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2. An den Niagarafällen

Und nun waren wir drüben in Amerika. Wir wohnten im Clifton-House, unmittelbar an den berühmten Niagarafällen. Man hat von diesem Hotel aus einen unvergleichlichen Blick auf das großartige Schauspiel der stürzenden Wassermassen. Die besten Zimmer liegen im ersten Stock und sind den Fällen zugewendet. Sie münden alle auf eine lange, vielleicht acht Schritt breite Plattform, die ein gemeinschaftliches Säulendach überragt. Wer vom Gang aus seinen Raum betritt, ihn quer durchschreitet und sich durch die gegenüberliegende Tür hinaus auf die Plattform begibt, hat beide Fälle, den graden und den hufeisenförmigen, genau in eindrucksfähigster Sicht vor den Augen.

Wenn das Hotel in Deutschland läge, so würde man die Gemeinschaftlichkeit des Altans für alle Bewohner dieser Zimmerreihe als einen Übelstand empfinden, der durch Zwischenwände schleunigst beseitigt werden müßte. Da drüben aber hat jeder Gast eine zwar unsichtbare, aber so hohe und starke Mauer um sich gezogen, daß keine hölzernen Scheidewände nötig sind, um jedermann gegen Zudringlichkeiten zu sichern. Dennoch freute ich mich darüber, daß, als wir kamen, grad die den Fällen nächstgelegne Ecke dieser Zimmerreihe frei geworden war, so daß wir also anstatt zwei nur einen einzigen Nachbar haben konnten. Und diese einzige Nachbarschaft hieß – Hariman F. Enters und Sebulon L. Enters.

Ich hatte geahnt, daß die Brüder sich hier einmieten würden, um bei unsrer Ankunft sofort anwesend zu sein. Aber daß unsre beiderseitigen Zimmer aneinanderstießen, das war ein Umstand, den man mit einer Ahnung wohl kaum hätte erfassen können. Ich muß gestehn, daß es mir keineswegs unlieb war, grad diese beiden neben mir zu haben.

Ein jeder neu eingetretne Gast des Clifton-Hotels muß sich in dem an der Empfangshalle liegenden Anmeldezimmer eintragen. Das ist die einzige Auskunft, die man von ihm verlangt. Ich schrieb uns als ›Mr. Burton und Frau‹ ins Buch. Dieser angenommene Name war deshalb notwendig, weil man mich verpflichtet hatte, den eigentlichen Grund, der mich hinüberführte, geheimzuhalten. Das tat ich mit Absicht, obwohl die Brüder Enters ja unter meinem Namen im Hotel nach mir fragen sollten.

Unsre Wohnung bestand aus drei Räumen, die, wie bereits gesagt, eine Ecke ausfüllten. Das Zimmer meiner Frau lag nach dem Hufeisenfall, war größer als das meinige, hatte aber keinen Balkon. Mein Zimmer dagegen hatte die Aussicht nach dem Vereinigten-Staaten-Fall, öffnete sich dafür aber nach der großen Plattform, auf der ich mich so häuslich einrichten konnte, wie es mir nur immer beliebte. Zwischen diesen beiden Räumen lag das Ankleidezimmer, das die beiden andern in amerikanisch bequemer Weise verband. Als uns diese Wohnung angewiesen wurde, fragte ich den Kellner, der uns führte, wer neben uns wohne.

»Zwei Brüder«, antwortete er. »Sie sind Yankees und heißen Enters. Aber sie wohnen eigentlich nur halb in unserm Haus. Sie schlafen nur hier; sie speisen anderswo. Sie gehn früh fort und kommen erst abends wieder, wenn es keine Tafel mehr gibt.«

Er machte dabei ein so eigenartiges Gesicht, daß ich mich erkundigte:

»Weshalb tun sie das?«

Er zuckte die Achseln.

»Unser Clifton-House ist ein Hotel ersten Ranges. Wer nicht hierher gehört, der wird wohl hier schlafen, nicht aber auch hier speisen, denn er kann sich unter den andern Gästen nicht bewegen. Er versucht es vielleicht einmal, fühlt sich dabei aber nicht wohl und wird den Versuch schwerlich wiederholen.«

Das war sehr aufrichtig gesprochen. Wenigstens sechzig vom Hundert der Kellner drüben sind Deutsche oder Österreicher. Dieser aber war ein kanadischer Engländer; daher der selbstbewußte Ton. Als er mich dabei schon mehr abschätzend als forschend betrachtete, sagte ich ihm, daß ich zu jener Klasse gehöre, in der man den Betrag der Trinkgelder teilt. Die eine Hälfte gibt man sofort bei der Ankunft, um zu zeigen, daß man gern zufriedengestellt sein will, und die andre entrichtet man bei der Abreise, oder man zahlt sie auch nicht, um zu zeigen, ob man zufriedengestellt worden ist oder nicht. Bei diesen Worten drückte ich ihm die erste Hälfte in die Hand. Er betrachtete die Note unverfroren, um zu sehn, wieviel sie betrug; dann aber machte er eine Verbeugung, wie kein Deutscher und kein Österreicher sie hochachtungsvoller hätte machen können.

»Zu jedem Befehl bereit! Werde das auch der Chambermaid Zimmermädchen anempfehlen! Sind diese beiden Enters vielleicht unbequem, Mr. Burton? Wir bringen sie sofort anderswo unter.«

»Bitte, sie zu lassen; sie stören uns nicht.«

Er verneigte sich ebenso tief wie vorher und ging, vor lauter Achtung und Wohlwollen strahlend. Als sich uns hierauf die ›Chambermaid‹ vorstellte, sahen wir ihr an, daß sie von der Teilung des Trinkgelds und den damit verbundenen Aussichten bereits unterrichtet war, und ermöglichten ihr einen ebenso zufriedenen Abgang wie dem Kellner. Die Wirkungen dieser Art und Weise, den Bediensteten nicht erst dann, wenn es zu spät ist, zu zeigen, daß man Einsicht und Dankbarkeit besitzt, stellten sich sehr bald ein, und daraus mag man erkennen, warum ich es tat und warum ich dieses kleine Zwischenspiel überhaupt erwähnt habe.

Wir waren am Nachmittag eingetroffen und unternahmen gleich noch am selben Tag die zwei bekannten Fahrten, die jeder Besucher der Niagarafälle unbedingt gemacht haben muß. Es ist das eine Bahn- und eine Dampfbootfahrt. Das Gleis der Bahn geht hart am kanadischen Ufer des Niagara hinab und dann drüben am Vereinigten-Staaten-Ufer wieder hinauf. Tief unten kocht und brodelt der Strom; die Felsen steigen senkrecht in die Höhe, und die Schienen der Bahn liegen oft nur zwei Meter von der Kante des Abgrunds entfernt. An diesem Abgrund rast man mit der Schnelligkeit des Flugs dahin, und man hat, da man nur den geöffneten Schlund und das jenseitige Ufer sieht, vom Anfang bis zum Ende dieser Fahrt das Gefühl, als ob man unmittelbar in die Luft hinausführe und dann in die Tiefe hinabschmettere. Die Bootsfahrt macht man auf der wohlbekannten und beliebten Maid of the Mist ›Nebeljungfrau‹, die kühn bis in die nächste Nähe der Fälle steuert und am geeigneten Ort diejenigen Reisenden landet, die sich daheim rühmen wollen, sogar ›hinter dem Wasser‹ gewesen zu sein.

Später aßen wir in dem großen, im Erdgeschoß des Hotels liegenden Speisesaal bei den Klängen eines ausgezeichneten doppelten Streichquartetts das Abendbrot und zogen uns dann in unsre Wohnung oder, richtiger gesagt, auf meinen freien Altan zurück, der uns den unbeschreiblichen Genuß gewährte, die Fälle von dem geheimnisvollen Schimmer des Mondes verklärt zu sehn. Hierüber war es ungefähr elf Uhr geworden, als das Zimmermädchen eiligst herbeigehuscht kam.

»Die Enters sind da«, meldete es.

»Wo?« fragte meine Frau.

»Noch unten in der Office. Sie pflegen allabendlich, wenn sie kommen, im Buch nachzuschlagen, und dann gehn sie auf ihr Zimmer.«

»Zu welchem Zweck schlagen sie nach?«

»Um zu sehn, ob ein deutsches Ehepaar hier angekommen ist, ein Mr. May mit seiner Frau. Erst fragten sie. Jetzt aber schlagen sie nach, weil sie fühlen, daß sie sich lästig machen, daß man sie hier für überflüssig hält. Auch ich spreche nicht mit ihnen.«

Sie entfernte sich, und wir verließen die Plattform, um nicht gesehn zu werden. Diese Mitteilung war die erste Frucht des vorausgezahlten Trinkgelds. Zur Erläuterung ihrer Nützlichkeit für uns muß ich die Tür beschreiben, durch die meine Stube von der Plattform getrennt wurde. Jeder Besucher des Clifton-House weiß, daß alle diese Türen, die auf den freien Altan münden, die gleiche Einrichtung besitzen. Sie haben den Zweck, die Wohnungen vollständig abzuschließen, so daß niemand von draußen hereinsehn kann; aber sie lassen doch grad so viel Luft und Licht herein, wie die Bewohner wünschen. Sie sind daher sowohl mit Fensterscheiben als auch mit Luftklappen versehn. Die Klappen können beliebig geöffnet und geschlossen und die Scheiben mit Vorhängen verhüllt werden. So kann man also zu jeder Zeit hinausschauen und hinaushören, ohne selber gesehn und gehört zu werden. Wir brannten kein Licht an, blieben in meinem Zimmer und öffneten die Luftklappen. Denn wir erwarteten mit Bestimmtheit, daß die Brüder nicht in ihrem Raum bleiben, sondern auf den Altan kommen würden.

