleich. Aber ich wollte jedenfalls nicht gegen deinen Willen handeln.«

»Ihr macht mich neugierig, Mr. Hammerdull.«

»Na, Ihr werdet staunen. Pitt hat in dieser alten Prärie – es sind nur noch drei Tagesritte bis dorthin – vor langer Zeit ein Abenteuer erlebt, das nahe an seinem Leben vorbeigegangen ist und das ihm noch heute anhängt.«

Ich warf einen verstohlenen Blick auf meinen langen Begleiter, denn ich ahnte, daß es sich um eins jener Erlebnisse handelte, die einen bestimmenden Einfluß ausüben auf den Lebensgang eines Waldläufers und den Mann eigentlich zu dem machen, was er ist – zu einem einsamen, ruhelosen Wanderer.

»Leider trug sich«, fuhr Dick fort, »die Sache zu einer Zeit zu, als ich Pitt noch nicht kannte. Denn wenn ich bei ihm gewesen wäre, wäre es nicht so weit gekommen. Dieser Meinung bist du doch auch, nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon?«

»Nicht ganz, lieber Dick«, widersprach der Lange. »Denn ich war vor etlichen vierzig Jahren ein andrer als heut und hätte mir von dir wahrscheinlich nichts einreden lassen.«

» Good-lack! Willst du dich noch in deinen alten Tagen gegen mich empören, Pitt?«

»Ich spreche nicht von heut, sondern von der damaligen Zeit.«

»Ob damalige Zeit oder nicht, das bleibt sich gleich. Jedenfalls hätte ich Mittel und Wege gesunden, das Unglück zu verhüten.«

»Das ist jetzt, im Abstand von Jahren, leicht zu behaupten. Ich aber sage dir, ich hätte damals mit der ganzen Welt angebunden – ihretwegen!«

»Ihretwegen? Worum handelt es sich denn? – Etwa um ein Mädchen?« fragte ich ahnungsvoll.

»Ob um ein Mädchen oder nicht, das bleibt sich gleich. Wer schaut Euch doch einmal die Gestalt meines Freundes an! Könnt Ihr Euch vorstellen, Mr. Shatterhand, daß sie wirklich je imstande war, wärmere Gefühle in dem Herzen eines Mädchens zu erwecken? Antwortet ehrlich! Ihr versteht Euch doch auf derartige Dinge.«

»Ich habe Mr. Holbers damals nicht gekannt und kann mir daher kein Urteil erlauben«, wich ich der für mich etwas peinlichen Frage aus.

» Nevermind! Aber ich habe meinen Pitt bald darauf kennengelernt und kann Euch sagen: die Geschichte war aussichtslos, vollkommen aussichtslos. Siehst du das jetzt nicht selber ein, Pitt Holbers, altes Coon?«

Das alte Coon beugte sich tief auf sein Tier nieder, um die Bewegung nicht merken zu lassen, die sich in seinen müden Zügen spiegelte. Dann richtete es sich wieder auf und erwiderte mit abgewandtem Gesicht:

»Ob ich es einsehe? Das ist wohl nebensächlich. Für mich war sie – hm – die einzige Liebe meines Lebens.«

Er brachte das mit einer so rührenden Einfalt und doch mit einer solchen Entschiedenheit vor, daß ich ihm am liebsten die Hand gedrückt hätte. Auch Hammerdull schwieg eine Weile versonnen. Dann meinte er mit einem an ihm ungewöhnlichen Ernst:

»Ob Liebe oder nicht, das bleibt sich gleich. Jedenfalls mußt du zugeben, daß ich deine Gefühle zu würdigen weiß. Ich habe nichts dagegen gehabt, daß du jedes Jahr an die Stätte deines Unglücks gepilgert bist, so wie ein Christ zu Allerseelen das Grab seiner Lieben besucht.«

Sein Freund fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er trübe Gedanken verjagen, und meinte:

»Jetzt wißt Ihr, Mr. Shatterhand, was mich an diese Gegend kettet. Vielleicht erzähle ich Euch einmal die Einzelheiten dieses Abenteuers, wenn ich in Stimmung bin.«

Mit dieser Schlußbemerkung schnitt mir der alte Schweiger jede weitere Frage ab. Ich mußte mich, so gespannt ich auch war, in Geduld fassen.

Um nicht allzu breit zu werden, kann ich hier keine ausführliche Beschreibung des Wegs geben, den wir nahmen. Ich muß mich darauf beschränken zu sagen, daß es hinauf nach dem Parkplateau ging, hinter dem sich das herrliche Tal des Apishapa niedersenkt, das es von den riesenhaften Massen der Spanish Peaks trennt.

Es war ein herrliches Gebirgspanorama, das uns aufnahm. Wir ritten immerfort inmitten von landschaftlichen Schönheiten dahin, die kein Ende nehmen wollten, sondern sich im Gegenteil stetig mehrten. Um die Mittagszeit machten wir an einem klarfließenden Wasser halt. Da sprach ich mit meiner Frau über die Unterschiede der landschaftlichen Reize der Ebene und der Berge. Der Junge Adler hörte nach seiner Gewohnheit bescheiden schweigsam zu, genau so wie Pitt Holbers, während der Dicke dann und wann ein treffendes Wort dazwischen warf. Jetzt sagte er:

»Diese Unterschiede werdet Ihr morgen in einem sprechenden Beispiel vor Augen haben. Da kommen wir an einen ›See der Ebene‹, der aber zwischen himmelhohen Bergen liegt.«

»Kenne ich ihn?« fragte ich.

»Weiß nicht. Es ist der Kanubisee.«

»Von dem habe ich gehört. Sein Urbild liegt im Staat Massachusetts. Ich bin von Lawrence aus dort gewesen. Dieser letztgenannte Kanubisee spielt in der Vergangenheit einiger Indianerstämme, besonders der Senekas, eine wichtige Rolle. Seine im Sonnenschein funkelnden Wasser, seine weit und schön ausgebuchteten, mit sattem Grün geschmückten Inseln und Ufer waren so recht geeignet, der friedlichen Entwicklung des Stammeslebens als Rahmen zu dienen. Ich weiß, daß man einem hier oben liegenden Bergsee denselben Namen gegeben hat, und bin begierig zu sehn, ob er ihn verdient.«

»Wahrscheinlich verdient er ihn«, mischte sich Holbers zum erstenmal ins Gespräch.

Er holte dabei tief Atem.

»Wart Ihr dort?« fragte ich.

»Ich? – Wie oft!«

Wieder tat er einen tiefen Atemzug. War dieser See vielleicht jene Stätte trüber Erinnerungen für ihn, von der er kürzlich gesprochen hatte? Ich schwieg, um ihm nicht weh zu tun. Er sah lange vor sich hin, dann begann er selber damit.

