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10. Im ›Haus des Todes‹

Nach dem Frühstück wurde das Zelt abgebrochen. Wir sattelten die Stangen lang anstatt quer, weil Kakho-Oto sagte, daß der Weg nach dem Haus des Todes sehr schmal sei. Er führte zuweilen so steil bergab, daß wir bald nicht mehr reiten konnten, sondern absteigen mußten. Wir folgten einer tiefen, zunächst dicht bewaldeten Schlucht, die zahlreiche Windungen bildete.

Eine Aussicht gab es nicht. So waren wir weit über eine halbe Stunde lang abwärts geklettert, da sahen wir plötzlich eine hohe, fast vollständig nackte Schutthalde vor uns liegen; sie bestand nicht aus dem sonst hier umherliegenden kleinen Gestein, sondern aus großen Felsstücken, die vermuten ließen, daß hier vor vielen Jahrhunderten ein gewaltiger Bergsturz stattgefunden hatte. Freilich erwies sich diese Annahme als Irrtum.

»Wir sind beim Haus des Todes angekommen«, sagte Kakho-Oto, indem sie auf diese Felstrümmer deutete.

»Das soll es sein?« fragte ich. »So sind die Felsen hohl?«

»Ja. Sie sind nicht massiv, sondern künstlich aufgebaut. Kommt!«

Sie führte uns um eine Ecke der Felsenstätte, und nun standen wir vor einem massigen, mehr breiten als hohen Tor, das keinen bogenförmigen, sondern einen geraden Verschluß hatte. Die beiden Seitensteine hatten eine Breite von über zwei Metern. Sie zeigten gut erhaltene, aus dem Stein herausgearbeitete Figuren von Häuptlingen, die im Begriff standen, durchs Tor ins Innere des Tempels zu treten. Die Häuptlinge waren gekennzeichnet durch ein, zwei oder drei Adlerfedern, die sie im Kopfhaar trugen. Auch der Oberstein war mehrere Meter hoch. Ihm war die Figur eines Beratungsaltars eingemeißelt, auf dem Häuptlinge ihre Medizinen opferten.

»Aber das ist ja gar kein Haus des Todes, gar keine Begräbnisstätte«, sagte ich, »sondern ein Beratungstempel, in dessen Altar die Medizinen aufbewahrt werden, bis das, was man beraten hat, ausgeführt wurde!«

Kakho-Oto lächelte.

»Das weiß ich wohl. Aber wir dürfen das dem einfachen Volk nicht sagen, sonst würde die Stätte nicht so heilig gehalten, wie die Häuptlinge es wünschen. Übrigens gibt es so viele Leichen hier, daß der Ausdruck Haus des Todes wohl berechtigt ist. Gehn wir sogleich hinein?«

»Wie weit ist es von hier bis zum See?«

»Etwa zweihundert Schritte.«

»So müssen wir vorsichtig sein. Es kommen nicht nur einheimische, sondern auch fremde Indianer her, die das Verbot, diesen Ort hier zu betreten, wohl kaum beachten werden. Wir müssen also vor allen Dingen unsre Pferde verbergen und uns Mühe geben, keine Spuren zu verursachen. Erst dann werden wir den Tempel betreten. Suchen wir also nach einer Stelle, die sich zum Versteck für uns und die Pferde eignet!«

»Die ist bereits gefunden«, sagte Kakho-Oto. »Ich habe gesucht, noch bevor ich den See verließ, um euch entgegenzureiten. Kommt!«

Sie führte uns eine kurze Strecke zurück und dann in eine Seitenschlucht hinein, aus der wieder eine dritte Vertiefung abzweigte, die grad groß genug für unsre Zwecke war. Es gab Wasser und Grünfutter mehr als genug. Wir sattelten ab, hobbelten die Pferde und die Maultiere an und gaben ihnen wieder unsern alten Holbers als Wächter. Er war damit ganz einverstanden, nicht ›überall mit herumkriechen zu müssen‹; so drückte er sich aus. Wir andern aber kehrten nach dem Haus des Todes zurück.

Dort schritten wir zunächst die Umgebung ab. Es war weder die Spur eines Menschen noch eines Tiers zu sehn. Wir verwischten mit Hilfe von Zweigen unsre Fährte sofort hinter uns. Als wir vorhin von der Höhe unsres gestrigen Lagers herabkamen, waren wir an die Nordseite des Baues gelangt. An dieser Seite befand sich, wie bereits beschrieben, das Tor. Es war hinter Büschen und Bäumen derart verborgen gewesen, daß kein Mensch hier einen Tempel vermutet hatte. Erst als zufällig ein verlassenes, aber nicht ausgelöschtes Lagerfeuer weiter um sich gefressen und das Gebüsch zerstört hatte, war das Tor sichtbar geworden und das Geheimnis verraten. Man sah die Spuren des Feuers noch jetzt am verräucherten Gestein. Als wir von der Nord- nach der Südseite des vermeintlichen natürlichen Felssturzes gelangten, sahen wir das Wasser des Sees in der von Kakho-Oto genannten Entfernung vor uns liegen. Die übereinandergehäuften Quader und Steinbrocken waren also vom See aus deutlich zu sehn, machten aber einen so naturgetreuen Eindruck, daß kein Mensch von selber auf den Gedanken gekommen wäre, hier eine künstliche Anlage zu suchen. Der Felsabsturz war steil und unwegsam, so daß man ihn unmöglich ersteigen konnte. Lediglich in den Winkeln und Nischen, wohin der Staub und Erde hingetragen hatte, gab es ein wenig Grün, sonst aber war alles nur glatter, lebloser Stein.

