Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11. ›Ich bin die Sehnsucht der roten Völker!‹

Es war ungefähr eine Woche später. Wir waren vom Dunklen Wasser aus ostwärts endlich auf unser eigentliches Ziel zu geritten, hatten während der letzten Nacht am untern Klekih Toli gelagert und bewegten uns nun am frühen Morgen an seinem Ufer aufwärts. Klekih Toli ist ein Apatschewort. Es heißt soviel wie Weißer Fluß. Dieser Fluß hat ein bedeutendes Gefälle. Er kommt in zahlreichen Fällen vom Mount Winnetou herab. Der weiße Schaum dieser Fälle hat ihm seinen Namen eingebracht. Sein Bett ist tief in den Felsen eingeschnitten. Darum sind seine Ufer hoch und steil, oben mit Wald und unten mit Buschholz bewachsen. Auch da, wo er aus dem gewaltigen Gebirgsstock des Mount Winnetou tritt, bildet er mehrere Wasserfälle, die ihrer Umgebung ein malerisches Aussehn geben.

Der Deutsche, der nur seine Heimat kennt, Flachland oder Bergland, die andächtige Breite der Marschen, die Versonnenheit der Heide, die Idylle des Rheinlands, den stillen Zauber des Mittelgebirges oder die stolze Schönheit der Alpen, der ahnt nicht, welch neue Wunder uns hier begegneten.

Kakho-Oto war am Morgen nach der Beratung im Haus des Todes zu uns gekommen und hatte uns berichtet, daß im Lager der Roten nichts Besondres geschehn sei. Sie fragte uns nicht, was wir erlauscht hätten; darum schwiegen auch wir darüber, um sie nicht mit sich selber und ihren Stammespflichten in Widerspruch zu bringen. Vor allen Dingen durfte sie nicht erfahren, daß wir uns in den Besitz der Medizinen gesetzt hatten. Als wir ihr unsern Entschluß kundgaben, sofort weiter zu reiten, tat ihr diese schnelle Trennung leid. Sie hätte uns gern begleitet, sah aber wohl ein, daß sie mehr und besser für uns wirken konnte, wenn sie bei den Kiowas blieb. Doch wurde verabredet, uns unter allen Umständen am Mount Winnetou wiederzusehn.

Diesem Berg waren wir jetzt nahe, obgleich wir ihn noch nicht sahen, der tiefen Flußrinne wegen, in der wir ritten. Es gab vom Dunklen Wasser aus einen andern, bequemeren Weg nach dem Mount Winnetou, den wir aber vermieden in der Annahme, daß er unter den jetzigen Verhältnissen belebter sein würde, als uns lieb sein konnte. Wir wollten unnütze Begegnungen vermeiden und möglichst unerwartet eintreffen, ohne also vorher beachtet worden zu sein. Deshalb kamen wir von einer verhältnismäßig unwegsamen Seite her und waren nun doch gezwungen gewesen, nach dem Klekih Toli einzubiegen, um nicht an unserm Ziel vorüberzugehn. Daß wir so dennoch auf einen jetzt viel betretnen Weg geraten waren, bemerkten wir an zahlreichen Spuren von Menschenfüßen und Pferdehufen. Und richtig, gar bald sahen wir auch beim Vorüberreiten einige Indianer zwischen den Büschen hocken. Es waren ihrer vier. Sie trugen keinerlei Bemalung und waren nur mit Lanzen und Messer bewaffnet, trotzdem aber sofort als Pohonim-Komantschen zu erkennen. Als sie uns erblickten, richteten sie sich aus ihrer hockenden Stellung auf und schauten uns entgegen. Sie bildeten offenbar einen Posten, der alle, die vorüberkamen, in Augenschein nehmen sollte. Der Junge Adler, der uns grad einige Pferdelängen voraus war, ritt still grüßend an ihnen vorbei. Ihn ließen sie vorüber, uns aber hielten sie an.

»Wohin wollen meine weißen Brüder?« fragte der älteste von ihnen.

»Nach dem Mount Winnetou«, antwortete ich.