»An diesem See habe ich jenen niederträchtigen Schuß bekommen, der mich beinahe das Leben gekostet hat.«

»Von wem?« fragte ich.

»Von einem gewissen Tom Muddy. Habt Ihr vielleicht jemals von diesem Schurken gehört?«

»Nein.«

»Er hieß wohl auch nicht so, sondern anders. Seinen eigentlichen Namen habe ich nicht erfahren.«

»Seid Ihr ihm wieder begegnet?«

»Niemals, leider! Obgleich ich ein ganzes Menschenleben lang nach ihm gesucht habe. Vielleicht erzähle ich Euch die ganze Begebenheit heut abend. Übrigens wollte ich Euch nur sagen, daß das mit den Senekas richtig ist.«

»Was?«

»Daß sie da unten in Massachusetts am Kanubisee wohnten. Wißt Ihr ihren eigentlichen Namen?«

»Ja. Senontowana.«

»Stimmt. Der Name Seneka ist ihnen von den Weißen gegeben worden. Ich habe eine besondre Vorliebe grad für diesen Stamm«, fügte er wie erklärend hinzu.

»Aus welchem Grund?«

»Weil – weil – weil – hm! Werdet es heut abend erfahren. Für jetzt aber erlaubt, daß ich schweige!« –

Der Nachmittag führte uns immerwährend bergan, bis wir eine Höhe erreichten, von der aus wir über eine weite, sich nach Westen dehnende Hochebene blickten. Die Sonne war im Sinken. In ihrem Strahl leuchtete aus der Mitte der Ebene ein großer funkelnder Diamant herauf zu uns, der rundum von einem weiten Kranz grüner Smaragde eingefaßt schien, deren Umrisse flimmerten und glühten.

»Das ist der Kanubisee«, sagte Holbers. »So nahe er uns zu liegen scheint, so weit ist er entfernt. Drei Stunden sind es von hier aus, bis man ihn erreicht. Darum lagern wir hier. Und zwar, wenn es Euch recht ist, an demselben Ort, wo ich schlief, als ich zum erstenmal in diese Gegend kam.«

Er führte uns nach einer auf drei Seiten ganz und auf der vierten auch noch halb eingeschlossenen Stelle, die guten Schutz gegen den hier oben oft sehr kühlen Nachtwind bot. Ein Wasser war in der Nähe. Futter für die Pferde gab es auch. So konnten wir uns also keinen bessern Lagerplatz wünschen. Das Zelt, das stets nur für meine Frau bestimmt war, wurde schnell errichtet und ein Feuer angebrannt. Wir Männer zogen es vor, im Freien zu schlafen. Es war jetzt die wundersame Zeit des Indianersommers, in der man es selbst auf solcher Höhe des Nachts außerhalb des Zelts aushalten kann.

Während des Essens wurde es Abend. Der Mond ging auf. Er stand im ersten Viertel. Die Luft war ohne Nebel, vollständig rein und klar. Wir konnten weit sehn, fast so weit wie am Tag, nur daß die Linien jetzt unbestimmter waren und ineinanderflossen. Der leuchtende Diamant war zur weißsilbernen Perle geworden. Da begann Pitt Holbers seine Geschichte.

»Genau so wie heut«, sagte er, »lag der See damals vor meinen Augen. Es zog mich zu ihm hinab. Ich wachte sehr zeitig auf und setzte mich aufs Pferd. Grad vor Sonnenaufgang erreichte ich den See. Ich sah im Gras Spuren von Menschen, von Indianern. Nahm mich also in acht, versteckte mein Pferd und ging vorsichtig den Spuren nach, die durch die Büsche ans Wasser führten. Dort unten sah ich Hütten stehn oder vielmehr Häuser. Nicht nur Wigwams oder Zelte, sondern wirkliche Häuser, aus Balken, Bohlen, Planken und Schindeln hergestellt. Mehrere Boote lagen am Ufer. Fischernetze waren zum Trocknen aufgehängt. Nichts regte sich. Die Türen waren geschlossen; man schlief also noch, und zwar ohne Sorge, denn einen Wächter sah ich nicht.

Beim Näherschleichen bog ich um eine Ecke des Gebüsches und sah – – – das schönste Mädchen, das meine Augen je erblickten! Sie saß auf einem hohen Steinblock des Ufers und schaute nach Osten, wo die Sonne eben erschien. Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibribälgen geschmückt, weit über den Rücken herunter. Als die Kolibris im ersten Strahl der Sonne zu funkeln begannen, erhob sie sich von ihrem Sitz, breitete die Arme aus und sagte im Ton der Andacht und Bewunderung:

›O Manitou! O Manitou!‹

Weiter sagte sie nichts. Dann faltete sie die Hände und verharrte lange so, bewegungslos in die Sonne schauend. Ich blieb nicht stehn, sondern schritt langsam und zögernd auf sie zu. Da sah sie mich, erschrak aber nicht etwa. Sie rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah mich nur mit großen, erwartungsvollen Augen an. Ich benahm mich wie ein richtiger Tölpel, denn anstatt zu grüßen, fragte ich sie: ›Wie heißt du?‹ – ›Aschta!‹ gab sie ohne Zögern zur Antwort. Später erfuhr ich, daß dieses Indianerwort soviel wie Güte bedeutet. Und das war sie auch. Habe sie nie anders als still, wohltätig und gütig gesehn. Kein Flecken war je an ihrem Gewand, und kein unlauteres Wort ist je über ihre Lippen gekommen. Kann Euch sagen, daß ich damals oft am Kanubisee gewesen bin und mich monatelang in seiner Nähe umhergetrieben habe. War aber nicht der einzige, dem sie so ausnehmend gefiel. Wer da kam, wollte nicht wieder fort, nur ihretwegen. So auch Tom Muddy und – der Sioux-Ogellallah.«

Er machte hier eine Pause. Die benutzte meine Frau, ihn auf eine Unterlassungssünde aufmerksam zu machen.