Das war das Äußere. Nun aber kam das Innere des Berges. Gleich hinter dem Tor befanden wir uns in einem nicht allzu weiten, aber sehr hohen Raum eigentümlicher Bauart. Man denke sich einen in zwei gleiche Teile auseinandergeschnittenen Zuckerhut, der mit seiner graden, senkrechten Schnittfläche am Felsen lehnte, während seine gebogne, halbkegelförmige Wand von den Felsstücken gebildet wurde, aus denen der vermeintliche Bergsturz bestand. Diese Wand ging also innen nicht senkrecht, sondern schief nach oben. Sie bildete dabei keine glatte Fläche, sondern ihre riesigen Quader lagen derart neben- und übereinander, daß sie abwechselnd Vorsprünge und Nischen ergaben, die zur Aufbewahrung von Mumien oder Skeletten dienten. Die Anordnung der Steine ermöglichte es außerdem, in einer Zickzacklinie an der Wand emporzusteigen, obwohl sie nach innen gewölbt war.

Am Boden, genau in der Mitte des Tempels, stand ein steinerner Altar. Er besaß, wie wir erst später bemerkten, im Innern eine Höhlung, auf der eine schwere, glatte Platte lag. Die Seitenflächen dieses Altars zeigten vierundzwanzig Figuren, und zwar zwölf Adlerfedern und zwölf festgeschlossene Hände. Es wechselte immer eine Hand mit einer Feder ab. Die geschlossene Hand ist das Zeichen der Verschwiegenheit. Die Figuren sagten also, daß nur Häuptlinge sich diesem Altar nahen durften und daß alles, was da besprochen und vorgenommen wurde, streng geheim zu halten war. Die Platte sah in ihrer Mitte schwarz aus, denn es hatte darauf bei jeder Beratung ein Feuer gebrannt.

Die Beleuchtung dieses fremdartigen Raums war geheimnisvoll, irgendwie vorbereitend auf Abenteuer. Es herrschte ein seltsames Halbdunkel. Das wenige Licht, das es gab, kam durch die Quadermauer. Man hatte darin in gewissen Abständen einen Quader ausgelassen, so daß durch diese Öffnungen der Schein des Tages Zutritt finden konnte. Aber die Mauer war außerordentlich dick, so daß eine jede dieser Öffnungen schon mehr einen tiefen Gang nach außen bildete, dessen Ende von unten aus nicht zu sehn war. Zudem waren diese Lichtschächte von draußen sehr fürsorglich verkleidet worden, damit man sie nicht etwa vom See aus bemerkte. Es ging also von dem hereinbrechenden Licht der größte Teil verloren, noch bevor es das Innere des Tempels erreichte. Ich habe eine ähnliche geheimnisvolle Beleuchtung in einigen ägyptischen Königsgräbern gefunden, die allerdings sehr niedrig sind. Dieser Tempel am ›See des Todes‹ aber hatte eine solche Höhe, daß sich die eigenartige Lichtwirkung unendlich steigerte. In jeder Nische befand sich eine dunkle, hockende Mumie, die kaum zu erkennen war, oder ein helleres Skelett in kauernder Stellung oder ein Haufen von losen Schädeln, von Arm- oder Beinknochen. Über jeder Nische war im Stein eine Adlerfeder eingehauen, zum Zeichen, daß diese Knochenteile einst Häuptlingen gehörten.

Die Luft, die uns umgab, war gut, denn die Öffnungen waren zahlreich. Sie gingen bis hinauf an die Spitze. Und, was mir besonders wichtig erschien, man konnte von einem Lichtschacht zum andern, oder, wenn man sagen darf, von Fenster zu Fenster emporsteigen. Genauer: man hatte das früher gekonnt; denn es führten, wie schon erwähnt, von Fenster zu Fenster, von Nische zu Nische freie, aus der Mauer ragende Stufensteine empor, die bis zum Boden hinabgereicht hatten. Jetzt aber fehlten die untersten dieser Stufen. Man hatte sie abgehauen, und zwar erst vor kurzer Zeit; das sah man an der Bruchfläche, die von ihrer dunkleren Umgebung hell abstach.

»Schade, daß diese Stufen jetzt fehlen«, sagte meine Frau.

»Weshalb?« fragte ich.

»Weil ich gern einmal dort hinauf möchte.«

»Klettergemse!« scherzte ich.

»Verstell dich nicht!« antwortete sie. »Ich kenne dich genau; niemand wünscht so sehnlich wie du, da hinaufzusteigen. Du mußt doch stets in alle Nischen gucken und mußt zu jedem Fenster hinausschauen, um zu wissen, was draußen zu sehn ist. Willst du das leugnen?«

»Nein! Nur, daß ich in alle Nischen gucken will, ist übertrieben. Aber daß ich hier unbedingt einmal zu irgendeinem Fenster hinaufsteige, halte ich sogar für unumgänglich notwendig. Es ist unerläßlich, von oben aus Umschau zu halten. Ich muß wissen, wie weit man von da aus den See überschaut. Vielleicht sieht man von hier oben aus etwas, was uns sonst entgehn würde.«

»Aber wie kommst du bis dort hinauf, wo die Stufen beginnen?«

»Sehr einfach: Wir bauen eine Leiter.«

»Richtig!« spendete sie mir Beifall. »Wollen doch gleich damit anfangen!«

Wir gingen hinaus. Es fanden sich leicht zwei langaufgeschossene Stangenhölzer, und wir schnitten die nötigen Quersprossen dazu. Hammer und Nägel hatten wir freilich nicht. Es mußte also alles gebunden werden, und Riemen waren genug da. Bald war die Leiter fertig. Wir gingen wieder hinein, legten sie an und stiegen alle hinauf. Sie reichte grad bis zu der untersten der noch vorhandnen Stufen. Von da aus stiegen wir weiter nach oben, ohne Geländer, auf frei aus der Mauer ragenden Steinen, die als Stufen galten. Das war nicht ungefährlich. Ein jeder dieser Steine mußte geprüft werden, bevor man sich ihm anvertraute. So kamen wir an vielen Nischen vorüber, deren Inhalt wir untersuchten. Mumien und Skelette waren darin, Funde schauerlicher Art.