Es dauerte auch wirklich nicht lange, so erschienen sie. Der Mond stand noch am Himmel. Wir erkannten den einen, der bei uns gewesen war, sofort. Sie sprachen miteinander und gingen dabei auf und ab. Später setzten sie sich, und zwar grad an den Tisch, der draußen in unsrer Ecke stand. Ich hatte mir ihn hinstellen lassen, um daran schreiben zu können. Wir verstanden jedes ihrer Worte, doch war der Gegenstand ihres Gesprächs zunächst für uns gleichgültig. Später aber trat eine Pause ein, die der von ihnen, den wir noch nicht kannten, also Sebulon, durch einen Ausruf beendete.

»Höchst unangenehm, daß wir so lange hiersitzen müssen! Das kann noch Wochen dauern, bis sie kommen!«

»Gewiß nicht!« antwortete Hariman. »Sie kommen doch schon vorher, ehe sie die Verleger besuchen, hierher. Jeder Tag kann sie bringen.«

»Und du bleibst bei deinem Vorsatz?«

»Ja. Ehrlich sein! Dieser Mann hat mich zwar nicht sehr gut behandelt, aber wir kommen mit Unehrlichkeit nicht gegen ihn auf; das ist der Eindruck, den er mir mitgegeben hat. Und von seiner Frau kann ich fast sagen, daß ich sie liebgewonnen habe. Es würde mir weh tun, nicht rechtschaffen gegen sie sein zu dürfen.«

» Pshaw! Was heißt rechtschaffen! Rechtschaffen soll man zunächst doch gegen sich selber sein. Und wenn wir ein Geschäft machen wollen, das uns, klug angefangen –«

»Pst! Still!« warnte ihn der andre.

»Warum?«

»Der Professor nebenan könnte es hören.«

Bei diesen Worten deutete er nach unsrer Tür.

»Der Professor?« fragte Sebulon. »Du weißt doch, daß er täglich bis Punkt Mitternacht unten im Lesezimmer sitzt und dann noch bis ein Uhr hier oben in seiner Stube liest. Es brennt kein Licht; er ist also noch unten.«

»Trotzdem! Und zudem bin ich müde. Ich gehe jetzt schlafen. Morgen früh nach Toronto und erst übermorgen zurück. Wir müssen ausgeruht haben. Komm!«

Sie standen vom Tisch auf und gingen in ihren Raum. Es war nicht viel, was wir erfahren hatten, aber wir wußten nun doch wenigstens so viel, daß Hariman F. Enters es ehrlich mit uns meinte. Und wir waren überzeugt, daß Sebulon L. Enters, sein Bruder, wohl auch noch zu durchschauen sein würde.

Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück hinuntergingen, sagte uns der Kellner, daß unsre beiden Nachbarn das Hotel schon zeitig verlassen und die Weisung gegeben hätten, wenn Mrs. und Mr. May hier ankämen, ihnen zu sagen, die Brüder Enters seien nach Toronto gefahren und könnten erst morgen am Abend wiederkommen. Er machte eine geringschätzige Handbewegung und fügte hinzu:

»Rowdies, diese beiden Enters! Haben sich hier beinah unmöglich gemacht. Diese Mrs. und dieser Mr. May aus Germany, die nach solchen Leuten suchen, passen wohl nicht für uns. Werden keine Zimmer bekommen!«

Wie gut, daß ich einen andern Namen eingetragen hatte! Übrigens mahnte auch diese Äußerung des Kellners zur Vorsicht gegenüber dem Brüderpaar, obgleich ein Rowdy zwar ein roher, aber immerhin noch kein schlechter Mensch sein muß.

Es gibt im Clifton-House nur Einzeltische, keine große, gemeinschaftliche Tafel. Am besten sitzt und speist es sich in einer langen, an den großen Saal stoßenden Veranda, die so schmal ist, daß nur zwei Tischreihen Platz finden. Man hat von dort aus eine prächtige Aussicht nach den Fällen. Wir hatten uns einen dieser Tische gewählt und beschlossen, ihn für ständig zu belegen. Als wir den Kellner fragten, ob man das könne, antwortete er:

»Gewöhnlich nicht, aber Mrs. und Mr. Burton können das. Ich werde es besorgen. Der beste Tisch wäre allerdings der ganz hinten, weil man dort nur von einer Seite aus gesehn, gehört und belästigt werden kann. Den aber haben schon zwei Gentlemen in Beschlag genommen. Man schlug ihnen diesen Wunsch nicht ab.«

Das hatte er im einfachen Gesprächston gesagt. Mit gedämpfter Stimme aber fügte er noch etwas hinzu.

»Denn sie bezahlen alles nur mit Nuggets! Sie haben eine schwere Tasche mit gediegnen Goldkörnern in Verwahrung gegeben!« –

Viele, die kamen und nach diesem Tisch gingen, um dort Platz zu nehmen, wurden abgewiesen, bis wir fast am Schluß der Frühstückszeit zwei Männer eintreten sahen, die sofort aller Augen auf sich zogen. Sie standen ungefähr im gleichen Alter und waren Indianer. Das sah man auf den ersten Blick. Hoch und breitschultrig gebaut, mit scharf, aber edel geschnittnen Zügen, so gingen sie, scheinbar ohne jemand anzusehn, langsam und würdevoll nach dem erwähnten Tisch und setzten sich dort nieder. Sie waren nicht indianisch gekleidet, sondern trugen Stoffanzüge nach üblicher Machart, und ihr Haar war genau so verschnitten wie das andrer Leute. Doch konnte man unbesorgt jede Wette darauf eingehn, daß sie im Sattel, auf der Savanne und zwischen den Riesen des Felsengebirges wohl noch gebieterischer erscheinen würden als hier. Aber trotz der tiefen Sonnenbräune ihrer Gesichter zeigte sich auf ihnen eine sichtbare Spur jenes eigenartigen Hauchs, den es nur bei Leuten gibt, die viel nachgedacht haben und gewohnt sind, dieses Nachdenken auf höhere Pfade zu lenken. Man pflegt bei solchen Personen von durchgeistigten Zügen zu sprechen, und der Eindruck dieses Durchgeistigtseins ist um so stärker, wenn dabei der Blick jene seelische Trauer bekundet, die schwindenden Jahren, zu Ende gehenden Tagen und sterbenden Völkern eigen ist. Diese stille, aber doch deutlich sprechende, unbeschreibliche Schwermut des Auges zeigte sich hier bei diesen Indianern.

»Das sind die Gentlemen«, flüsterte der Kellner. »Feine Leute, wenn auch nur Indianer! Hochfein!«

Er schnippste dabei mit dem Daumen und Mittelfinger, um seinem Lob Nachdruck zu geben.

»Woher sind sie?« fragte ich.

»Weiß es nicht genau. Der eine von weither, sehr weit, der andre von näher. Kamen beide über Quebec und Montreal den Fluß herauf. Sollen Häuptlinge sein.«

»Ihre Namen?«

»Mr. Athabaska und Mr. Algongka. Schöne Namen, was? Klingen fast wie Musik! Ist aber auch Musik: Zahlen nur mit Nuggets!«

Das war nun so sein Maßstab, und er scheute sich nicht, sich in unsrer Gegenwart dazu zu bekennen. Er sagte uns noch, daß die beiden ›Gentlemen‹ auch oben in der von ihm bedienten Zimmerreihe wohnten und die größten und teuersten Räume hätten, die es hier gebe. Dann bekam er anderweit zu tun.

›Mr. Athabaska und Mr. Algongka‹ frühstückten langsam und mäßig, und zwar in einer Weise, als ob sie in Hotels vom Rang des Clifton-House aufgewachsen seien. Es war eine Lust, ihnen zuzusehn. Das taten wir freilich so unauffällig wie möglich. Meine Frau freute sich besonders über die Würde, die in jeder Bewegung dieser prächtigen Männer lag, und über ihre Bescheidenheit. Es war bei ihnen kein Ring, keine Uhrkette und kein sonstiger Gegenstand zu sehn, der auf Wohlhabenheit oder gar Reichtum schließen ließ. Meine besondre Aufmerksamkeit richtete sich auf einen andern Umstand, und zwar darauf, daß sie sich, der gewöhnlichen indianischen Schweigsamkeit zuwider, sehr lebhaft unterhielten und dabei fleißig Einträge in zwei Bücher machten, die sie mitgebracht hatten, jeder sein eignes. Das schienen Merkbücher zu sein, aber sehr wichtige, denn sie wurden mit einer Vorsicht und Liebe behandelt, als ob sie der teuerste Besitz seien, den es für ihre Eigentümer gäbe. Die Einträge geschahen mit einer Geläufigkeit und Sicherheit, die auf vollste Schreibübung schließen ließ. Man sah, daß diese Leute nicht etwa nur den Tomahawk und das Jagdmesser, sondern auch Feder und Bleistift zu führen verstanden und gewöhnt waren, sich geistig zu beschäftigen.