»Aber, Mr. Holbers, Ihr habt noch gar nicht gesagt, wem die Häuser am See gehörten und wer Aschtas Vater war.«

»Habe ich noch nicht? Hm! Ja, so bin ich eben. Wenn ich an Aschta denke, vergesse ich alles andre. Ihr Vater war ein Medizinmann der Senekas. Hatte, von den Weißen wegen seines großen Einflusses auf die Roten verfolgt, mit noch einigen gleichgesinnten Indianern die Heimat verlassen, um sich vor ihnen nach dem Wilden Westen zu retten. Er kam in diese Gegend und sah diesen See. Dessen Ähnlichkeit mit dem heimatlichen, schönen Wasserbecken entzückte ihn. So blieb er mit seinen Begleitern da. Sie bauten sich Häuser, ganz in der alten Weise ihres Stammes, und nannten den See so, wie der in der Heimat geheißen hatte, nämlich Kanubisee. Die neue Ansiedlung wurde bald unter den Weißen und roten Jägern bekannt und viel besucht. Sie bildete eine Friedensstätte, und es war wie zum Gebot geworden, daß hier jede Feindschaft schweigen müsse und nur Liebe und Friede walten dürfe.«

Wieder hielt er für einige Augenblicke inne, holte tief Atem und sagte dann:

»Es war eine schöne Zeit, die einzige Zeit meines Lebens, in der ich wirklich glücklich gewesen bin, ich meine – nicht nur als Westmann, sondern als Mensch.«

Dann fuhr er in seiner Erzählung fort.

»Zu den Weißen, die am Kanubisee verkehrten, gehörte Tom Muddy, und zu den Roten ein junger Medizinmann der Sioux-Ogellallah, der zum Vater Aschtas gekommen war, um sein Schüler zu sein und die Geheimwissenschaften der roten Rasse bei ihm zu studieren. Wo er eigentlich wohnte, wußte niemand. Vermute, daß er sich unten an einem Nebenfluß des Purgatorio seine Hütte errichtet hatte, die er nur verließ, um zu seinem Lehrer hinaufzusteigen. Er war ein schöner, junger Mann, im Gebrauch aller Waffen geübt, und dennoch äußerst friedlich gesinnt. Daß Aschta ihn allen andern, die da kamen, vorzog, war kein Wunder. Ich wußte aber hiervon nichts, sondern erfuhr es erst durch Tom Muddy.

Der war weder ein schöner noch ein häßlicher Kerl, aber zudringlich und roh war er. Niemand wollte etwas von ihm wissen. Er hatte ein Auge auf Aschta, oder sogar alle zwei; sie aber wich ihm auf Schritt und Tritt aus und vermied soviel wie möglich, mit ihm zu sprechen. Das ärgerte ihn gewaltig. Denn er hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie müsse seine Frau werden. Glaube aber, er liebte sie nicht nur, sondern er haßte sie auch gleichzeitig, eben weil sie ihm ihre Abneigung so offen zeigte. Das stritt und kämpfte in seinem Innern. Am liebsten verkehrte er mit mir. Warum, weiß ich noch heute nicht. Wahrscheinlich, weil ich es nicht übers Herz brachte, mich von ihm so abzusondern, wie es die andern taten. Ich hütete mich natürlich sehr, ihn merken zu lassen, daß auch ich die schöne Indianerin liebte. Zuweilen kam mir freilich der Gedanke, sie stehe mir zu hoch; aber in gewissen Stunden redete ich mir doch wieder ein, daß ich kein so ganz übler Bursche sei und mich mit manchem andern sehr wohl messen könne. Aber sobald ich dann in ihre Nähe kam, sank mir das Herz wieder vor die Füße, und ich vergaß alles, was ich ihr hatte sagen wollen.

Da kam ich eines schönen Tags von einer längern Jagdstreife zurück und erfuhr von Tom Muddy, daß der Sioux-Ogellallah bei dem Vater Aschtas um sie geworben und die Erlaubnis erhalten habe, sie des Nachts zu rauben –«

»Zu rauben?« wurde er von meiner Frau unterbrochen. »War das notwendig?«

»Nicht nur notwendig, sondern auch schicklich. Habe mir sagen lassen, daß alle diese Bräuche einen tieferliegenden Grund haben. Vater und Mutter haben ihr Kind, ihre Tochter, unter tausend Sorgen und Opfern erzogen. Da kommt ein fremder Mensch und nimmt sie von ihnen weg. Er raubt den Eltern den größten Teil des Herzens ihres Kindes, und dieses folgt ihm gern, ohne zu fragen, ob er es verdient. Diese innern Vorgänge sollen durch die indianischen Verlobungsbräuche äußerlich dargestellt werden. Die Tochter ist bereit, sich rauben zu lassen, aber die Eltern geben sich alle Mühe, dies zu verhüten. Der Geliebte ist ebenso eifrig bestrebt, die Eltern zu überlisten, und hilft das nicht, so greift er zur Gewalt. Es gibt zwischen dem Scharfsinn hüben und drüben einen fesselnden Kampf, an dem oft der ganze Stamm teilnimmt, und es kommt dabei zu unerhörten Taten der Schlauheit und des persönlichen Muts; der Werbende zeigt dadurch, was der Stamm dann später im öffentlichen Leben von ihm erwarten darf.

Als ich diese Neuigkeit von Tom Muddy erfuhr, war es mir, als ob ich einen schweren Faustschlag gegen die Stirn bekommen hätte. Tom Muddy aber war wütend. Er schwur das Blaue vom Himmel herunter, daß der Sioux das Mädchen nicht entführen werde; dafür sei gesorgt. Dabei zeigte er mir seine Pistole. ›Sobald er mir vor die Augen kommt, schieße ich dem roten Schuft ein Loch in den Wanst, daß ihm jedes Gelüst zum Freien vergehn soll.‹

Ich hielt es natürlich für meine Pflicht, den Sioux zu warnen. Aber er war verschwunden. Von dem Augenblick an, da er die Erlaubnis erhalten hatte, Aschta zu rauben, mußte er sich in die tiefste Heimlichkeit hüllen und sich so vorsichtig anschleichen, als gelte es sein Leben. Dazu dürfte er aber wohl kaum den hellichten Tag benützen. Ich gab mir also die Nächte hindurch alle Mühe, ihn irgendwo zu erwischen. Das war nicht ungefährlich für mich, denn ich wußte, daß Tom Muddy dieselben Anstrengungen machte, an ihn heranzukommen. Hatte also die Doppelaufgabe, den einen zu vermeiden und den andern zu entdecken; und ich sage Euch, daß es gar nicht so leicht war, die nötige Vorsicht zu entwickeln. So ging es über eine Woche lang, ohne daß meine Anstrengungen das geringste Ergebnis hatten. Dann kam eine mond- und sternenlose, feuchte Nacht, in der es zwar nicht regnete, aber in einem fort nässelte. Trotzdem blieb ich nicht auf meinem warmen Lager, sondern schlich draußen umher, denn es war mir, als ob grad in dieser höchst ungemütlichen Nacht etwas geschehn müsse, was ich nicht versäumen dürfe. Ich kroch leise an der Hinterseite des Hauses, worin Aschta wohnte, bis zur Ecke hin. Dort wollte ich liegenbleiben, um nach beiden Seiten hin lauschen zu können. Ich schob mich also, als ich die Ecke erreicht hatte, ein wenig vor und – – Herrgott! Da lag schon einer. Drüben auf der andern Seite. Wir stießen fast zusammen. Er sah mich ebenso wie ich ihn, trotz der Dunkelheit. Aber wie ich ihn nicht erkannte, so konnte er auch mich nicht erkennen. Wer war es? Der Sioux oder Tom Muddy? Schon öffnete ich den Mund, um ein leises Wort zu sagen; da erhob der da drüben den Arm. Der Schuß krachte, und ich fiel wie ein Sack auf die Seite, ohne einen Laut von mir geben zu können. Besinnungslos blieb ich liegen, bis man mich fand und ins Haus trug, um mich ins Leben zurückzubringen.