Als wir hoch genug geklettert waren, stiegen wir in einen der obersten Fensterschächte. Er war so groß, daß wir gebückt darin stehn konnten, und glich einem Gang. Wir hatten neun Schritte zu tun, bevor wir ins Freie gelangten. Da standen wir hoch oben auf dem künstlich ausgeführten Bergsturz und überschauten einen großen Teil des Sees. Um aber trotz der Verkleidung des Auslugs nicht gesehn zu werden, setzten wir uns. Wie leicht konnte ein Kiowa oder ein Komantsche in der Nähe sein, der uns sofort bemerken mußte, wenn wir aufrecht standen und uns bewegten. Und richtig! Es war nicht nur eine Rothaut da, sondern wir sahen sogar viele. Sie ritten zweihundert Schritt entfernt am Ufer des Sees an uns vorüber, langsam, müd und still, im Gänsemarsch, immer einer hinter dem andern.

»Das sind die Sioux des alten Kiktahan Schonka«, sagte ich. »Die Utahs find entweder schon vorüber, oder sie kommen hinterdrein. Sie haben also wirklich, wie sie beabsichtigten, unterwegs ganze Rasttage eingeschaltet. Sonst wären sie alle längst hier. Und Zuzug haben sie auch in Massen erhalten. Das da unten ist ja ein ganzer Heerbann.«

»So sind wir grad zur rechten Zeit gekommen«, meinte Klara

»Ich hoffe es«, antwortete ich.

Der Junge Adler war still; Kakho-Oto aber erklärte:

»So muß ich euch verlassen. Werdet ihr mir auch vertrauen, daß ich dort unten nichts tue, was euch schaden könnte?«

»Wir vertrauen dir«, antwortete ich in ihrer Muttersprache. »Wann dürfen wir dich wieder erwarten?«

»Das weiß ich nicht. Ich gehe, um zu beobachten, was geschieht, und um es euch dann zu sagen. Habe ich euch nichts zu berichten, so komme ich nicht. Erfahre ich aber Wichtiges, so kehre ich schnell zurück. Wo treffe ich euch?«

»Da, wo du willst.«

»So bitte ich euch, möglichst dort zu bleiben, wo jetzt die Pferde stehn. Begebt euch nicht unnötig in Gefahr! Unternehmt es vor allen Dingen nicht, uns zu beschleichen! Ich wache für euch. Meine Augen sind eure Augen. Ihr werdet alles erfahren, was ich auskundschaften kann.«

Ich versprach, ihr diesen Wunsch zu erfüllen; dann entfernte sie sich. Wir aber blieben noch hier oben, um die vorbeiziehenden Roten zu beobachten. Es dauerte lange Zeit, bis die Sioux vorüber waren. Dann kamen die Utahs. Es tat mir weh, diese verblendeten, haßerfüllten Leute so daherschleichen zu sehn.

»Wer wird gewinnen?« fragte meine Frau; »sie oder wir?«

Das war die Frage eines Menschen, der die Schwere der Gefahr nicht ermaß, der nicht ahnte, was alte Freunde einst mit mir in diesen Landstrichen durchfochten und durchkämpft hatten.

»Ich hoffe: wir«, antwortete ich kurz.

Der Junge Adler aber, der meiner Frau offenbar gefällig sein wollte, fügte hinzu:

»Sie haben keine Vorräte, weder für sich noch für ihre Pferde. Das ist unser Sieg.«

Daraufhin sah mich meine Frau fragend an, und so gab ich ihr die nötige Erklärung.

»Diese Indianer handeln so, wie sie vor fünfzig, ja vor dreißig Jahren nicht gehandelt hätten. Sie haben die kriegerischen Tugenden ihrer Rasse verloren, weil sie diese Fähigkeiten nicht mehr geübt haben. Das ist der Fluch einer unheldischen Zeit; sie entnervt ihr Geschlecht. Zog man früher hier in den Krieg, so tat man das in einzelnen Trupps, nicht aber gleich in der Stärke von tausend Mann. Und diese Trupps waren leicht zu verpflegen. Es gab Büffel zu jagen, und der Weg wurde möglichst über die grasigsten Prärien genommen, die den Pferden das nötige Futter spendeten. Der Indianer machte im Frühling Fleisch für sechs Monate und im Herbst wieder Fleisch für sechs Monate. Da gab es so große Vorräte von geriebenem und getrocknetem Fleisch, daß es zu jeder Zeit leicht war, sich für lange Kriegszüge zu versorgen. Wo sind jetzt die Büffel? Wo die andern jagdbaren Tiere? Wo gibt es jetzt einen Indianer, der in seinem Zelt Fleischvorräte für Monate hat? Das gab es früher; jetzt aber ist alles anders geworden. Wer da glaubt, in der alten Weise verfahren zu können, der ist verloren. Wir leben in einer andern Zeit. Mein Bärentöter hängt daheim. Mein Henrystutzen gilt nicht mehr, was er früher galt. Was aber tun Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch? Sie sind ausgezogen mit tausend Sioux und tausend Utahs. Mit Menschen und mit Pferden, die keine Spur von Kriegserfahrung besitzen. Und, vor allen Dingen, ohne die nötigen Lebensmittel! Nun sind sie gezwungen, bei den Kiowas und Komantschen zu betteln. Wo aber haben die ihre Fleisch- und Brotvorräte? Sie haben selber nichts! Auch sie werden ausziehn zu zwei Tausenden, zusammen also wahrscheinlich viertausend Wann und viertausend Pferde, ohne den unentbehrlichen Troß. Woher den täglichen Unterhalt, das Futter, das Wasser für so unvernünftig viele nehmen? Es braucht kein einziger von ihnen durch Feindeshand zu fallen. Hunger und Durst werden sie alle miteinander zermürben! Indem ich sie hier an uns vorbeireiten sehe, ist es mir, als wären sie nicht Körper, sondern verschmachtete Seelen, die nach dem Jenseits ziehn, um dort in ihren leeren ewigen Jagdgründen vollends zu verhungern.«