Im Clifton-House wird nach jeder Mahlzeit das Trinkgeld sofort bezahlt. Als wir das jetzt nach dem Frühstück taten, erkundigte sich der Kellner, dem unsre Teilnahme für die Indianer nicht entgangen war:

»Wünschen Mrs. und Mr. Burton vielleicht den Tisch neben den beiden Gentlemen?«

»Ja«, antwortete Klara schnell.

»Für alle Tafelzeiten?«

»Für alle!«

» Well! Werde das besorgen!«

Als wir dann zum Mittagessen kamen, waren die Häuptlinge schon da. Auch alle andern Tische, außer dem von uns bestellten, waren besetzt. Unser Kellner wartete bereits und teilte uns mit, daß unsre Wünsche betreffs der Tischplätze berücksichtigt seien. Wir befanden uns nun so nahe bei den zwei Indsmen, daß wir jedes ihrer Worte hörten. Sie hatten ihre Bücher wieder bei sich und machten in den Pausen zwischen den Gängen zahlreiche Einträge, oft aber auch gleich während des Essens, indem sie Messer und Gabel einstweilen weglegten. Und man denke sich mein Erstaunen, als ich hörte, daß sie sich in der Sprache meines Winnetou unterhielten und sich die Aufgabe gestellt hatten, das innige Verwandtschaftsverhältnis aller athabaskischen Zungen, zu denen auch das Apatsche gehört, zu ergründen und festzustellen! Für Athabaska war das eine Beschäftigung mit den verschiednen Abarten seiner Muttersprache, für Algongka aber nicht. Dieser schien vom kanadischen Stamm der Krih zu sein und machte im Lauf der regen Unterhaltung die für mich bedeutsame Bemerkung, daß er mehrere große Wörterverzeichnisse des Nahuatl, also der alten Aztekensprache, besitze, die mit seiner Muttersprache verwandt sei. Das für mich wichtigste Ergebnis unsrer heimlichen Teilnahme an ihrem Gespräch aber war eine nur so hingeworfne Beifügung, aus der ich entnahm, daß auch sie nach dem Mount Winnetou wollten und sich jetzt ausschließlich in der Mundart der Apatschen unterhielten, um am Ziel ihrer Reise nicht ungeübt zu sein. Welche Sprachkenntnisse mußten diese beiden Männer besitzen! Ja, sie waren Häuptlinge, ganz gewiß. Aber sie waren jedenfalls noch viel mehr als das. Doch was? Mit dieser Frage brauchte ich mich jetzt nicht zu beschäftigen. Sie hatten ja dasselbe Reiseziel wie wir, und ich war überzeugt, daß ich sie dort näher kennenlernen würde.

Am Nachmittag fuhren wir nach Buffalo, um auf dem dortigen Forest Lawn Cemetery Waldfriedhof das Grab und Standbild des berühmten Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha zu besuchen und einige Blumen niederzulegen Band 34 ›Ich‹ enthält eine Bildtafel, die Karl May am Grabmal des Häuptlings (1756-1830) zeigt. Die Herausgeber. Ich habe eine besondre Zuneigung und Hochachtung grad für diesen großen Mann, den man noch heutigentags als den › strong and peerless oratorGewaltigen und unvergleichlichen Redner aller Senekas bezeichnet.

Dieser Gottesacker ist fast einzig schön. Überhaupt besitzt der Amerikaner in der Anlage von Friedhöfen eine unbestreitbare Großzügigkeit. Er überwindet auch künstlerisch den Tod, indem er keine Hügel duldet, die doch weiter nichts als Ausrufezeichen der Verwesung find. Er verwandelt den Tod vielmehr ins Leben, indem er als Beerdigungsstätte für die Verstorbnen gern ein auf- und absteigendes, also reichbewegtes Gelände auswählt, das er als lichten, froh grünenden Park behandelt, dessen weitverteilte Denkmäler in die Ferne hin den Auferstehungsgedanken predigen. Und es herrscht auf diesen Friedhöfen eine gradezu rührende Gleichbehandlung aller Toten. Da ist der Arme der Gast des Reichen; der Ungelehrte ruht mit im Grab des Gelehrten, und der Niedrigstehende bekommt unentgeltlich ein Ruhebett unter der Marmorplatte eines Hochgestellten. Ein armer, unbekannter, namenloser Mensch wird überfahren. Er ist tot. Ein Millionär kommt dazu. Er bleibt stehn. Er fragt, ob man den Verunglückten kenne. Die Antwort lautet »nein«. »So gehört er zu mir«, sagt der Millionär, sorgt für den Toten und gibt ihm einen Platz in seinem Familiengrab. Das tut der Yankee. Wer tut es noch?

Es war ein schöner, sonnenwarmer Tag. Als wir die Blumen an dem Häuptlingsstein niedergelegt hatten, setzten wir uns auf die unterste Kante des Sockels, auf dem sein Standbild bis hoch in die Wipfel der umstehenden Bäume ragt. Wir sprachen von ihm, und zwar gedämpft, wie man an Gräbern zu sprechen pflegt, wenn man an die Auferstehung und an ein andres Leben glaubt. Darum wurden wir von denen, die sich hinter uns dem Denkmal näherten, nicht gehört. Und ebensowenig wurden sie von uns gehört, weil weiches Gras rundum den Boden deckte und das Geräusch ihrer Schritte dämpfte. Auch sehn konnten sie uns nicht eher, als bis sie um die Ecke des Sockels getreten waren, der uns ihnen verbarg. Es waren die beiden Indianerhäuptlinge aus dem Clifton-House! Auch sie hatten den berühmten Seneka-Redner besuchen wollen und erkannten nun, daß wir von demselben Gedanken herbeigeführt worden waren. Aber sie taten nicht, als ob sie uns bemerkten. Sie schritten langsam weiter, an den Steinen hin, die man an der Vorderseite des Denkmals für ihn und die einzelnen Glieder seiner Familie in die Erde gesenkt hat. Dort lagen unsre Blumen, und bei ihnen blieben sie stehn.

»Uff!« sagte Athabaska. »Hier hat jemand in der Sprache der Liebe gesprochen! Wer mag das gewesen sein?«

»Ein Bleichgesicht jedenfalls nicht«, antwortete Algongka.

Er bückte sich nieder und hob einige der Blumen auf, um sie zu betrachten. Athabaska tat dasselbe. Beide wechselten einen schnellen, überraschten Blick.

»Sie sind noch frisch, vor noch nicht einer Stunde abgeschnitten!« meinte Athabaska.

»Und vor noch nicht einer Viertelstunde hierhergelegt«, stimmte Algongka bei, indem er die Spuren unsrer Füße, die im Gras noch deutlich zu sehn waren, betrachtete. »So sind es also doch Bleichgesichter gewesen!«

»Ja, diese hier! Sprechen wir mit ihnen?«

»Wie mein roter Bruder will. Ich überlasse es ihm.«

Die Häuptlinge vermuteten richtig. Wir hatten die Blumen nicht vom Niagara mitgebracht, sondern sie waren von hier, und zwar ganz frisch geschnitten. Meine Frau hatte zwei davon zurückbehalten, für sich eine und für mich eine. Die bisherigen kurzen Sätze der beiden Indianer waren im Apatsche gesprochen worden. Jetzt legten sie die Blumen sehr zart und vorsichtig wieder an ihren Platz, und Athabaska wandte sich in englischer Sprache an uns.

»Wir glauben, daß ihr die Spender dieser Blumen seid. Ist das richtig?«

»Ja«, antwortete ich, indem ich mich höflich von meinem Sitz erhob.

»Für wen sollen sie sein?«

»Für Sa-go-ye-wat-ha.«

»Warum?«

»Weil wir ihn lieben.«

»Wen man liebt, den muß man kennen!«

»Wir kennen ihn. Und wir verstehn ihn.«

»Verstehn?« fragte Algongka, indem er seine Augen ein wenig verkleinerte, um seinen Zweifel anzudeuten. »Habt ihr seine Stimme gehört? Er ist längst tot? Es ist schon fast acht Jahrzehnte her, daß er starb.«

»Er ist nicht tot. Wir hörten seine Stimme sehr oft, und wessen Ohren offen sind, der kann sie heut noch ebenso deutlich hören wie damals, als er zur ›Gemeinschaft der Wölfe‹ seines Stammes sprach. Sie hörten ihn leider nicht!«

»Was hätten sie hören sollen?«

»Nicht den oberflächlichen Klang seiner Worte, sondern ihren tiefen, vom großen Manitou gegebnen Sinn.«

»Uff!« rief Athabaska aus. »Welchen Sinn?«

»Daß kein Mensch, kein Volk und keine Rasse Kind und Knabe bleiben darf. Daß jede Savanne, jeder Berg und jedes Tal, jedes Land und jeder Erdteil von Gott geschaffen wurde, um veredelte Menschen zu tragen, nicht aber solche, denen es unmöglich ist, über das Alter, in dem man sich nur immer schlägt und prügelt, hinauszukommen. Daß der allmächtige und allgütige Lenker der Welt einem jeden einzelnen und einem jeden Volk Zeit und Gelegenheit gibt, aus diesem Bubenalter herauszuwachsen. Und daß endlich ein jeder, der dennoch stehnbleibt und nicht vorwärts will, das Recht, noch weiterzuleben, verliert. Der große Manitou ist gütig, aber er ist auch gerecht. Er wollte, daß auch der Indianer gütig sei, besonders gegen seine eignen roten Brüder. Als aber die Indsmen nicht aufhören wollten, sich untereinander zu zerfleischen, sandte er ihnen das Bleichgesicht –«

»– um uns noch schneller umbringen zu lassen!« fiel mir Algongka in die Rede.