Man hatte natürlich den Schuß gehört und war herausgeeilt, um nach der Ursache zu forschen. Der Medizinmann kam; seine Frau kam; Aschta, seine Tochter, kam, und noch mehrere andre. Während sie alle um mich beschäftigt waren, kam noch einer: der Sioux-Ogellallah. Er schlich unhörbar heran und war klug genug, die Lage sofort für sich auszunutzen. Als man mich ins Haus gebracht und dort niedergelegt hatte, erscholl draußen der laute Siegesruf der Ogellallah. Man horchte auf. Man vermißte die Tochter und wußte nun, woran man war: die Entführung war gelungen. Der Sioux brauchte sich nur mit Aschta zu entfernen, so war sie sein. Aber das hatte er nicht einmal nötig. Er hatte sie geholt, und sie war ihm gefolgt, fort aus der Aufsicht der Eltern. Das genügte. Er brachte sie wieder herein und wurde nun von den Eltern als Sohn empfangen. So war durch den Schuß Tom Muddys also grade das begünstigt und herbeigeführt worden, was er hatte verhüten sollen. Die Kosten freilich hatte ich zu bezahlen. Ich lag lange Zeit im hitzigsten Fieber, mit dem Tod ringend, und erholte mich nur sehr langsam. Sobald ich wieder auf den Beinen war, habe ich mich aus dem Staub gemacht, ohne etwas zu verraten. Kein Mensch kannte den Täter und den eigentlichen Grund des Schusses. Und dieser Schuft ist seit jener Nacht spurlos verschwunden, so heiß auch mein Verlangen gewesen ist, ihm wieder zu begegnen. Als ich dann nach einigen Jahren zum erstenmal wieder nach dem Kanubisee kam, fand ich die Häuser leer; sie waren verlassen. Die Senekas waren von einer Bande weißer Buschklepper überfallen und bis auf den letzten Mann getötet worden. Von ihnen allen lebte nur noch Aschta, weil sie vom See fortgezogen war, um dem Sioux-Ogellallah zu seinem Stamm zu folgen.«

»Habt Ihr sie wiedergesehn?« fragte meine Frau.

»Nein, nie! Habe die Ogellallahs stets als Feinde der Weißen betrachtet und mich gehütet, viel mit ihnen in Berührung zu kommen. Erkundigt habe ich mich freilich einigemal. Da erfuhr ich, daß die schöne Seneka-Squaw des Medizinmannes sehr glücklich sei. Er habe droben am Niobrara für sich und seine Schüler eine eigne Reservation gegründet und lebe dort nur für alte Totems und Wampums, die er sammle, und für die Bücher, die er sich von den Bleichgesichtern schicken lasse. Er sei sogar unter den Weißen ein sehr berühmter Mann.«

»Kennt Ihr vielleicht den Namen dieses Indianers?« unterbrach ich Pitt Holbers.

»Ja«, nickte er.

»Heißt er Wakon?«

»Ja, Wakon.«

»So kenne auch ich ihn, obgleich ich ihn noch nie sah. Er hat sein ganzes Leben dem Studium der Geschichte der roten Rasse gewidmet und Werke über sie geschrieben, die leider noch nicht erschienen sind, weil er sie erst dann veröffentlichen will, wenn auch der letzte Band vollendet ist. Man ist auf sein Lebenswerk mit Recht ungewöhnlich gespannt.«

»Wie alt ist er jetzt?« fragte meine Frau.

»Etwa wie unser Pitt«, erwiderte ich. »Wahrhaft große Männer pflegen nicht eher zu sterben, als bis sie wenigstens innerlich das erreicht haben, was sie erreichen wollten. Die Helden, die der Kampf forderte, sind hiervon natürlich ausgenommen. – Seid Ihr müde?«

Diese Frage richtete ich an Holbers, der sich in seine Decke zu wickeln begann, als wolle er sich niederlegen.

»Müde eigentlich nicht«, antwortete er; »aber die Erinnerung hat mich angegriffen. Habe sie sehr liebgehabt, diese Indianerin, sehr! Habe niemals wieder ein Frauenzimmer daraufhin angesehn, ob ich sie zum Weib haben möchte. Bin ein einsamer Mensch geblieben und werde wohl, wenn meine Stunde kommt, auch ebenso einsam sterben. Will jetzt versuchen, zu schlafen. Gute Nacht!«

Wir erwiderten seinen Wunsch ›gute Nacht‹, doch ging er nur bei einem von uns in Erfüllung, nämlich bei Hammerdull. Er hatte sich schon bei Beginn der Erzählung seines Freundes, die ihm nichts Neues bot, in seine Decke eingewickelt und war bald fest eingeschlafen. Wir andern dagegen fanden keine Ruhe. Pitt Holbers wälzte sich wohl zwei Stunden lang ruhelos von einer Seite auf die andre, dann stand er auf und ging fort, um sich durch eine Wanderung zu beruhigen.

Ich muß sagen, daß ich den langen Westläufer heut von einer ganz neuen Seite kennengelernt hatte. Sein sonstiges trocknes und wortkarges Wesen war völlig von ihm abgefallen; er war ein andrer geworden. Nicht nur, daß er heut wohl die längste Rede seines Lebens gehalten hatte – nein, seine ganze Sprache und Ausdrucksweise war eine, ich möchte fast sagen, gehobene gewesen. Dabei hatte ich Einblick in ein Gemütsleben gewonnen, von dessen Tiefe ich, getäuscht durch die rauhe und trockne Außenseite, nicht die geringste Ahnung gehabt hatte; denn der alte Trapper hatte mir gegenüber, sooft ich mit ihm zusammengetroffen war, nie über diese Dinge gesprochen.

Er war um Mitternacht noch nicht wieder zurückgekehrt. Übermüdet schlief ich doch endlich ein. Aber schon nach etwa zwei Stunden erwachte ich wieder. Jetzt saß Pitt an seinem Platz; er hatte seine Nachtwanderung beendet, sich aber nicht wieder niedergelegt. Ich setzte mich auf. Doch kaum hatte ich das getan, so richtete sich der Junge Adler in die Höhe. Da erklang vom Zelt her die Stimme meiner Frau.