»Was wollen sie dort?«

»Wir wollen zu Old Surehand.«

»Der ist heut nicht dort.«

»Und zu Apanatschka, dem Häuptling der Pohonim-Komantschen.«

»Auch der ist nicht dort. Sie sind miteinander fortgeritten.«

»So werde ich dort warten, bis sie wiederkommen.«

»Das ist unmöglich. Es dürfen jetzt keine Bleichgesichter nach dem Mount Winnetou.«

»Wer hat es verboten?«

»Der Ausschuß.«

»Was für ein Ausschuß? Gehört ihm der Mount Winnetou?«

»Nein«, antwortete der Sprecher verlegen.

»So hat dieser Ausschuß hier auch nichts zu befehlen und nichts zu verbieten!«

Ich trieb mein Pferd zum Weitergehn an. Da griff er mir in die Zügel.

»Ich darf euch nicht vorüberlassen. Ihr müßt umkehren! Ich muß euch anhalten!«

»Versuche es!«

Bei diesen Worten nahm ich mein Pferd vorn hoch und schüttelte ihn ab. Die drei andern wollten die zwei Jäger und meine Frau zurückhalten. Mein Pferd tat einen Satz mitten zwischen sie hinein und trieb sie auseinander. Dick Hammerdull rief lachend:

»Uns zurückweisen! Hat man schon einmal so etwas erlebt? Wer es wagt, mich anzufassen, den steche ich auf der Stelle nieder!«

Er ließ sein Maultier einige Sprünge dorthin tun, wo die vier Lanzen in der Erde steckten. Im nächsten Augenblick war auch ich dort. Zwei rasche Griffe, und die Lanzen befanden sich in unsern Händen. Er nahm die eine durch die Lederschlinge an den linken Arm und senkte die andre mit der Rechten zum Stoß. Ich tat dasselbe.

»So!« lachte er. »Wer nicht erstochen sein will, der mache sich aus dem Weg! Vorwärts!«

Wir ritten weiter.

Die Komantschen waren junge Leute. Der älteste von ihnen zählte gewiß noch nicht dreißig Jahre. Sie stammten also nicht aus der alten kriegerischen Zeit und wußten augenscheinlich nicht recht, was sie machen sollten. Schließlich schwangen sie sich auf ihre Pferde und kamen hinter uns her. Sie baten uns, ihnen ihre Lanzen wiederzugeben und zu warten, bis sie uns weiter vorn gemeldet hätten. Dann würden wir erfahren, ob wir unsern Weg fortsetzen dürften oder nicht. Da es nicht in unsrer Absicht lag, die Roten, die immerhin noch ihre Messer hatten, herauszufordern, gaben wir ihnen ihre Lanzen zurück, ritten jedoch ruhig weiter. Sie getrauten sich nicht mehr, uns daran zu hindern, blieben aber hinter uns, denn ohne Beaufsichtigung durften sie uns, wie es schien, nicht lassen.

Nach einiger Zeit kamen wir an einen zweiten Posten, der auch aus vier Personen bestand. Sie machten denselben Versuch, uns anzuhalten. Wir weigerten uns zu gehorchen. Die ersten vier fühlten sich jetzt stärker als vorher. Die Gegner waren uns nun an Zahl überlegen. Das konnte sie leicht zu einer Keckheit verleiten, und dann war der Kampf da, den ich vermeiden wollte. Darum zog ich rasch meine beiden Revolver, die ich jetzt geladen bei mir trug, entsicherte sie, zielte und gab schnell hintereinander acht Schüsse ab. Jeder der Komantschen bekam einen Ruck in den Arm, in dem er die Lanze hielt. Ich hatte alle acht Holzschäfte durchlöchert. Flink lud ich wieder und warnte die Roten:

»Ich habe nur auf die Lanzen gezielt. Von jetzt an aber ziele ich auf die Männer. Merkt euch das!«

Wir ritten weiter. Sie blieben eine Weile halten und sprachen leise miteinander; dann kamen sie hinter uns her, alle acht, ohne es jedoch zu wagen, uns mit Worten oder gar tätlich anzugreifen.

In etwa dem gleichen Abstand erreichten wir den nächsten Posten, der ebenso wie die vorigen aus vier Mann bestand, die nur Lanzen und Messer trugen. Auch sie wollten sich uns in den Weg stellen; als sie aber sahen, daß wir begleitet wurden, stutzten sie, ließen uns vorüber und holten sich zunächst bei ihren hinter uns reitenden acht Stammesgenossen Auskunft über uns. Das machte meiner Frau Spaß.