»Uff, uff!« rief der Junge Adler, dem meine Darstellung einleuchtete.

Meine Frau aber war still. Auch sie sah ein, daß ich recht hatte; aber diese Einsicht drückte sie nieder. Im Geist sah sie sofort viertausend untergehende Menschen vor sich, und daß es unsre Aufgabe war, an diesem Untergang mitzuwirken, das tat ihr leid.

Als der letzte der Utahs vorüber war, stiegen wir wieder hinab, versteckten die Leiter sorgfältig im Gesträuch, damit sie von keinem Unbefugten entdeckt werden konnte, und kehrten dann zu Holbers und unsern Pferden zurück.

»Kakho-Oto war hier«, meldete er. »Sie sattelte eilig und ritt dann fort. Sie sagte, Ihr wüßtet schon, wohin.«

Nun schlugen wir das Zelt auf und machten es uns bequem. Ich war entschlossen, dem Wunsch unsrer Freundin gehorsam zu sein und uns keiner Gefahr auszusetzen. Es schien auf alle Fälle am besten, wir blieben hier still verborgen. So gab es also Zeit und Gelegenheit, das Vermächtnis meines Winnetou vorzunehmen und durchzusehn. Ich öffnete die Pakete, und dann waren wir beide, meine Frau und ich, für den ganzen Vor- und Nachmittag in ihren Inhalt vertieft. Über diesen Inhalt werde ich an andrer Stelle sprechen Gemeint ist der von Karl May geplante Abschlußband ›Winnetous Testament‹, den er leider nicht mehr schreiben konnte, da der Tod ihm die Feder aus der Hand nahm. Vgl. hierzu Band 34, Seite 527. Die Herausgeber; für jetzt will ich nur sagen, daß wir noch nie etwas Ähnliches gelesen hatten und daß der Schatz, der sich uns hier auftat, größer war, als ein Haufen Gold, der den Erben nur vergänglichen Reichtum überliefert hätte.

Gegen Abend stellte sich Kakho-Oto wieder ein. Sie meldete uns, daß die Kiowas, Komantschen, Utahs und Sioux nun alle versammelt seien, und über viertausend Mann zählten, von jedem Stamm etwas über tausend Krieger. Es war also, wie ich vermutet hatte. Am Vormittag hatte man gelagert und gegessen. Am Nachmittag waren die verschiedensten Vorberatungen abgehalten wollen. Es hatte sich nach langen Widersprüchen endlich Einigkeit ergeben, und es war eine nachträgliche Hauptberatung nur als eine Art Schlußfeierlichkeit alles Vorhergehende vorgesehn.

»Diese Hauptberatung findet also statt?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Kakho-Oto.

»Wann?«

»Grad um Mitternacht.«

»Wenn ich doch dabei sein könnte, ohne gesehn zu werden!«

Da fiel meine stets besorgte Frau rasch ein:

»Nein! Daraus wird nichts! Das ist zu gefährlich!«

»Wieso gefährlich?«

»Wenn sie dich entdecken, ist es um dich geschehn! Ich habe einen guten Gedanken, der diese heikle Lauscherei vollständig unnötig macht.«

»Ich bin gespannt.«

»Kakho-Oto nimmt an dieser Hauptberatung teil und sagt uns dann, was gesprochen wurde.«

Da lachte ich laut auf.

»Diesen Gedanken nennst du gut? Nie wird ein weibliches Wesen an einer derartigen Häuptlingsversammlung teilnehmen dürfen.«

»Nicht?« staunte sie enttäuscht. »Das ist freilich schlimm. Aber erfahren müssen wir auf alle Fälle, was beraten worden ist! Wie fangen wir das an?«

Da lächelte die Indianerin.

»Ihr werdet bei dieser Versammlung zugegen sein.«

Fragend schauten wir alle sie an.

»Und niemand wird euch sehn«, fuhr sie fort. »Die Häuptlinge kommen in das Haus des Todes. Der Medizinmann der Komantschen will es so, und der Medizinmann der Kiowas stimmt ihm bei. Sie meinen, das Haus des Todes sei schon vor Jahrtausenden ein Beratungshaus der Anführer gewesen und solle es nach seiner Entdeckung jetzt nun wieder sein. Zugleich sei es die Begräbnisstätte der Häuptlinge. Weibern sei das Betreten dieser Stätte bei Todesstrafe verboten, Kriegern ohne Rang ebenso, außer sie sind zur Bedienung der Häuptlinge dabei.«

»Du sagtest, daß sie um Mitternacht kommen?« fragte meine Frau aufgeregt.

»Ja, kurz vorher, denn die Feierlichkeit soll genau um Mitternacht beginnen.«

»Da stellen wir uns zeitig genug ein, vielleicht schon eine Stunde vorher.«

»Aber du doch nicht!« sagte ich.