Beide sahen mich in sichtlicher Spannung an, was ich auf diesen Ausruf antworten würde.

»Nein, sondern um euch zu retten«, entgegnete ich. »Sa-go-ye-wat-ha hat das begriffen, und er wünschte, daß sein Volk es ebenso begreife; aber man wollte ihn nicht hören. Es wäre zu dieser Rettung noch lange Zeit gewesen, wenn der Kind gebliebne Indianer sich dazu aufgerafft hätte, Mann zu werden.«

»Wieso Mann?« fragte Algongka.

»Die Antwort auf diese Frage liegt in der richtigen Deutung des Begriffes Mann. Ein Mann ist nicht der, der blindwütend auf jeden Fall zuschlägt. Ein Mann denkt, bevor er nach der Waffe greift. Und vor allem – ein Mann verträgt sich brüderlich mit denen, die seines Blutes, seines Volkes sind, und schließt sich mit ihnen zusammen zur Abwehr des gemeinsamen äußeren Feindes. Das hat der große Häuptling der Senekas, an dessen Grab wir hier stehn, immer wieder gesagt. Sein Wort aber ist ungehört verhallt.«

Ich lüftete den Hut, um mich zu entfernen. Da ergriff zu meiner Verwunderung auch Klara das Wort.

»Nehmt diese beiden Blumen! Sie sind nicht von mir, sondern von ihm! Die Blumen der Einsicht, der Wahrheit und der Liebe, die er einst seinem Volk reichte, sind nur äußerlich verwelkt, ihr Duft aber ist geblieben. Seht, wie der Sonnenstrahl sich langsam, leise nähert, um die Namen, die da in Stein gegraben sind, zu beleuchten und zu erwärmen! Und hört ihr das Flüstern der Blätter, aus denen der Schatten flieht? Auch dieses Grab ist nicht tot!«

Sie gab jedem eine der beiden Blumen, dann wendeten wir uns, um zu gehn.

»Geht nicht, sondern bleibt!« bat Athabaska.

»Ja, bleibt noch hier!« schloß Algongka sich ihm an. »Wenn ihr ihn liebt, so gehört ihr hierher!«

»Jetzt nicht«, antwortete ich. »Ich bin sein Freund; ihr aber seid seine Brüder. Dieser Platz gehöre euch! Wir haben Zeit.«

Wir gingen. Als wir uns, ohne uns einmal umzudrehn, weit genug entfernt hatten, um nicht mehr gesehn zu werden, fragte meine Frau:

»Du, haben wir keinen Fehler gemacht?«

»Inwiefern?«

»Du hast ihnen sofort eine lange Rede gehalten. Und ich habe sie, die uns doch vollständig Fremden, sogar mit Blumen beschenkt. War das wohl ladylike?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber gräme dich nicht darüber! Es gibt Augenblicke, in denen derartige Fehler das Beste sind, was man tut. Und ich bin überzeugt, jetzt war so ein Augenblick. Freilich, andern Leuten hätte ich gewiß keine ›Rede‹ gehalten; aber ich glaube, die Indianer zu kennen, und außerdem berücksichtigte ich die vorliegenden Verhältnisse, die mir erlaubten, mehr zu sagen, als ich in jedem andern Fall gesagt hätte. Übrigens zeigt uns ja der Erfolg, wie richtig das war, was wir taten. Sie luden uns ein zu bleiben. Bedenke wohl: an diesem Grab zu bleiben! Bei ihnen, den Häuptlingen! Das ist eine sehr große Auszeichnung. Wir haben uns nach ihren Begriffen also sehr gut benommen. Einen Fehler gemacht? Gewiß nicht!«

Daß ich recht hatte, zeigte sich gleich bei unsrer Heimkehr, die erst gegen Abend erfolgte, weil wir nicht mit der Bahn, sondern mit dem Boot zurück nach Niagara gefahren waren. Kaum hatte der Kellner gehört, daß wir im Haus waren, so stellte er sich bei uns ein und begrüßte uns mit einer womöglich noch tieferen Verbeugung als bisher.

»Verzeihung, daß ich sogleich störe! Es ist etwas Ungewöhnliches, was ich zu melden habe. Mr. Athabaska und Mr. Algongka speisen heut abend nicht unten, sondern oben bei sich!«

Er sah uns hierauf an, als ob er uns etwas Welterschütterndes mitgeteilt habe.

»So?« machte ich. »Ist das vielleicht etwas, was uns angeht?«

»Das meine ich wohl! Ich bin nämlich mit dem Auftrag beehrt worden, Mrs. und Mr. Burton hierzu einzuladen!«

Das war allerdings etwas Unerwartetes. Ich aber erkundigte mich in scheinbar gleichgültigem Ton:

»Für welche Zeit?«

»Neun Uhr. Die beiden Gentlemen werden sich erlauben, die Herrschaften selber abzuholen. Ich aber soll möglichst bald melden, ob die Einladung angenommen wird oder nicht.«

»Hierüber hat Mrs. Burton zu entscheiden, nicht ich.«

Als er seinen fragenden Blick infolgedessen auf meine Frau richtete, gab sie Bescheid.

»Wir nehmen die Einladung an und werden pünktlich sein.«

»Danke! Werde es sofort melden. Die Gentlemen lassen wegen der Kleidung bitten, als Freunde betrachtet zu werden, die nicht auf den Anzug schauen.«

Diese Bemerkung war uns lieb. So brauchten wir uns keinen gesellschaftlichen Zwang aufzuerlegen, der bekanntlich bei einem reinen Freundschaftsbesuch recht unbequem werden kann. Die Häuptlinge stellten sich punkt neun Uhr bei uns ein, um uns abzuholen. Das sprach deutlicher, als Worte hätten sprechen können. Sie waren über den Gang des Innenhauses zu uns gekommen, baten uns aber, den Weg zu ihnen über die Plattform zu nehmen, auf die sich ihre Wohnung ebenso öffnete wie die unsre. Als wir demzufolge durch die schon beschriebne Tür hinaus auf den Altan traten, schien der Mond noch klarer als gestern abend. Die beiden Fälle lagen wie ein Märchenwunder vor unsern Augen, und ihr Brausen drang wie die Stimme eines ewigen Gesetzes zu uns herüber, dem ein jeder verfallen ist, der es nicht beachtet. Da zögerten die beiden Häuptlinge, weiterzugehn. Sie blieben stehn, und Athabaska sagte:

»Nicht nur die Weißen, sondern auch die Roten wissen jetzt, daß alles, was die gegenwärtige Welt uns bietet, nichts als nur ein Gleichnis ist. Eines der größten und gewaltigsten Gleichnisse, die Manitou uns predigt, liegt hier vor unsern Augen.«

Er trat mit Algongka bis an den Rand der Plattform vor. Ich folgte ihnen mit meiner Frau, die ihren Arm in den meinen gelegt hatte und mir durch einen leisen Druck ein Zeichen gab, das ich sehr wohl verstand. Wir haben fast immer einen und denselben Gedanken. Auch jetzt fühlte sie ebenso wie ich den Grund, weshalb der Häuptling grad diese Worte sprach. Er beabsichtigte, uns zu prüfen, wenn auch nur durch eine einzige Frage. Der Erfolg dieser Prüfung sollte entscheiden, wie wir zu behandeln waren, ob als gewöhnliche, alltägliche Menschen oder nicht. Denn das, was ich am Grab des großen Seneka-Redners gesagt hatte, konnte ich irgendwo gelesen oder sonstwie gehört und mir gemerkt haben, um es bei passender Gelegenheit mit Vorteil an den Mann zu bringen. Das war es, was meine Frau mir durch den Druck ihres Arms sagen wollte, und dadurch, daß ich dieses Zeichen durch einen ebenso leisen Druck erwiderte, teilte ich ihr mit, daß ich sie verstanden hatte und auf die Prüfung vorbereitet sei.

Wir standen einige Minuten lang still an der Brüstung. Da hob Algongka seinen Arm und wies über den Abgrund hinüber auf die stürzenden Fluten.

»Das ist ein Bild des roten Mannes. Ob wohl ein Weißer das begreift?«

»Warum sollte er es nicht begreifen?« fragte ich.