»Auch ich schlafe nicht! Darf ich einen Vorschlag machen?«

»Vorschlag?« fragte ich gespannt.

Klara war inzwischen aus dem Zelt herausgetreten und stand nun vor uns.

»Wollen aufbrechen! Fort! Hinunter nach dem See! Wir schlafen doch nicht wieder ein! Das sind die Folgen solch trüber Geschichten!«

Da sprang Holbers auf.

» Well! Aufbrechen! Fort!«

Ihn trieb es wahrscheinlich nach seinem See der Erinnerungen.

Ich stimmte bei und der Junge Adler auch. Nur Hammerdull brummte unwirsch etwas Unverständliches, als er geweckt wurde. Rasch brachen wir das Zelt ab und luden es einem der Maultiere wieder auf. Dann ritten wir den breiten, bequemen Geländeabfall nach der Hochebene des Sees hinunter. Der Morgen begann langsam zu grauen. Wir hatten grad genug Dämmerlicht für die Augen unsrer Pferde, daß sie sahen, wohin sie traten.

War es wirklich nur die Folge der Erzählung Holbers', daß wir nicht hatten schlafen können? Oder gab es irgendeine Bestimmung, die uns veranlaßt hatte, um so viel früher aufzubrechen, als anfangs in unsrer Absicht gelegen hatte?

Wir ritten still nebeneinander her und erreichten bald die Ebene, auf der wir schneller vorwärts kamen. Der Morgen nahte. Es wurde Tag. Und grad als die Sonne aufging, gelangten wir an den äußern Rand des grünen Laubwalds, der den See von allen Seiten umsäumte. Eine schmale, wiesenartige Lichtung führte in diesen Wald hinein. Sie wurde immer schmaler und bildete schließlich einen Weg von nur fünf oder sechs Meter Breite.

»Das ist derselbe Weg, den ich damals kam«, sagte Holbers. »Nur ist der Wald jetzt viel höher und dichter geworden. Hier fand ich die Spuren. Und nur eine kurze Strecke weiter sehn wir das Wasser des Sees.«

Er ritt diese Strecke voran. Dann wandte er sich nach uns um, deutete aber vorwärts.

»Da sind die letzten Büsche. Und nun kommt der See und der hohe Stein, auf dem Aschta damals saß – mein Himmel!«

Er war um die erwähnten letzten Büsche gebogen, hielt aber plötzlich verdutzt sein Pferd an, stieß diesen Ruf der Überraschung aus und starrte nach einem Punkt, der für uns noch hinter dem Gesträuch verborgen war. Wir ritten schnell hinzu. Da sahen wir nun freilich, daß er sehr wohl Veranlassung hatte zu erstaunen. Und unsre Verblüffung war ebenso groß wie die seine.

Wir hatten den See erreicht und befanden uns an seinem östlichen Rand. Ja, er war es wert, mit dem gleichnamigen Kanubisee in Massachusetts verglichen zu werden. Doch hatten wir jetzt nicht Zeit, seine Schönheit in uns aufzunehmen. Rechts von uns lagen die Überreste der einstigen Senekahäuser, vom ersten Schimmer der Sonne überflutet. Vor uns die vom leisen Morgenhauch bewegte, durchsichtig grünblaue Wasserfläche, deren reich eingebuchtete Ufer sich wie Kulissen ineinanderschoben, mit üppigem Grün bewachsen, dessen Blätter wie eingetaucht in flüssiges Metall erschienen. Und linker Hand, wo die Büsche bis nahe ans Ufer traten, der hohe, weiße, glattgewaschene Stein, und darauf stehend – – – eine junge Indianerin, genau so, wie Pitt Holbers sie uns gestern am Abend beschrieben hatte: sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibribälgen geschmückt, weit über den Rücken herunter. Die Kolibris funkelten im Sonnenstrahl in allen Farben leuchtender Edelsteine; aber das Mädchen schaute nicht, wie damals, der Sonne entgegen, sondern ihr Angesicht war nach der Stelle gerichtet, wo wir ihr jetzt erschienen. Und dieses Mädchen war schön, sehr schön. Sie rührte sich nicht und sah uns nur still und erwartungsvoll aus ihren großen, dunklen Augen entgegen.

Und – sonderbar! Pitt Holbers glitt wie unter einem Zwang von seinem Maultier herab, schritt langsam auf sie zu, als ob ihn eine tiefe Scheu umfinge, und fragte:

»Wie heißt du?«

»Ich heiße Aschta«, antwortete sie.

»Und wie alt bist du?«

»Achtzehn Sommer.«

Da strich er sich mit der Hand übers Gesicht, als ob er träume.

»Nein, nein! Das kann ja auch gar nicht sein. Sie ist eine andre, wenn ihr auch außerordentlich ähnlich!«

»Sprichst du von meiner Großmutter?« fragte nun sie. »Man sagt, daß ich ihr überaus ähnlich sehe.«

»Wie heißt sie?«

»Aschta, wie ich.«

»Und ihr Mann?«

»Heißt Wakon. Wir wohnen weit im Norden von hier, am Niobrarafluß.«

Da schlug er die Hände zusammen.

»Sie ist eine Enkelin von ihr – eine Enkelin!«

Überrascht beugte sie sich von ihrem hohen Standort zu ihm herab.

»Du kennst meinen Großvater und meine Großmutter? Woher? Ich habe dich nie bei uns gesehn.«

»Ich habe sie auch nicht im Jagdgebiet ihres Stammes, sondern hier getroffen, als sie – als sie noch nicht Mann und Frau waren.«

»Wie? Du warst zur selben Zeit hier am Kanubisee, als meine Großeltern einander kennenlernten?«

»Ja, zu derselben Zeit.«

Da stieg sie vom Stein herab und trat ganz nahe vor ihn hin.

»Dann weiß ich, wer du bist. Es ist oft in unserm Stamm von einem Mann gesprochen worden, dem der große Medizinmann der Sioux und seine Frau viel zu verdanken haben, und du gleichst aufs Haar dem Bild, das ich mir nach dieser Beschreibung von dem Mann machte. Sag mir, ist dein Name Holbers?«

»Ja, so heiße ich.«

»So bist du der Retter Wakons, für den du dich geopfert hast. Warum bist du nie zu uns gekommen? Der große Medizinmann und seine Frau haben nicht aufgehört, sich nach dir zu erkundigen, haben aber nie erfahren, wo du bist. Erlaube, daß ich dich begrüße!«

Und schon hatte sie die beiden Hände des alten Trappers ergriffen und einmal, zweimal geküßt, bevor er eine Bewegung der Abwehr machen konnte. Er zitterte vor Aufregung, so hatte ihn das Unerwartete der Begegnung gepackt.