»Warum nicht?« stutzte sie.

»Weil das kein Unternehmen für Frauen ist«, erklärte ich kurz.

»Also ein gefährliches?« fragte Klara zurück.

»Vielleicht.«

Damit aber hatte ich verspielt.

»So«, sagte sie, »dann wirst du mich nicht los. Wo du in Gefahr bist, will ich an deiner Seite sein. Ehe ist Kameradschaft. Bitte, nimm mich mit!«

Solchem Einspruch konnte ich unmöglich mit einem barschen Nein begegnen.

»Wir müssen uns verstecken«, erklärte ich. »Da heißt es, vorher den richtigen Platz finden. Auch muß man die Zeit berechnen und nicht zu spät kommen. Wir wissen ja noch nicht, wieviel Personen –«

»Ich weiß es«, fiel Kakho-Oto ein. »Es kommen Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, To-kei-chun und Tangua, die vier Oberhäuptlinge, sodann die beiden Medizinmänner der Kiowas und der Komantschen und außerdem fünf Unterhäuptlinge von jedem der vier Stämme. Auch einige einfache Krieger sind dabei, das nötige Feuerholz herbeizuschleppen und Tangua zu tragen, der nicht laufen kann. Jeder Stamm brennt sein eignes Beratungsfeuer. Außerdem wird noch ein Feuer auf dem Altar angezündet, in dessen Innern die Medizinen der Oberhäuptlinge verwahrt werden, bis die Beschlüsse dieser Tagung ausgeführt sind.«

»Dann können wir also annehmen«, fuhr ich fort, »daß etwa dreißig Personen kommen werden. Wo und wie sie sich verteilen, das wissen wir nicht. Deshalb heißt es, vorsichtig sein. Es gibt da, wo die Beratungen stattfinden, keine Stelle, die uns ein wirklich sicheres Versteck bietet. Es ist dort kein einziger Gegenstand vorhanden, hinter dem wir uns verbergen könnten. Da steht nur der Altar, um den sie sich versammeln werden.«

»So verstecken wir uns oben!« rief meine Frau. »Mit Hilfe der Leiter! In den Luftschächten, in den Fenstervertiefungen!«

»Ganz recht!« nickte ich. »Aber denkst du dabei auch an die Feuer? Es werden dicke Rauchschwaden aufsteigen. Und wenn wir in unserm Versteck auch nicht grad ersticken, so wird uns der Rauch doch reizen zum Räuspern und Husten. Und dadurch würden wir uns verraten. Es werden fünf Feuer brennen, vier Stammes- und ein Altarfeuer. Sie werden mit Holz und Reisig genährt. Das gibt, zumal wenn es nicht ganz trocken ist, einen bedeutenden Qualm, und es wird da oben, wohin du steigen willst, nicht auszuhalten sein; es sei denn, wir finden einen Platz, wo dieser Qualm uns nicht erreicht.«

»Hm! Ob es eine solche Stelle gibt?«

»Ich hoffe es. Unten können wir uns, wie gesagt, nicht verstecken; wir müssen hinauf. Aber auch nicht zu hoch, weil wir sonst nichts hören würden. Es gilt, die Windrichtung zu kennen und den Luftzug zu berechnen. Das Tor und alle Fensterschächte stehn offen. Es wird also Luftzug mehr als genug vorhanden sein. Aber nach welcher Seite geht er? Ich schlage vor, wir erproben es! Wir haben fast noch eine Viertelstunde Zeit, bevor es Abend wird. Gehn wir schnell nach dem Haus, um ein Feuer anzuzünden und zu sehn, wohin der Rauch entweicht.«

»Und dabei erwischt zu werden!« warnte Hammerdull.

»Es kommt niemand«, versicherte Kakho-Oto. »Wir können es unbesorgt tun.«

Mein Vorschlag wurde also ausgeführt. Wir – Pitt Holbers ausgenommen, der bei den Tieren bleiben mußte – begaben uns wieder nach dem alten Bauwerk und sammelten unterwegs so viel dürres Holz, wie nötig war, den geplanten Versuch zu machen. Die Leiter wurde wieder hervorgeholt. Dick Hammerdull brannte auf mein Geheiß das Feuer an und unterhielt es. Der Junge Adler aber stieg hinauf und beobachtete die durch Zug und Wärme verursachte Luftbewegung und den abziehenden Rauch. Hierdurch ermittelte er die für uns am besten geeignete Stelle. Dann kam er wieder herab; wir verlöschten das Feuer und tilgten sorgfältig jede Spur davon. Schließlich kehrten wir nach unserm Lagerplatz zurück. Kakho-Oto aber verabschiedete sich von uns, um sich zu ihren Kiowas zu begeben und am nächsten Morgen zeitig wiederzukommen. Während meine Frau uns am Lagerfeuer das Abendessen bereitete, gossen wir mit Hilfe des vorhandnen Bärenfettes und einer aufgedrehten, ungefärbten Baumwollschnur einige kleine Kerzen, die wir nötig hatten, um bei unserm nicht ungefährlichen Aufstieg in die Höhe des Hauses nicht ganz im Dunkeln zu sein.

Gefährlich war diese Kletterpartie immerhin: Darum wollte ich mit dem Jungen Adler allein hinauf. Dick Hammerdull und Pitt Holbers hatte ich gebeten, meiner Frau am Lagerplatz Gesellschaft zu leisten und Pferde und Gepäck zu bewachen. Klara aber beharrte darauf, uns zu begleiten. Sie erklärte, es sei ihr gutes Recht, jede Gefahr mit mir zu teilen.