»Weil es nicht sein eignes, sondern ein fremdes Schicksal betrifft.«

»Glaubt Ihr, daß wir Weißen nur eigne, nicht auch fremde Dinge begreifen?«

»Nun, könnt Ihr mir vielleicht dieses Rätsel lösen?«

»Rätsel lösen? Ihr habt nicht von einem Rätsel, sondern von einem Gleichnis gesprochen. Gleichnisse aber werden nicht gelöst, sondern gedeutet.«

»Nun, so deutet es, bitte!«

»Gern! Wir sehn hier die stürzende, die zerschellende und zerstäubende Flut. Aber den See, den großen See, aus dem sie kommt, den sehn wir nicht. Und auch der See, in den sie sich ergießt, ist uns unsichtbar. Beide sind unserm Auge verborgen.«

»Wohl! Das ist das Gleichnis«, nickte Athabaska ernst. »Aber die Deutung?«

»Die Gegenwart sieht nur den schweren, tiefen, erschütternden Fall der roten Rasse. Sein Brausen ist die Summe der Todesschreie all derer, die da untergegangen sind und noch untergehn werden. Wo haben wir das große, das mächtige, das herrliche Volk zu suchen, dessen Kinder diese Zerschmetterten und noch zu Zerschmetternden sind? In welchem Land gab es dieses Volk? Und in welcher Zeit? Wir wissen es nicht, und wir sehn es nicht! Wir sehn nur, wie der eine, stürzende Strom da unten in der Tiefe in hundert und aber hundert Völker, Stämme, Herden, Rotten und Banden zerfällt, deren einer oder eine oft kaum mehr als hundert Wesen zählt. So wirbelt und treibt der Fall sie weiter und weiter, bis sie verschwunden sind. Und wir hören nur die unzähligen kleiner und immer kleiner werdenden Zungen, Sprachen und einzelnen Mundarten, in die der stürzende Strom im Wirbel des Abgrunds zermalmt, zersplittert, zermahlen, zerknirscht, zerpulvert und zerrieben wird, so daß der Sprachforscher, der sich kühn in diesen Strudel wirft, in die Gefahr kommt, ebenso zu zersplittern und zu versinken wie die, nach denen er sucht. Und wo ist das noch größere, das noch mächtigere, das noch herrlichere Volk zu finden, dem die zersprengten, zerrissenen und zerstäubten Fluten dieses sprachlichen und völkergeschichtlichen Niagara zuströmen sollen, um sich wieder zu einem Ganzen zu vereinigen und wieder zur Ruhe und gesegneten Gesetzlichkeit, zum Beginn einer neuen, bessern Entwicklung zu kommen? In welchem Land wird es dieses Volk geben? Und in welcher Zeit? Wir wissen es nicht, und wir sehn es nicht. Wir können von dem hier niederstürzenden Fluß, der uns als Gleichnis dient, nur sagen, daß er sich aus dem Eriesee in den Ontariosee ergießt. Genau so wissen wir von der zerstäubenden roten Rasse nur, daß sie aus der Zeit und aus dem Land des Gewaltmenschen stammt und der Zeit und dem Land des Edelmenschen entgegenfließt, um dort in neuen Ufern neue Vereinigung zu finden Diese eigenartige Voraussage des Dichters wird durch die Rassenforschung neuester Zeit bestätigt. Verschiedene Veröffentlichungen der letzten Jahre befassen sich mit dem Auftreten vieler Millionen rassisch gereifter Farbiger auf der Weltbühne. Näheres hierüber ist in Band 34 ›Ich‹, S. 523 nachgewiesen. Die Herausgeber. Dies, Gentlemen, ist das Gleichnis, und dies ist seine Deutung.«

Sie waren still. Wir standen noch einige Zeit, bis wir den Kellner unter der offenstehenden Tür ihrer Wohnung erscheinen sahen. Da nahm Athabaska den Arm meiner Frau in den seinen und schritt mit ihr dieser Tür zu, ohne ein Wort zu sagen. Ich folgte ihm mit Algongka, der sich ebenso schweigsam verhielt.

Die beiden Häuptlinge bewohnten, ebenso wie wir, mehrere Räume. In dem größten davon war gedeckt. Ich muß zu ihrem Lob sagen, daß keine Spur von dem Bestreben, zu prahlen oder Eindruck zu machen, vorhanden war. Es gab nichts andres als dieselben Gerichte, die wir im Speisesaal vorgesetzt bekommen hätten. Vor unsern Gedecken stand Wein, vor den ihren aber Wasser. Klara erklärte aufrichtig, daß wir daheim viel lieber Wasser als Wein beim Essen tränken; da bekam der Kellner einen Wink, die Flaschen zu entfernen. Jeder von ihnen hatte in einer kleinen, mit Wasser gefüllten Vase die ihm von meiner Frau geschenkte Blume vor sich stehn, wofür ihr wie mir je eine einzige, aber ausgesucht schöne Rose beschieden war. Hierüber wurde kein Wort verloren.

Gesprochen wurde nur in den Pausen, während des Essens nicht. Sie sagten kein Wort über sich und fragten mit keinem Wort nach uns und unsern Verhältnissen. Es gab nur einen einzigen Gegenstand, mit dem unsre Fragen und Antworten sich beschäftigten, das war die Vergangenheit und die Zukunft der Indianer, also das Schicksal der roten Rasse. Und da muß ich der Wahrheit die Ehre geben, indem ich gestehe, viel von diesen beiden Männern gelernt zu haben, trotz ihrer Einsilbigkeit und trotz der Kürze der Zeit, die wir bei ihnen verweilten. Denn aus ihrem Mund kam kein einziges Wort, das nicht seinen besondern Wert besaß. Diese beiden Häuptlinge glichen Riesen, die große, vielzentnerschwere Gedanken aus den Felsenbergen brechen und hinab in die Ebene rollen lassen, damit dort die kleinen Menschen daran Arbeit für ihre feineren Werkzeuge finden. Es war ein sehr schöner, sehr ernster Abend, der unser Denken, Fühlen, Wissen und Wollen bereicherte und uns gewiß, solange wir leben, im Gedächtnis bleiben wird.

Es war grad Mitternacht, als wir uns trennten. Wir hatten nicht etwa die ganze Zeit bis dahin im Zimmer gesessen, sondern uns einen Tisch mit Stühlen auf die Plattform stellen lassen. Da saßen wir nach dem Essen, um dem vor unserm Auge niederstürzenden Niagara einen nach dem andern seiner Gedanken zu entringen. Erst im letzten Augenblick, als wir uns verabschieden wollten, erfuhren wir, daß Athabaska und Algongka schon morgen abreisen würden und uns also ihren letzten Abend geschenkt hatten. Daran war meine Frau mit ihren Blumen schuld!

Keiner von beiden ahnte, daß wir Deutsche seien, noch weniger aber, daß wir dasselbe Reiseziel hatten wie sie. Sie fragten nicht nach unsrer Wohnung; sie schwiegen darüber, ob sie ein Wiedersehn wünschten oder nicht. Aber als ich ihnen meine Hände reichte, wurden sie länger von ihnen festgehalten, als eigentlich gebräuchlich ist. Dann trat Athabaska nahe an meine Frau heran, legte beide Hände an ihren Kopf, zog ihn noch näher an sich und drückte seine Lippen auf ihr Haar.

»Athabaska segnet Euch!« sagte er.

Algongka folgte diesem Beispiel.

Die Worte kamen aus dem Herzen. Das hörte man den beiden Männern an, und das ersah man auch aus der Schnelligkeit, mit der sie dann in ihrer Wohnung verschwanden.

Diese Wohnung lag so ziemlich in der Mitte der Zimmerreihe, die unsre aber, deren Tür wir offengelassen hatten, am Ende. Wir mußten also, um dorthin zu kommen, an dem neben uns liegenden Raum der Gebrüder Enters vorüber. Als wir uns ihm näherten, sahen wir, daß er erleuchtet war. Zwar stand die Tür nicht offen wie die unsre, aber die Klappen des Rolladens waren geöffnet, und es drang nicht nur das Licht heraus, sondern auch der laute Klang zweier Stimmen, die sich grad in diesem Augenblick in Erregung zu befinden schienen. Die Brüder waren also schon heut zurückgekehrt. Sie schritten zankend in ihrer Stube auf und ab. Wir blieben überrascht an ihrer Tür stehn.

Soeben sprach Hariman:

»– – also wiederhole ich: Schrei nicht so! Wir wohnen bekanntlich nicht allein in diesem Hotel!«

»Der Teufel hole es, dieses Clifton-House! Kein Mensch nimmt uns für voll! Übrigens bezahlen wir dieses Zimmer, und ich kann also hier schreien, so laut es mir beliebt! Der Professor kann es nicht hören; er ist fort. So ists im Meldebuch vermerkt. May aber steht noch immer nicht da. Das paßt mir schlecht! Wie lange soll man da warten? Jetzt, wo wir heut wieder hörten, wie sehr es mit der Devils Pulpit Teufelskanzel eilt! Kommen wir auch nur einen halben Tag zu spät, so verlieren wir Summen, deren Höhe sich noch gar nicht bestimmen läßt!«

»Das fürchte ich auch,« sagte Hariman. »Aber können wir fortgehn, ohne die Ankunft dieses für uns hochwichtigen deutschen Ehepaars abgewartet zu haben?«

»Warum nicht? Wenigstens einer von uns beiden kann fort, um Kiktahan Schonka Siouxmundart: ›Der wachende Hund‹ festzuhalten, bis der andre ihm folgt! Aber das ist es doch gar nicht, was mich so erregt; sondern mich ärgert deine sogenannte Ehrlichkeit, die mir in unsern Verhältnissen wahnsinnig vorkommt. Ja, wir wollen und müssen den Nugget Tsil und das Dunkle oder meinetwegen auch Finstre Wasser kennenlernen, und dieser Deutsche ist der einzige, der imstand ist, uns diese Orte zu zeigen. Aber das ist noch lange kein Grund, ihm so, wie du willst, mit ganz besondrer Liebe zugetan zu sein!«