»Woher weiß Wakon, daß jener Schuß ihm gegolten hat?« fragte er. »Ich habe es nie verraten!«

»O doch! Du tatest es ungewollt, denn du erzähltest es im Fieber. Wakon hat jenen Menschen zweimal wiedergesehn, doch ohne ihn fassen zu können. Sein richtiger Name war nicht Tom Muddy, sondern Santer. – Als gestern abend euer Feuer wie ein kleiner, flackernder Stern vom Berg leuchtete, sagte Großmutter zu mir: ›So leuchtete damals das Lagerfeuer unsres weißen Retters von da oben herab, am Abend, bevor ich ihn zum erstenmal sah.‹«

»Deine Großmutter ist hier?« erkundigte er sich schnell.

»Sie war hier, ist es aber nicht mehr«, erwiderte sie. »Es waren viele Frauen und Töchter hier, die aber mit dem Morgengrauen fortgeritten sind. Ich blieb allein zurück – als Wache, als Kundschafterin.«

»Als Kundschafterin?« fragte er lächelnd. »Wenn wir nun Feinde wären?«

»Dann hättet ihr mich nicht zu sehn bekommen.«

»Also hast du wissen wollen, wer wir sind?«

»Weil wir euer Feuer gesehn hatten, ja.«

»Und woraus erkanntest du, daß wir nicht gefährlich sind?«

»Weil sich eine Squaw bei euch befand.«

»Ah! Ganz richtig! Nun mußt du wohl schnell von hier fort?«

»Ja, um die andern einzuholen. Doch werde ich diesen Ort nicht verlassen, bevor ich von dir erfahren habe, wann und wo wir dich wiedertreffen können.«

»Wohin reitet ihr?«

»Das darf ich nicht sagen.«

Da stieg der Junge Adler vom Pferd und trat hinzu.

»Du darfst! Schau her! Ich bin dein Bruder.«

Er trug den neuen Lederanzug, den Hammerdull ihm aufgehoben hatte. In diesem schmucken Anzug nahm er sich sehr stattlich aus. Er deutete auf die rechte Seite der Brust, wo ein kleiner, zwölfstrahliger Stern aus Perlen eingestickt war. Ich sah an derselben Stelle ihres Gewandes den gleichen Stern.

»Du bist ein Winnetou?« fragte sie, ihn jetzt genauer betrachtend.

»Ja.«

»Und ich bin eine Winnetah. Wir tragen beide den Stern des großen Winnetou und sind also Bruder und Schwester. Ich bin eine Sioux-Ogellallah. Und du?«

»Ein Apatsche vom Stamm der Mescaleros.«

»Also von Winnetous Stamm. Ich bitte dich, mir deinen Namen zu sagen.«

»Man nennt mich den Jungen Adler.«

Sie machte eine Bewegung der Überraschung.

»Ich weiß, daß ein Lieblingsschüler des berühmten Tatellah-Satah diesen Namen trägt. Er bekam ihn schon in früher Jugend, wo andre noch lange Zeit ohne Namen sind. Er war der erste, dem Tatellah-Satah erlaubte, den Stern unsres Winnetou zu tragen. Weißt du, wo er sich jetzt befindet?«

»Ja. Er steht vor dir.«

»Du bist es? Du lebst?« fragte sie, indem ein Glanz aufrichtiger Freude ihre Wangen überflog. »Man sagte, du seist verschwunden?«

»Man sagte die Wahrheit.«

»Um den heiligen Ton der Friedenspfeife zu holen?«

»Ja! Und noch Schwereres dazu.«

»Man erzählte, du hättest dir selber dabei eine sehr schwierige Aufgabe gestellt?«

»Auch das ist wahr.«

Die beiden jungen Menschen, die einander anstaunten in Frage und Antwort, boten ein prächtiges Bild. Zukunft der Rasse – mußte ich denken.

»Ist dir die Lösung gelungen?« forschte sie.

»Sie gelang. Unser großer Manitou hat mich geführt und beschützt. Seit ich den Mount Winnetou verließ, sind über vier Jahre vergangen. Nun kehre ich zurück. Du hast denselben Weg?«

»Ja.«

»So will ich nicht fragen, wohin ihr heut reitet, denn ich weiß, daß ich dich wiedersehn werde. Bitte, gib mir deine Hand!«

»Ich gebe dir beide!«

Sie reichte sie ihm und schaute ihm mit großen, offnen Augen in das männlich schön gezeichnete, ernste Gesicht. Er aber sah über den See hinüber, wie in eine weite Ferne hinein. Ein kurzes Schweigen schaltete sich ein. Dann sagte er:

»Die Enkelin des größten Medizinmanns der Sioux, des Forschenden und Wissenden, und der Schüler des unerreichbaren Tatellah-Satah, bei dem die zertretene Seele der roten Rasse ihre einzige und letzte Zuflucht fand: das bist du, und das bin ich. Manitou ist es, der uns hier zusammenführte. Wir trennen uns nur zum Schein. Es soll ein großer Segen ausgehn von dem Ort, wo wir uns wiederfinden. Sei gegrüßt, du liebe, schöne Winnetah!«

Er küßte ihr beide Hände.

»Du wirst den See sogleich verlassen?« fragte er.

»Sofort«, antwortete sie. »Sage mir vorerst nur, wohin euer Ritt von hier aus zunächst gerichtet ist.«

»Nach der Teufelskanzel. Kennst du sie?«

»Ja. Wie gut, daß ich dich fragte. Ich warne dich!«

»Vor wem?«

»Vor Kiktahan Schonka, dem alten Kriegshäuptling der Sioux-Ogellallahs.«

»Vor deinem eignen Häuptling?«

» Pshaw!« rief sie stolz. »Aschta kennt keinen Häuptling über sich. Es geht ein tiefer Riß durch die Dakotastämme. Die jungen Krieger sind für Winnetou, die alten aber gegen ihn. Nimm dich in acht! Ich weiß, daß Kiktahan Schonka nach der Teufelskanzel kommt, um sich dort mit den Häuptlingen der Utahs zu treffen und zu beraten. Hüte dich, ihnen in die Hände zu fallen! Weißt du, daß man sagt, Old Shatterhand werde kommen?«

»Ich weiß es.«

»Und glaubst du, daß dieses Gerücht begründet ist?«

»Ich glaube es.«

»So werden wir ihn sehn, wenn es ihm gelingt, den Gefahren zu entgehn, die auf ihn lauern.«