Als die elfte Stunde nahte, brachen wir auf und hinterließen den beiden Jägern die Weisung, falls wir gegen Morgen noch nicht zurück sein sollten, vorsichtig nachzuschauen, was uns im Haus des Todes festgehalten hätte.

Der Weg durch die sternenhelle Nacht war leicht zu finden. Im Haus zündeten wir die drei Kerzen an. Der Aufstieg war schwieriger, als ich vorausgesehn hatte, und zwar der Leiter wegen. Wir brauchten sie, um zur untersten Stufe hinaufzukommen, und da wir sie unmöglich stehn lassen konnten, mußten wir sie mit hinaufnehmen. Der Junge Adler stieg voran; dann folgte meine Frau, ich hinter ihr her. Die Leiter trugen wir beiden Männer gemeinsam, er vorn und ich hinten, so daß sie für meine Frau ein mitwandelndes Sicherheitsgitter bildete, woran sie sich im Fall der Unsicherheit zu halten vermochte. Wir gelangten langsam hinauf. Die Leiter schoben wir in eine tiefe Fensteröffnung, worin sie vollständig verschwand, löschten unsre kleinen Lichte und stiegen durch die Öffnung, die wir ausgekundschaftet hatten, hinaus ins Freie.

Über uns strahlte ein heller Sternenhimmel. Das Licht reichte hin, uns den See als eine mattsilberne Fläche zu zeigen, die im Schattenrahmen der Ufersträucher lag. Wir brauchten nicht lange zu warten, so bewegte es sich dort vorn. Es kamen Gestalten, langsam, eine hinter der andern. Auch die Bahre sahen wir, worauf der Häuptling der Kiowas getragen wurde. Sie bestand aus einer Decke, die zwischen zwei starken Stangen befestigt war. Einige schleppten große Holz- und Reisigbündel. Wir zählten vierunddreißig Personen, warteten, bis die letzte von ihnen im Innern des Hauses verschwunden war, und schlüpften dann auch hinein. Dort hatten wir ein undurchdringliches Dunkel vor uns und setzten uns nieder.

Nur ein geheimnisvolles Geräusch ließ sich in der Tiefe unter uns hören. Niemand sprach, kein Ruf, kein Befehl wurde laut. Es schien alles genau vorherbesprochen zu sein. Da sprang irgendwo ein Funke auf, noch einer und noch einer. Diese Funken verwandelten sich in kleine Flämmchen. Die Flämmchen wurden zu Flammen, die Flammen zu brennenden Feuern. Es gab vier Feuer, die die Ecken eines Vierecks bildeten, in dessen Mitte der Altar stand. Um diese Feuer lagerten sich malerische Indianergruppen, die Häuptlinge jedes Stammes um ihre besondre Flamme. Der Rauch stieg empor, aber er belästigte uns nicht; er verschwand durch die gegenüberliegenden Öffnungen des Rundbaues. Auch der Schein der Feuer stieg matt zu uns empor und gab dem Raum eine geheimnisvolle Stimmung. Beim Flackern der Flammen schien sich nicht nur unten, sondern auch hier oben alles zu bewegen, die Nischen, die Mumien, die Gerippe, die verworrenen Knochenteile. Meine Frau griff nach meiner Hand, drückte sie krampfhaft und flüsterte mir zu:

»Wie geisterhaft!«

»Wünscht du dich weg von hier?« fragte ich.

»Nein, nein! So etwas gibt es ja niemals wieder! Denke, wir sind im Inferno!«

Der Vergleich, den sie brachte, war gut gewählt; ich aber hätte lieber gesagt, im Fegefeuer. Was dort unten beschlossen werden sollte, war Sünde, ja; aber es brauchte nicht unbedingt zur Verdammnis zu führen; wir selber waren ja da, ihm ein besseres Ende zu geben. Mir kamen die Gestalten da unten vor nicht wie späte Abkömmlinge vergangner Jahrtausende, sondern wie irrende Seelen aus jener uralten Zeit, die sich hier versammelt hatten zur letzten, bösen Tat, in deren Schoß aber schon die Befreiung aus der Finsternis zu suchen und zu finden war. Indem ich das dachte, erklang unten das erste Wort.

»Ich bin Avat tovavh ›Große Schlange‹, der Medizinmann der Komantschen. Ich sage: es ist Mitternacht!«

Und eine zweite Stimme schloß sich an:

»Ich bin Onto tapa ›Fünf Berge‹, der Medizinmann der Kiowas. Ich fordere auf, die Verhandlung zu beginnen!«

»Sie beginne!« rief Tangua.

»Ich bin bereit!« erklärte To-kei-chun.

In ähnlicher Weise meldeten sich auch Tusahga Saritsch und Kiktahan Schonka.

Wir konnten die Gesichtszüge der Genannten nicht erkennen. Wir sahen nur ihre Gestalten und hörten ihre Stimmen wie aus einer Unterwelt herauf. Da trat der Medizinmann der Komantschen an den Altar.

»Ich stehe vor dem heiligen Bewahrungsort der Medizinen. Im Tempel unsres alten, berühmten Bruders Tatellah-Satah hängt die Riesenhaut des längst schon ausgestorbenen großen Silberlöwen, auf der folgendes geschrieben steht: ›Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben. Ist es ein guter Mensch, so wird es euch Segen bringen. Ist es ein böser Mensch, so wird es ein Wehklagen geben in allen euern Lagern und in allen euern Zelten.‹«

Hierauf trat auch der Medizinmann der Kiowas an den Altar und sprach:

»Aber neben diesem Fell des Silberlöwen hängt die Haut des großen Kriegsadlers; auf der steht geschrieben: ›Dann wird ein Held erscheinen, den man den ›Wecker des Volkes‹ nennt. Der wird dreimal um den Berg der Medizinen fliegen und sich dann niederlassen, um euch alles wiederzubringen, was das Bleichgesicht euch raubte. Dann wird die Seele der roten Rasse aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwachen, und was getrennt war, wird zum geeinten großen Volk werden.‹ Ich frage euch, die Oberhäuptlinge der vier bereits verbündeten Stämme: Wollt ihr den Beschlüssen treu bleiben, die heut unter euch getroffen wurden? Und seid ihr bereit, eure Medizinen hier niederzulegen zum Pfand dafür?«

Ein lautes, vierfaches Ja erscholl.