»Wer hat hiervon gesprochen? Ich nicht! Ich habe nur Ehrlichkeit verlangt, keine Liebe!«

» Pshaw! Ehrlichkeit gegen den Mörder unsers Vaters!«

»Das ist er nicht! Vater war selber daran schuld, daß er auf diese Weise zugrundeging! Und er holt uns nach, uns alle! Nur wir beide sind noch übrig. Und wenn wir nicht ehrlich sind, geht es mit uns in doppelter Eile zu Ende! Ich hoffe und hoffe noch immer auf Rettung! Die aber ist nur dann möglich, wenn das Geschehne Verzeihung findet. Und auch hier ist der Deutsche der einzige, der sie gewähren kann: Siehst du das nicht ein?«

Sebulon antwortete nicht gleich. Es wurde für kurze Zeit still. Wir hörten ein Räuspern, das aber schon mehr wie ein Schluchzen klang. Von wem kam das? Von Hariman? Von Sebulon? Dann sagte Sebulon, aber mehr klagend als erregt:

»Es ist fürchterlich, wie das innerlich schreit und lockt, wie es drängt und drängt, immer weiter, immer weiter! Ich wollte, ich wäre schon tot!«

»Ach ja, ich auch!«

Wieder trat eine Pause ein, nach der wir abermals die Stimme Sebulons seufzen hörten:

»Es rechnet in mir, es rechnet! Unaufhörlich! Bei Tag und bei Nacht! Wenn wir doch den Schatz, der mit dem Vater ins Wasser ging, heben könnten! Und wieviel würde Kiktahan Schonka zahlen, wenn wir ihm den Deutschen ans Messer lieferten! Wie viele, viele Beutel voll Nuggets, vielleicht eine ganze Bonanza, ein ganzes Placer!«

»Um Gottes willen!« rief Hariman erschrocken aus. »Diesen Gedanken laß ja fallen!«

»Kann ich? Der Gedanke kann wohl mich fallen lassen, aber ich nicht ihn! Er kommt; er kommt und ist viel stärker und viel mächtiger als ich mit dem bißchen Kraft, das ich noch besitze! Und jetzt – jetzt überkommt mich ganz plötzlich eine Angst, eine Angst! Was das nur ist? Steht vielleicht jemand da draußen vor der Tür, um uns zu belauschen –?«

Ich faßte meine Frau am Arm und zog sie schleunigst mit hinüber in mein Zimmer. Wir nahmen uns dabei gar nicht Zeit, die offenstehende Tür zu schließen, sondern wir huschten durch den ganzen Raum hindurch bis in den Ankleideraum, wo wir stehnblieben und lauschten. Wie gut war es, daß wir den Zugang offen gelassen hatten! Die Brüder kamen heraus. Sie standen an unsrer Tür.

»Es ist niemand da«, sagte Hariman. »Du hast dich getäuscht.«

»Wahrscheinlich«, antwortete Sebulon. »Es war auch nur in mir. Gehört habe ich gar nichts. Aber diese Tür! War sie schon offen, als wir kamen?«

»Ja. Der Alte ist fort, und man hat sie offen gelassen, um zu lüften.«

»Ich gehe doch einmal hinein!«

»Unsinn! Wäre ein Horcher drin, so hätte er die Tür hinter sich geschlossen; das ist doch gewiß!«

Der andre kam aber doch herein, ging einige Schritte vorwärts und stieß dabei an einen Stuhl.

»Mach keinen Lärm!« warnte Hariman.

Da wandte sich Sebulon zurück und ging hinaus. Sein Bruder schob die Flügel der Tür heran, daß sie nun angelehnt war, und dann verschwanden sie wieder in ihrer Stube. Wir aber gingen ins Zimmer meiner Frau, wo wir, weil es nach der andern Seite lag, Licht machen konnten, ohne daß die Enters es bemerkten.

Klara war sehr erregt.

»Dich ans Messer liefern!« sagte sie. »Denke dir! Wer ist dieser Kiktahan Schonka, von dem sie sprachen?«

»Wahrscheinlich ein Siouxhäuptling. Ich kenne ihn nicht, habe nie von ihm gehört. Du bist besorgt, Herzle? – Hast keine Veranlassung dazu, gar keine!«

»So? Man will dich ans Messer liefern! Das nennst du keine Veranlassung?«

»Da ich es weiß, wird es nicht geschehn. Auch ist es nur erst ein Gedanke, mit dem der arme Teufel kämpft. Und überdies: Selbst wenn es Ernst wäre, würde man doch gewiß nicht eher etwas gegen mich unternehmen, als bis man sich an dem See befindet, worin Santer damals ertrunken ist. Bis dahin bin ich meines Lebens sicher. Es ist das alles gar nicht so schlimm, wie es klingt.«

»Auch das mit der Teufelskanzel? Schreckliches Wort!«

»Schrecklich finde ich es nicht, sondern höchstens romantisch. Teufelskanzeln gibt es in diesem Land ebensoviele, wie es drüben bei uns in Deutschland Orte mit dem Namen Breitenbach, Ebersbach oder Langenberg gibt. Wo die Devils Pulpit liegt, die hier gemeint war, werde ich morgen früh im Prospect-House erfahren.«

»Was für ein Haus ist das?«

»Ein Hotel, in dem ich heut nacht schlafe.«

»Schlafen? Du?« fragte sie überrascht. »In einem andern Hotel?«

»In einem andern Hotel!«

»Ich staune!«

»Ich nicht! Und in einer guten, glücklichen Ehe kommt es bekanntlich nur darauf an, ob der Mann erstaunt ist oder nicht. Ich glaube kaum, daß ich dir alle meine Gründe erst vorzulegen und mühsam zu erklären brauche. Ich gehe jetzt nach dem Prospect-House, esse etwas, lasse mir ein Zimmer geben und schicke zwei oder drei Zeilen hierher an Mr. Hariman F. Enters, um ihm zu sagen, daß ich in Niagara-Falls angekommen bin und im Fremdenbuch des Clifton-House gelesen habe, daß er dort wohnt. Hierauf sei ich aus guten Gründen nach dem Prospect-House gegangen, wo ich morgen früh von acht bis zehn Uhr für ihn und seinen Bruder zu sprechen sei, später aber nicht, weil ich mich dann meiner Frau widmen muß, die noch nicht mit angekommen sei. Bist du einverstanden?«

»Hm, das muß ich wohl sein!« lächelte sie. »Meine Erlaubnis zum Umzug sei dir hiermit erteilt. Aber geht das denn? So spät in der Nacht?«

»Hier geht alles!«

»Auch ohne Koffer? Soll ich dir nicht wenigstens ein Paket machen? Du wirst recht ärmlich aussehn, wenn du so ›ohne alles‹ und mit vollständig leeren Händen im Hotel erscheinst!«

»Das wird nur Eindruck machen, weiter nichts! Ich habe noch eine Bitte an dich: Laß dich nicht etwa sehn!«

»Ich werde mich schwer hüten!« nickte sie. »Darf ich dich ein Stück begleiten? Vielleicht nur bis hinunter vor die Tür?«

»Danke! Du mußt unsichtbar bleiben! Wir trennen uns hier oben!«

In der Empfangshalle war noch Leben; aber niemand achtete auf mich. Ich ging hinaus, spazierte über die Brücke nach der andern Seite des Orts, wo ich eine Viertelstunde später im Prospect-House ein Zimmer besaß, eine Karte an Mr. Hariman F. Enters schickte, nochmals zu Abend speiste und mich dann, mit meinem Tagewerk zufrieden, zur Ruhe niederlegte. Ich hatte mich natürlich auch hier als Mr. Burton eingetragen.

Als ich am andern Morgen halb acht in das Gesellschaftszimmer trat, um Kaffee zu trinken, saßen die beiden Enters schon da. Hariman beeilte sich, mir Sebulon vorzustellen, und teilte mir mit, daß sie zunächst sehr erfreut gewesen seien, von meiner Ankunft zu hören, dann aber wieder enttäuscht, weil kein Mensch im Hotel von einer Mrs. May und einem Mr. May etwas gewußt habe.