»Kennst du diese Gefahren?«

»Nein. Ich weiß nur, daß man hofft, ihn, wenn er wirklich kommen sollte, zu ergreifen. Ihn am Marterpfahl sterben zu lassen, war der glühende Wunsch aller Feinde seines Bruders Winnetou. Man sagt, er sei alt und grau geworden. Im Alter kommt dem Körper und der Seele die Kraft abhanden. Wie würde man jubeln, wenn dem Hochbetagten jetzt nun geschähe, was er in der Jugend so oft vereitelt hat! Wenn ich wüßte, wann und wo er kommt, so stellte ich Späher aus, um ihn warnen zu lassen.«

»Sorge dich nicht um ihn, Aschta! Denn was deine Späher ihm sagen würden, das wurde ihm bereits gesagt.«

»So ist er gewarnt?«

»Ja.«

»Manitou sei Dank! Nun kann ich gehn. Doch halt! Noch einen Augenblick!«

Sie entfernte sich nach der Ruine des nächsten Hauses, hinter der ihr Pferd verborgen war. Dort stieg sie auf, kam herbeigeritten und hielt bei uns an, um dem Jungen Adler nochmals die Hand zu reichen.

»Leb wohl! Wir sehn uns wieder?«

Dann fragte sie den langen Trapper:

»Und wo treffen wir dich?«

Holbers wußte nicht, was er antworten sollte.

»Ich reite mit dem Jungen Adler; wohin, das weiß ich jetzt noch nicht«, sagte er zögernd.

Aschta lächelte.

»Mit dem Jungen Adler? So bin ich zufrieden. Ich weiß, daß ich dich bestimmt wiedersehn werde.«

Hierauf wandte sie sich zu meiner Frau und mir. Sie reichte auch uns beiden die Hand.

»Es wurde mir nicht gesagt, wer ihr seid; darum ist es verboten zu fragen. Lebt wohl!«

Damit ritt sie davon, an den Ruinen vorüber, um nach den Büschen einzubiegen, hinter denen sie verschwand. Holbers und der Junge Adler schauten hinter ihr drein, bis sie nicht mehr zu sehn war; dann ging der Trapper ihr langsam, wie ein Träumender, nach. Der junge Indianer blieb noch eine Weile an derselben Stelle stehn, wandte sich aber plötzlich mit einem Ruck um, als ob es ihm Anstrengung verursache, sich von dem Eindruck ihrer Persönlichkeit loszureißen. Wir andern aber stiegen nun auch von den Pferden, und ich machte mich daran, die Spuren derer, die hier gewesen waren, zu untersuchen. Klara ging indessen an die Zubereitung des Morgenkaffees.

Die Fußabdrücke im Boden sagten mir, daß hier etwa vierzig Personen gewesen waren. In mir regte sich der alte Westmann, so daß ich unwillkürlich die Brauen zusammenzog. Diese vierzig waren offenbar meist Frauen gewesen. In früheren Jahren hätte das ein Wagnis bedeutet, Frauen hier in der Wildnis. Ich mußte mich erst gewaltsam daran erinnern, daß die Zeiten von damals vorbei waren.

Dann glitten meine Gedanken hinüber zu der letzten Begegnung, die nun gerade hinter mir lag. Aschta, die Indianerin, das war auch so ein Stück Neuzeit, eine Verkörperung der jungen roten Rasse, mit der sich alte Westmänner nicht so leicht abfanden, und doch ein Stück Zukunft im Sinn meines Winnetou.

Schließlich schüttelte ich all diese Grübeleien entschlossen von mir ab. Ich mußte den Tatsachen leben, die bald genug fordernd an mich herantreten würden.

Als Holbers wiederkam, meldete er, daß Aschta nach Süden geritten sei, wohin auch alle andern Spuren führten.

Hätte mich nicht der Brief des alten Tatellah-Satah dringend nach dem Nugget Tsil gerufen, wo die mittelste der fünf Blaufichten zu mir reden sollte, so hätten wir Aschta nach unserm Besuch an der Teufelskanzel folgen können; denn unser letztes Ziel, der Mount Winnetou, lag im Süden von hier. So aber waren wir gezwungen, von der Teufelskanzel aus erst wieder weithin nach Südosten zu gehn, südlich an Trinidad vorbei. Es schien mir auf dieser Reise nun einmal bestimmt zu sein, daß ich die Zeit, die mir glücklicherweise reichlich zugemessen war, in unvermeidbaren Kreuz- und Querzügen – diesmal sogar fast bis ins Indianer-Territorium – vergeuden mußte.

»Ist das nicht ein wahres Wunder?« fragte Holbers, indem er sich bei uns niedersetzte. »Genau wie damals! Und sie wissen es, daß der Schuß damals nicht mir gegolten hat! Und gesucht haben sie nach mir! Gesucht bis heutigentags! Wie mich das freut! Heute ist ein wahrer Feiertag für mich!«

»Hm«, brummte der Dicke, »ob Feiertag oder nicht, das bleibt sich gleich, aber mir kommt die ganze Geschichte verdächtig vor.«

»Wieso?« erkundigte sich Pitt.

»Da kannst du noch fragen? Dieser unerhörte Zufall! An demselben Ort und unter denselben Umständen! Das ist fast mehr, als ich glauben kann.«

Vermutlich ging es dem guten Dick Hammerdull ähnlich wie mir. Die eigenartige Doppelheit der Ereignisse gab ihm zu denken.

Doch ihm wurde vom Jungen Adler widersprochen.

»Der alte Trapper irrt. Es kann hier kein Trug im Spiel sein, denn die junge Indianerin ist eine Winnetah und wird niemals eine Lüge sagen oder sich auch nur zu solch einem Spiel hergeben.«

»Ob Winnetou oder Winnetah, das bleibt sich gleich«, murrte Dick, noch keineswegs überzeugt, »ich lasse mir keinen Bären aufbinden und werde die Augen offen halten.«

Nicht nur für Holbers, sondern auch für mich hatte das Zusammentreffen mit der jungen, schönen Indianerin eine große Bedeutung. Besonders auffallend mußten mir die zwei Perlensterne sein. Sie waren ein Erkennungszeichen. Der Junge Adler sagte nichts hierüber; so fragte ich auch nicht. Ich wußte ja auch ohnedies, woran ich war. Es handelte sich hier einfach um den großen Unterschied zwischen Stamm und Clan, wie er bei der roten Rasse in Erscheinung tritt.

Dieser Gegensatz ist von größter Wichtigkeit für jeden, der sich ernsten völkerkundlichen Studien über die nordamerikanischen Indianer hingibt. Leider nur ist er diesen Forschern bisher noch nicht geläufig gewesen, oder sie haben ihm doch nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die er ohne Frage verdient.