»So bringt sie her und gebt sie ab!«

Sie taten es. Sogar Tangua ließ sich zum Altar tragen, um seine Medizin selber auszuhändigen. Kiktahan Schonka aber klagte, indem er dem Medizinmann die seinige überreichte:

»Es ist nur die Hälfte. Die andre Hälfte ging unterwegs verloren, als Manitou seine Augen von mir wandte. Er kehre mir sein Antlitz wieder zu, damit mir nicht auch dieses restliche Stück noch abhanden komme! Die Last meiner Winter drückt mich dem Grab zu. Soll ich jenseits des Todes ohne Medizin erscheinen und für ewig verloren sein? Schon um mich vor diesem Untergang zu retten, bin ich gezwungen, alles zu tun, um zu halten, was ich heut versprach!«

Die Platte wurde vom Altar gehoben und dann, als die Medizinen im Innern verschwunden waren, wieder darauf gelegt. Nun häufte man Holz und Reisig darüber und steckte es in Brand, doch nickt nach unsrer, sondern nach indianischer Weise, so daß nur ein kleines Feuer entstand, in das nur die Spitzen der Hölzer ragten, die immer nachgeschoben wurden, sobald sie verzehrt waren. Das war das Feuer der Beratung, die nun begann. Sie war sehr feierlich und wurde durch das umständliche Rauchen der Beratungspfeife eingeleitet. Man hielt trotz der vorangegangnen Besprechungen noch ausführliche Reden. Es wäre wohl fesselnd, wenn ich diese Reden hier wörtlich wiederholte. Einige von ihnen gestalteten sich zu wahren Meisterstücken der indianischen Redekunst. Aber es würde den Gang der Erzählung allzusehr aufhalten, wollte ich diese Ansprachen hier wiedergeben. Es genügt, zu sagen, daß wir auf unserm Platz alles, was gesprochen wurde, sehr deutlich verstanden. Fast kein einziges Wort ging uns verloren. Das Ergebnis der Verhandlungen war:

Die vier Stämme planten einen Überfall auf das Lager der Apatschen und ihrer Freunde am Mount Winnetou. Durch diesen Überfall sollte die beabsichtigte Verherrlichung Winnetous vereitelt werden. Zugleich hoffte man, dadurch in den Besitz großer Beute und all der Schätze zu kommen, die jetzt in jenem Lager zusammenflossen. Es waren das besonders die freiwilligen Gaben an Nuggets und andern Edelmetallen, die entweder von ganzen Stämmen, Clans und Gesellschaften oder von einzelnen Personen gespendet wurden. Man wollte hier am Dunklen Wasser noch einige Tage bleiben, um von dem bisherigen langen Ritt auszuruhn, und dann nach einem Ort marschieren, den sie Tal der Höhle nannten. Dieses Tal lag in der Nähe des Mount Winnetou und bot, wie man sagte, selbst für eine so große Zahl von Kriegern ein sichres Versteck. Von dort aus sollten dann die Apatschen und ihre Verbündeten überfallen werden.

Von höchstem Wert für uns war eine besondre Tatsache, die wir erlauschten. Die hier beratenden Stämme hatten einen Verbündeten bei den Apatschen, der es übernommen hatte, sie über alles, was dort vorging, zu unterrichten. Dieser Spion und Verräter war um so gefährlicher, als er zu den maßgebenden Personen gehörte, nämlich mit im Denkmalsausschuß saß. Das war Mr. Antonius Paper, mit dem indianischen Namen Okih-tschin-tscha und dem schlingernden Gang. Für seine Mitwirkung war ihm ein bedeutender Anteil an der Beute, über dessen Höhe man aber nicht sprach, verheißen worden. Die Oberhäuptlinge schienen eine Scheu zu haben, sich vor ihren Unterhäuptlingen über diesen Punkt deutlich auszudrücken. Es wurden auch die Brüder Enters mitgenannt, die das, was man ihnen versprochen hatte, nicht bekommen sollten, weil man es eigentlich diesem Antonius Paper auszuzahlen hätte; aber auch dem wollte man den Lohn vorenthalten, weil er wiederum an die beiden Enters zu entrichten wäre. Es handelte sich jedenfalls um eine große Lumperei, über die man nicht gern sprach. Ich merkte, daß man alle drei, sowohl Paper als auch die beiden Enters, um ihren Lohn betrügen und sie dann auf Nimmerwiedersehn verschwinden lassen wollte.