»Ich reise unter dem Namen Burton.«

» Well!« nickte Hariman. »Der Leser wegen, die Euch nicht in Ruhe lassen würden, Sir, wenn sie Eure Anwesenheit erführen.«

»Allerdings.«

»Und Mrs. Burton? Man sieht sie nicht.«

»Sie ist noch nicht mit hier. Ihr werdet sie später sehn. Vielleicht morgen oder übermorgen. Ich war natürlich zuerst im Clifton-House. Dort standen eure Namen im Buch. Ich wandte mich jedoch lieber hierher. Ich hoffe, das ist euch recht?«

»Gewiß! Darauf aber, Mrs. Burton zu begrüßen, müssen wir leider verzichten. Wir reisen heut schon ab.«

»So? Dann ist es ja genau so, wie ich euch vorausgesagt habe: Auch die jetzige Zusammenkunft hat keinen Erfolg.«

»Das kann man nicht behaupten. Wir hoffen im Gegenteil, mit Euch zum Abschluß zu kommen, Mr. Burton.«

»Welcher Umstand gibt euch diese Hoffnung?«

»Eure Klugheit, Eure Einsicht. Aber sprechen wir später hiervon! Ich sehe, hier ist nicht der Ort dazu.«

Da hatte er allerdings recht. Der Gesellschaftsraum war voll Morgengäste, man mußte sich also hüten, etwas Vertrauliches zu besprechen. Ich beeilte mich deshalb, mein Frühstück zu beenden, und dann machten wir einen kurzen Spaziergang längs des Stroms, um uns auf einer der Bänke am Ufer niederzulassen. Dort konnten wir alles mögliche erörtern, ohne daß uns irgend jemand hörte. Hariman war noch so, wie ich ihn bei der ersten Begegnung beschrieben habe. Sebulon besaß dieselben ›traurigen‹ Augen, schien aber ein mehr verbissener und unzuverlässiger Charakter zu sein. Was mich selber betrifft, so war ich entschlossen, nicht viel Federlesens mit beiden zu machen, sondern mich so kurz wie möglich zu fassen. Als wir uns niedergesetzt hatten, begann Hariman sofort:

»Ich habe Euch gesagt, daß wir auf Eure Einsicht und auf Eure Klugheit rechnen, Sir. Dürfen wir mit dem Geschäftlichen beginnen?«

»Ja«, antwortete ich. »Doch muß ich mich bei euch erkundigen, mit wem ihr überhaupt zu sprechen wünscht, mit dem Westmann oder mit dem Schriftsteller?«

»Mit dem Westmann vielleicht später, zunächst aber nur mit dem Schriftsteller.«

» Well! Sie stehn euch beide zur Verfügung; jeder für sich aber höchstens eine Viertelstunde. Meine Zeit ist mir nur sparsam zugemessen.«

Ich zog meine Uhr und zeigte ihnen das Zifferblatt.

»Es ist, wie ihr seht, jetzt genau acht Uhr. Ihr könnt also bis Viertel auf neun mit dem Schriftsteller und bis halb neun mit dem Westmann reden; dann ist unsre Zusammenkunft zu Ende.«

»Aber«, warf Sebulon ein, »Ihr habt uns doch geschrieben, daß Ihr zwei volle Stunden für uns haben würdet!«

»Allerdings! Ich hatte dabei anderthalb Stunden für den Freund gerechnet. Da ihr aber nur mit dem Schriftsteller und nur vielleicht auch mit dem Westmann reden wollt, den Freund aber gar nicht beansprucht, so bleibt es eben bei der halben Stunde.«

»Wir hoffen aber, daß wir Freunde werden. In diesem Fall dürfen wir auf zwei Stunden rechnen?«

»Sogar auf noch mehr. Also, beginnen wir! Wollen nicht unnütz Zeit verlieren!«

»Ihr habt eine eigentümliche Art, Geschäfte zu besprechen!« rief Sebulon ärgerlich.

»Nur dann, wenn ich schon abgelehnt habe und dennoch gezwungen werde, von neuem Zeit für die erledigte Angelegenheit zu opfern. Also – bitte –!«

Da nahm Hariman das Wort.

»Es handelt sich, wie erwähnt, um Eure drei Bände ›Winnetou‹, die wir Euch abkaufen wollen –«

»Um sie drucken zu lassen?« fiel ich ihm in die Rede.

»Kauft man etwa Bücher, um –?«

»Bitte, kein Versteckspiel! Kurze Antwort! Ja oder nein! Wollt ihr sie übersetzen und drucken lassen?«

Sie schauten einander verlegen an. Keiner antwortete. So fuhr ich fort:

»Ihr schweigt, und ich will an eurer Stelle antworten: Ihr wollt sie nicht drucken, sondern verschwinden lassen, und zwar aus Rücksicht auf euern eigentlichen Namen und auf euern toten Vater.«

Da sprangen beide zu gleicher Zeit von der Bank auf und warfen mir Ausrufe und Fragen zu, denen ich mit einer entschiednen Armbewegung ein Ende machte.

»Still! Ich bitte zu schweigen! Den Schriftsteller könntet ihr vielleicht täuschen, den Westmann aber nicht. Euer Name ist Santer. Ihr seid die Söhne jenes Santer, der mich leider zwang, von ihm so viel Unerfreuliches zu erzählen. Ich hoffe, daß ich von euch Besseres berichten kann!«

Sie standen zunächst unbeweglich, wie Bildsäulen aus Holz. Dann setzten sie sich wieder. Sie sahen wortlos vor sich hin.

»Nun?« fragte ich.

Da wandte sich Hariman an Sebulon:

»Ich sagte es dir voraus; du aber glaubtest es nicht. Ihm darf man nicht in dieser Weise kommen. Soll ich reden?«

Sebulon nickte. Da drehte Hariman sich wieder mir zu und fragte:

»Seid Ihr bereit, uns die Erzählung zu verkaufen, um sie verschwinden zu lassen?«

»Nein.«

»Um keinen Preis?«

»Um keinen. Aber nicht etwa aus Rachsucht oder Halsstarrigkeit, sondern weil ein solcher Kauf Euch überhaupt nichts nützen würde. Was ich geschrieben habe, kann nicht wieder verschwinden. Es sind viele tausend deutsche Stücke des ›Winnetou‹ hier in den Vereinigten Staaten verbreitet, und nach den hiesigen Gesetzen bin ich als Verfasser ungeschützt. Jedermann hat das Recht, zu übersetzen oder nachzudrucken, soviel ihm beliebt. Das weiß jeder Buchhändler, und Ihr habt mir durch Euer Angebot also schon drüben, als Ihr bei mir wart, bewiesen, daß Ihr keiner seid. Ich könnte Euer Geld einstecken und hinter Euch herlachen. Wollt Ihr das?«

»Hörst du es?« fragte Hariman seinen Bruder. »Er ist ehrlich!«

Da stand Sebulon wieder von seinem Platz auf und stellte sich vor mich hin. Seine Augen brannten, und seine Lippen bebten.

»Mr. Burton«, sagte er, »zeigt mir Eure Uhr!«

Ich erfüllte ihm diesen Wunsch.

»Nur noch zwei Minuten; dann ist die Viertelstunde zu Ende!« nickte er. »Ihr seht, ich gehe auf die Zeithappen, die Ihr uns zuteilt, ein. Ich mache es genau so kurz, wie Ihr wollt. Die Folgen aber kommen dann nicht über uns, sondern über Euch und Euer Gewissen! Ja, wir heißen Santer, und unser Vater war der, den Ihr kennt. Verkauft Ihr uns den Winnetou?«

»Nein!«

»Fertig mit dem Schriftsteller! Die Zeit ist vorüber, genau bis auf die Sekunde. Nun fünfzehn weitere Minuten für den Westmann! Ich frage Euch: Was müssen wir Euch zahlen, daß Ihr uns beide nach dem Nugget Tsil und zum Dunklen Wasser führt?«

»Ich tue das überhaupt nicht; ich bin kein Fremdenführer.«

»Aber wenn man es gut bezahlt?«

»Auch dann nicht!«

Da fragte Sebulon seinen Bruder:

»Soll ich? Darf ich?«

Dieser nickte, und Sebulon fuhr, zu mir gewandt, fort.

»Ihr werdet es dennoch tun, wenn auch nicht für Geld. – Ihr kennt die Sioux?«

»Natürlich! Schaut in meinen ›Winnetou‹!«

»So hört, was ich Euch jetzt sage! Für die Wahrheit dieser Worte legen wir beide unsre Hände ins Feuer. Also: die Häuptlinge der Sioux sind von den Häuptlingen der Apatschen eingeladen. Weshalb und wozu, das weiß ich nicht; ich habe nur soviel gehört, es solle Friede sein zwischen ihnen. Nur Häuptlinge sollen erscheinen, niemand weiter. Die Sioux aber haben beschlossen, diese Gelegenheit zu benutzen, sich mit sämtlichen Gegnern der Apatschen zu vereinigen, um diese zu vernichten. Glaubt Ihr das?«

»Man muß es prüfen«, antwortete ich kalt.

»So fahre ich fort: Es ist ein Ort bestimmt, wo sich die Feinde der Apatschen zusammenfinden, um den Kriegs- und Vernichtungsplan zu besprechen. Ich kenne diesen Ort.«

»Woher? Von wem?«

»Das ist Geschäftssache; Euch aber will ich es sagen, weil ich annehme, daß Ihr mir dann dankbar seid. Ich kenne die Sioux, und sie kennen mich. Unser Beruf als Pferde- und Rinderhändler hat uns häufig zu ihnen geführt. Jetzt haben sie uns ein Geschäft angeboten, das so groß und so gewinnbringend ist, wie niemals eins zuvor. Wir sollen die Beute, die sie bei den Apatschen machen, übernehmen. Versteht Ihr, was ich meine?«

»Sehr wohl.«

»Es soll zum Kampf kommen, zu einem beispiellosen Blutvergießen. Ich weiß, daß Ihr ein Freund der Apatschen seid. Ich will sie retten. Ich werde Euch Gelegenheit geben, die Pläne ihrer Feinde zunichte zu machen. Ich will Euch an den Ort bringen, wo diese Feinde sich beraten. Ich will auf allen Gewinn, der uns in Aussicht gestellt worden ist, verzichten. Und ich verlange dafür nur das eine: daß Ihr uns zu den beiden Orten führt, die ich Euch bezeichnet habe. Nun sagt, ob Ihr das wollt!«

Er hatte rasch gesprochen, um möglichst wenig Zeit zu verbrauchen. Das klang doppelt ängstlich und eindrucksvoll. Ich erkundigte mich trotzdem langsam und gemächlich.