Wie in der Entwicklung der Menschheit im allgemeinen, so machen sich auch in der Entwicklung jeder einzelnen Rasse zwei einander entgegengesetzte Bestrebungen bemerkbar: der Zug der Zerklüftung und der Zug nach Vereinigung, oder sagen wir, der Zug nach Einheit und der Zug nach Vielheit. Die Zerklüftung geht über die Rasse, das Volk, die Stadt, das Dorf, die Sippe immer weiter herab und hört erst beim abgelegnen Einödhof auf, dessen Besitzer sich nur bei gewissen Gelegenheiten darauf besinnt, daß er auch mit zur großen Menschheit gehört.

Der Weg der Vereinigung ist dem grad entgegengesetzt. Er führt zur Sammlung aller einzelnen durch einen einzigen, großen Gedanken zu einem einzigen, großen Volk. Welcher von diesen beiden Wegen der Weg zum wahren Glück ist, das hat die Menschheit bis heut nicht erkennen wollen, also muß sie es durch bittre Erfahrung lernen.

Wie schmerzlich, ja wie grausam diese Erfahrung ist, das zeigt sich bei keiner Rasse so deutlich wie bei der indianischen. Sie hat die Zerklüftung, die Zerspaltung wohl am weitesten getrieben. Nirgends, selbst im fernsten, dunkelsten Orient nicht, ist die einst mächtige, eindrucksvolle Einheit in so kleine, winzige, ohnmächtige Brocken und Bröckchen zerrieben und zerkleinert worden wie bei den Indianern. Jeder dieser Brocken, jeder dieser vielen Stämme und jedes dieser unzähligen Stämmchen ist stolz auf sich selber und stets bereit, aus Selbstüberschätzung vollends zugrunde zu gehn. Diese Zersetzung hätte schon längst zur völligen Vernichtung geführt, wenn die großen Medizinmänner der Vergangenheit nicht bemüht gewesen wären, ihr entgegenzuarbeiten, und zwar in doppelter Weise, in theologischer und in sozialer.

Der theologische Weg der Vereinigung lag in dem Gedanken ›Großer Geist‹ oder ›Großer, guter Manitou‹. Die Forschung hat gezeigt und wird noch weiter zeigen, daß der echtblütige Indianer gläubiger Monotheist war und sich dabei glücklich fühlte, bis die zersetzende Vielgötterei sich von außen her tief in sein Inneres bohrte und den großen Niagarafall des Rassensturzes und der Rassen- und Sprachzerstäubung vorbereitete. Und der soziale Weg der Vereinigung wurde in dem Gedanken der Clans gegeben, durch die die äußerlich zerspaltenen Stämme innerlich wieder verbunden und zusammengehalten werden sollten. Freilich darf man das Wort Clan Sprich: Klänn hier nicht im englischen oder schottländischen Sinn nehmen. Es wurde ein Clan der Wahrhaftigkeit, der Treue, der Wohltätigkeit, der Beredsamkeit, der Ehrlichkeit gegründet. Wer sich in der Beredsamkeit üben wollte; wer sich vornahm, das ganze Leben hindurch wohltätig zu sein; wer sich stark genug fühlte, niemal eine Lüge zu sagen, niemals untreu oder unehrlich zu sein, der konnte dem betreffenden Clan beitreten und sich durch Wort und Handschlag verpflichten, das ihm eigne Gebot zu erfüllen und lebenslang zu halten. Wer es auch nur einmal übertrat, wurde ausgestoßen und galt als ehrlos. Der leichtern Unterscheidung wegen und um ein sichtbares Erkennungszeichen zu haben, nahm jeder Clan den Namen irgendeines Tieres an, dessen Bild als Merkmal diente. So gehörte zum Beispiel der große Redner der Senekas, Sa-go-ye-wat-ha, dessen Grab wir in Buffalo besuchten, zum Clan der Wölfe. Es gab einen Clan der Adler, der Geier, der Hirsche, der Bären, der Schildkröten und so weiter.

In einen solchen Clan konnte ein jeder eintreten, wes Stammes er immer war. Selbst der Todfeind wurde aufgenommen und aus allen Kräften beschützt und unterstützt, wenn er die ihm auferlegte Bedingung treu und ehrlich erfüllte. So sehr zum Beispiel die Kiowas und die Navajos einander haßten und sich gegenseitig bis auf Blut und Tod verfolgten: sobald sie sich als Mitglieder eines Clans erkannten, war diese Feindschaft begraben. Man kann sich denken, wie segensreich diese Clans wirkten! Leider aber hörte das auf, als die Bleichgesichter erschienen und ihnen gestattet wurde, auch beizutreten. Sie nützten die Clans nur für ihre persönlichen Zwecke aus und steckten die Vorteile ein, die ihnen daraus erwuchsen, ohne aber ihren Verpflichtungen nachzukommen. Dadurch büßten die Clans ihren guten Ruf ein und somit auch die große, soziale Wirkungskraft, auf die sie von ihren einstigen Gründern berechnet waren. Es blieb eine Frage der Zukunft, ob sie überhaupt wieder aufleben würden oder nicht.

Immer waren die Clans nach Tieren benannt, niemals nach einem Menschen. Wenigstens ist es mir nicht erinnerlich, von einem solchen Fall gehört zu haben. Vielmehr war ein solches Beispiel jetzt soeben zum erstenmal an mich herangetreten: ein Clan mit dem Namen Winnetou! Denn daß es sich um einen Clan handelte, stand außer Zweifel, und das Erkennungszeichen für die Zugehörigen war der zwölfstrahlige Stern, den der Junge Adler und Aschta an ihren Gewändern trugen. Wann war dieser Clan gegründet worden? Vor wenigstens vier Jahren. Denn so alt war der Anzug, den der Junge Adler jetzt trug. Dieser junge Indianer war der erste, der in dem neuen Clan Aufnahme fand, und zwar durch Tatellah-Satah, der also der Gründer dieser Winnetou-Vereinigung war, deren männliche Mitglieder als Winnetou und deren weibliche als Winnetah bezeichnet wurden. Welchen höhern Zweck hatte dieser Clan? Und welche Verpflichtungen legte er seinen Mitgliedern auf? Ich fragte nicht, denn ich hoffte, es bald zu erfahren. Daß seine Ziele äußerst friedlich waren, konnte man schon aus der Stammesangehörigkeit der beiden Mitglieder ersehn, die ich bis jetzt kannte: ein Apatsche und eine Sioux-Ogellallah, Angehörige zweier Stämme, die sich eigentlich unbedingt als Todfeinde betrachten mußten. –


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