Als die Zusammenkunft zu Ende war, wurde das Beratungsfeuer auf dem Altar von den beiden Medizinmännern ausgelöscht. Sie strichen die Asche von der Platte und traten dann um einige Schritte von dem Altar zurück. Hierauf sagte der Medizinmann der Komantschen in feierlichem Ton:

»Sooft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist das Wort des großen Silberlöwen zu wiederholen: Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben!«

Und der Medizinmann der Kiowas fügte hinzu:

»Sooft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist auch das Wort des großen Kriegsadlers zu wiederholen: Es wird ein Held erscheinen, den man den ›Wecker des Volkes‹ nennt. Der wird dreimal um den Berg der Medizinen fliegen und sich dann zu euch niederlassen, um euch alles wiederzubringen, was das Bleichgesicht euch raubte. Dann wird die Seele der roten Rasse aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwachen, und was getrennt war, wird zum geeinten großen Volk werden!«

Von jetzt an sprach niemand mehr, aber man blieb noch sitzen, bis auch die andern vier Feuer nach und nach erloschen und schließlich selbst der letzte glimmende Funke verschwunden war. Dann brach man auf. Die Indianer verließen das Haus in gleicher Weise, wie sie gekommen waren: langsam und still, einer hinter dem andern. Unsre Blicke folgten ihnen von dem Auslug aus, bis sie das Wasser des Sees erreichten und dann nach beiden Zeiten abschwenkten. Meine Frau holte tief Atem.

»Welch eine Nacht!« sagte sie. »Das werde ich nie vergessen! Was tun wir jetzt?«

»Wir steigen hinab und holen uns die Medizinen«, entgegnete ich.

»Hm, ein gefährliches Beginnen.«

»Gefährlich nur, wenn man dabei erwischt wird. Es steht der Tod darauf. Kein Indianer würde wagen, sich daran zu vergreifen. Für uns ist es einfach ein Gebot der Vorsicht.«

Der Junge Adler hörte das. Er sagte nichts dazu. Wir brannten unsre drei Lichte wieder an, griffen zu unsrer Leiter und stiegen langsam und vorsichtig wieder hinab. Als wir an den Altar traten, fragte der junge Apatsche in seiner Muttersprache:

»Du willst sie wirklich nehmen?«

»Ja, unbedingt«, antwortete ich. »Sie sind eine Macht in unsrer Hand zu Nutz und Frommen des roten Mannes.«

»Das weiß ich. Aber ich bin Indianer, und ich kenne die Bedeutung und die Unverletzlichkeit der Medizinen, die an solcher Stelle niedergelegt worden sind. Weißt du, was meine Pflicht mir hier gebietet?«

»Ja. Du mußt verhindern, daß ich sie berühre. Sogar Gewalt sollst du dabei gebrauchen. Aber habe ich etwa die Absicht, sie nicht heilig zu halten, sie zu verletzen?«

»Nein. Die hast du nicht. Und du bist Old Shatterhand, und was bin ich? Auf einen Kampf kann ich es nicht ankommen lassen. Dennoch bitte ich dich um die Erlaubnis, eine Bedingung stellen zu dürfen!«

»Du darfst.«

»Wenn du das Bleichgesicht des großen Silberlöwen sein willst, das bei uns erscheint, uns unsre Medizinen zu nehmen, so laß mich jenes Sinnbild des Kriegsadlers sein, das vom Mount Winnetou herniederkommt, seinen Brüdern ihre Medizinen zurückzugeben!«

»Kannst du das?«

»Wenn du willst, ja!«

»Fliegen? Dreimal um den Berg?«

»Ja.«

Das war ein ganz eigenartiger, vielleicht sogar ein großer Augenblick. Dieser dunkle, schauerliche Ort! Ein Bleichgesicht im Greisenalter. Ein hochbegabter, kühner Indianer im hoffnungsreichsten Jugendalter. Beide hier am Altar einander gegenüber, mit kleinen, winzigen Lichtern in den Händen, deren spärlicher Schein von der Finsternis schon zwei, drei Schritte weiter verschlungen wurde. Er sprach vom Fliegen. Er versicherte, es zu können, und zwar in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß! Er meinte körperliches Fliegen. Ich aber dachte ebensosehr auch an den geistigen Flug, den er, der Vertreter seiner verjüngten Rasse, nehmen mußte, wenn er ihr die im Verlauf der Jahrtausende verlorengegangnen ›Medizinen‹ zurückbringen wollte. Doch ich hatte ein großes, ja ich möchte sagen, ein heiliges Vertrauen zu ihm.

»Ich glaube dir!« antwortete ich. »Ich nehme sie jetzt. Aber ich gebe sie dir, sobald du sie von mir verlangst.«

»Deine Hand darauf!«

»Hier!«

Wir reichten einander die Hände.

»So nimm sie!« sagte er und griff nach der Platte, um mir zu helfen, sie auf die Seite zu schieben. Sie war noch heiß. Ich nahm die Medizinen aus dem geöffneten Altar. Wir schoben die Platte in ihre vorige Lage zurück, verlöschten die Lichter und verließen dann das Haus, um an unsern Lagerplatz zurückzukehren. Die Leiter nahmen wir diesmal mit, damit sie nicht nachträglich noch zur Verräterin an uns würde.

Beim Heimgang leuchtete die Spiegelfläche des Sees zu uns herüber. Jenseits des Wassers erhob sich eine zerbrochene Felskuppe. Ich deutete mit der Hand hinüber.

»Da drüben war es! Dort sprengte sich Santer selbst in den Tod!«

Verloren in ferne Erinnerungen schauten wir hinüber nach dem Felsen. Dann begann meine Frau:

»Werden denn auch seine Söhne, die Enters, ohne deine Beihilfe, die du ihnen doch zugesagt hattest, jene Stelle finden, wo ihr Vater umkam?«

Meine Antwort darauf war kalt und kurz.

»Mögen sie sich kümmern! Sie sind einmal an uns und unsrer Sache zu Verrätern geworden. Ich brauche mir kein Gewissen daraus zu machen, sie sitzen zu lassen.«

Der Junge Adler, der bei uns stand, sagte kein Wort. Schweigend schritten wir nun vollends zum Lager zurück.


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