»An den Ort, wo die Beratung stattfindet, wollt Ihr mich führen? Wohin geht dieser Weg?«

»Hinauf nach Trinidad.«

»Welches Trinidad meint Ihr? Es gibt ihrer mehrere.«

»In Colorado.«

Dieses Trinidad ist die Hauptstadt des County Las Animas im nordamerikanischen Staat Colorado, bildet den Knotenpunkt mehrerer Bahnen und treibt noch heutigentags einen nicht unbedeutenden Viehhandel. Grade dieser Umstand war wohl die Ursache, daß auch die beiden Enters die Stadt und ihre Umgegend sehr gut kannten. Sebulon fuhr in seiner Auskunftserteilung fort, indem er mich fragte:

»Seid Ihr schon einmal da oben in Trinidad gewesen, Mr. Burton?«

Ich antwortete ausweichend:

»Muß mich erst besinnen. Bin an so vielen Orten gewesen, daß ich nicht wenige von ihnen aus dem Gedächtnis verloren habe. Also da oben liegt der Versammlungsort aller Feinde der Apatschen?«

»Ja, aber nicht etwa in Trinidad selbst, sondern ein bedeutendes Stück von dort in die Berge hinein.«

»So? Ich denke, die Roten müssen ihre Absichten geheimhalten? Ihr scheint mich für einen Abcschützen anzusehn, weil Ihr mir zumutet, zu glauben, daß sie eine so belebte Stadt zum Stelldichein wählen. Diese Ansicht über mich ist wohl nicht geeignet, mich zu einem Anschluß an Euch zu bewegen. Ich will nun nur noch fragen, wann man da oben eintreffen müßte.«

»Wir reisen schon heute von hier ab, weil wir einen Tag in Chicago und zwei Tage in Leavenworth zu tun haben. Ihr könntet nachkommen. Die Beratung soll genau heut über zehn Tage sein. Wir würden Euch aber drei volle Tage vorher in Trinidad erwarten.«

»Gebt die Stelle näher an! Oder ist Trinidad so klein, daß ihr uns, wenn wir kommen, sofort sehn müßt?«

»Fragt nach dem ›Hotel zum Wilden Westen‹! Dort bleiben wir über Nacht. Haben uns schon angemeldet. Aber, Sir, es sind schon elf Minuten vorüber. Wir haben also nur noch vier Minuten. Besinnt Euch schnell und gebt uns Bescheid, sonst wird es zu spät!«

»Habt keine Sorge! Wir werden genau mit fünfzehn Minuten zu Ende sein.«

»Hoffentlich! Das liegt ja noch viel mehr in Euerm eignen Vorteil, als in dem unsrigen!«

»Wieso?«

»Weil Ihr ohne uns die Apatschen nicht retten könntet!«

Jetzt mußte mein Trumpf kommen, mit dem ich ihre Ansprüche und überhaupt ihre Selbstabschätzung herunterstimmen wollte. Ich schaute ihm also wie belustigt ins Gesicht.

»Irrt ihr euch da nicht etwa? Glaubt ihr wirklich, daß es mir so schwer fallen würde, den Häuptling Kiktahan Schonka an der Teufelskanzel zu finden?«

Das schlug ein! Hariman fuhr jetzt auch von seinem Sitz in die Höhe.

» Heavens! Er weiß es schon! Seid Ihr allwissend, Sir?«

»Ja, seid Ihr allwissend?« fragte auch Sebulon.

Sie standen nebeneinander vor mir wie zwei Knaben, die beim Apfelstehlen erwischt worden sind. Ich nahm meine Uhr heraus und sah auf das Zifferblatt.

»Allwissend ist kein Mensch; aber da ich nun einmal nicht nur Schriftsteller, sondern auch Westmann bin, so folge ich meiner Gewohnheit, die Augen offen zu halten. Euer Geheimnis kannte ich schon, bevor ihr es mir jetzt sagtet. Ihr seid also auf einem falschen Weg, wenn ihr meint, daß ich euch eure Mitteilungen mit dem Nugget Tsil und dem Dunklen Wasser bezahlen müßte. Das Verhältnis liegt vielmehr grad umgekehrt. Ihr könnt nicht durch die Sioux, sondern nur durch die Apatschen etwas gewinnen, und nur ich würde es sein, der euch diesen Gewinn besorgt.«

Nun stand auch ich von meinem Platz auf und fuhr fort:

»Ich werde heut über sieben Tagen in Trinidad sein, in dem Hotel, das ihr mir bezeichnet habt. Von diesem Tag an werde ich euch prüfen: Besteht ihr diese Prüfung, so bekommt ihr sowohl den Nugget Tsil als auch das Dunkle Wasser zu sehn, sonst aber nicht! Haltet zu den Sioux oder haltet zu den Apatschen, ganz wie es euch beliebt; die Folgen aber kommen nicht, wie ihr vorhin sagtet, über mich, sondern über euch! – – – So! Auch diese fünfzehn Minuten sind zu Ende, genau auf die Sekunde. Lebt wohl, Mesch'schurs! Und auf Wiedersehn in Trinidad!«

Ich steckte die Uhr wieder ein und entfernte mich, ohne mich einmal nach ihnen umzusehn. Sie machten keinen Versuch, mich zurückzuhalten. Sie sagten kein Wort; sie waren vollständig verblüfft. Ich ging gleich nach dem Clifton-House, wo niemand ahnte, daß ich während der Nacht fortgewesen war. Wer mich jetzt überhaupt beachtete, mußte annehmen, daß ich von einem Morgenspaziergang zurückkehrte.

Meine Frau hatte ihr Zimmer, seit ich fortgewesen war, nicht verlassen, also noch nicht gefrühstückt. Ich ging mit ihr hinab an unsern Tisch, damit sie das Versäumte nachholen konnte. Die beiden Häuptlinge waren schon abgereist; auf ihren Plätzen saßen andre. Ich berichtete ausführlich meine Zusammenkunft mit den beiden Enters und erntete die mir als Eheherrn auf jeden Fall gebührende Anerkennung. Das Fenster, an dem wir saßen, lag, wie bereits gesagt, nach dem Fluß. Man sah von hier aus die Personen, die über die Brücke kamen. Eben hatte ich meinen Bericht beendet, so bemerkten wir das Brüderpaar, das von drüben herüber nach dem Hotel kam. Der Kellner sah sie auch.

»Das sind die Nachbarn! Sie gingen heut sehr zeitig fort. Haben einen Brief bekommen. Sind nie am Tag zu sehn gewesen; heut aber kehren sie zurück. Werde nachschauen, was das für eine Bewandtnis hat!«

Nichts konnte uns lieber sein als seine Neugierde. Er ging hinaus. Schon nach einigen Minuten kam er wieder herein und meldete:

»Sie reisen ab! Jetzt nach Buffalo und von da aus mit dem nächsten Zug nach Chicago. Ganz so wie die beiden Gentlemen heut früh, die auch nach Chicago gingen. Schade, jammerschade um sie! Bezahlten nur mit Nuggets!«

Nach kurzem sahen wir die Brüder Enters das Hotel verlassen und wieder über die Brücke gehn. Das Gepäck, das sie trugen, bestand nur aus zwei Ledertaschen. Mich etwa noch nachträglich zu erkundigen, wo und wie sie tagsüber ihre Zeit verbracht hatten, dazu gab es für mich keinen Grund; ich war, wenigstens einstweilen, mit ihnen fertig.

»Nun reisen wohl auch wir bald ab?« fragte meine Frau.

»Ja, morgen früh«, nickte ich.

»Wohin zunächst?«

»Hm! Wäre ich allein, so würde ich, ohne einmal auszusteigen, sogleich bis Trinidad fahren.«

»Du glaubst, ich halte das nicht aus?«

»Es ist eine Anstrengung!«

»Für mich nicht! Mit etwas gutem Willen geht es schon. Warte, ich werde nachsehn!«

Sie ging nach der Office, um sich die betreffenden Fahrpläne zu holen. Wir schauten nach und rechneten. Es galt, uns weder in Chicago noch in Leavenworth sehn zu lassen. Das war nicht schwer, zumal wir gar nicht über Leavenworth, sondern über das ihm naheliegende Kansas City kamen. Von dort aus gab es allerdings noch eine gewaltige Strecke bis Trinidad, aber bei der Einrichtung der amerikanischen Eisenbahnwagen, die alles bieten, was an Bequemlichkeit überhaupt erreichbar ist, war das nicht allzu schwer zu ertragen.

»Wir machen es!« sagte Klara. »Wir fahren ununterbrochen! Wollen sogleich die Karten besorgen!«

So saßen wir denn schon am nächsten Morgen im Abteil des Pullmancar und dampften dem ›fernen Westen‹ und den uns dort erwartenden Ereignissen entgegen.


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