»Nun ist es genau ein Dutzend«, sagte sie. »Und wir sind nur vier Männer und eine Frau! Sind das jene kühnen Rothäute, von denen man liest und erzählt? Sind das jene Komantschen, die man als die verwegensten unter allen Indianern schildert?«

»Irre dich nicht!« antwortete ich. »Sie sind jung und unerfahren. Außerdem haben sie vermutlich die Weisung, Tätlichkeiten möglichst zu vermeiden. Wir haben sie einfach verblüfft; das ist alles.«

Jetzt hatten wir etwas länger zu reiten, bevor wir den nächsten Posten erreichten. Dort stand eine geräumige Blockhütte, bei der zahlreiche Holzklötze lagen, die anscheinend als Sessel dienten. Hier waren mehr Menschen versammelt. Ich zählte zehn: acht Indianer und zwei Weiße, Pferde ebenso viele. Den beiden Weißen schienen die Roten nicht vornehm genug zu sein. Sie hatten sich abseits von ihnen gesetzt. Sie frühstückten aus ihren Satteltaschen und tranken Brandy dazu. Die Flasche stand zwischen ihnen. Soviel sahen wir von weitem. Als wir aber näher kamen, erkannten wir einen Irrtum: die zwei waren nicht Weiße, sondern ein Indianer und ein Halbindianer; sie waren nur wie Weiße gekleidet, während die Komantschen die Tracht ihres Stammes trugen. Und diese beiden waren uns nicht etwa fremd, sondern sehr gute Bekannte von uns. Der Halbindianer war Herr Antonius Paper, genannt Okih-tschin-scha, und der Ganzindianer hatte sich uns als Mr. Evening vorgestellt, Agent für alles. Neben ihnen lagen ihre Flinten und einige erlegte Vögel. Sie schienen sich also auf einem Jagdausflug zu befinden.

Sie sprangen beide auf, als sie uns erkannten.

»Hallo, Hallo!« rief Paper. »Das ist ja dieser Burton mit seiner Gesellschaft! Also darum ritt der Junge Adler so schnell vorüber! Er will sie einschmuggeln! Haltet sie auf! Sie dürfen nicht weiter! Nehmt sie gefangen!«

Diese Aufforderung war an die Indianer gerichtet. Wir achteten nicht darauf, sondern lenkten unsre Tiere ans Wasser und stiegen ab, um sie trinken zu lassen. Indessen erstatteten unsre zwölf bisherigen Begleiter Bericht über uns. Wir hörten zwar nicht, was sie sagten, konnten uns aber sehr wohl denken, daß sie sich nicht in Lob und Preis über uns ergingen.

»Dieser Paper wird doch nicht etwa mit dir anbinden wollen!« meinte meine Frau besorgt.

»Er wird es sehr wahrscheinlich«, erwiderte ich.

Kaum hatte ich das gesagt, so kam Mister Antonius auf uns zugeschlingert und stellte sich grad vor mich hin.

»Lauft Ihr uns schon wieder in den Weg, Mr. Burton? Ich muß jetzt annehmen, daß Ihr böse Absichten dabei verfolgt. Ihr seid mein Gefangner!«

Ich antwortete nicht.

»Habt Ihr es gehört?« fragte er. »Gäbe es hier Handschellen, so würde ich sie Euch anlegen lassen. Denn solche Halunken –«

»Halunken?« unterbrach ich ihn.

»Ja, Halunken! Nur ein Halunke kann –«

Er konnte den Satz nicht vollenden, denn ich packte ihn mit beiden Händen oberhalb der Hüften, trat mit ihm nahe ans Wasser heran und schleuderte ihn, soweit ich konnte, in den hier ziemlich tiefen Fluß hinein.

»Hilfe, Hilfe!« brüllte er.

Dann sank er unter, kam aber rasch wieder zum Vorschein, begann wie ein Hund zu paddeln und wurde von der reißenden Strömung fortgetragen.

»Hilfe, Hilfe!« schrie er weiter.

»Holt ihn heraus!« rief William Evening, der Agent für alles, aufgeregt. »Laßt ihn nicht ertrinken! Schnell, schnell!«

Die Indianer beeilten sich, dem im Wasser Treibenden zu folgen und ihn mit Hilfe ihrer Lanzen ans Ufer zu ziehn. Ich aber ging auf den Agenten zu, lächelte ihn ebenso verbindlich an, wie er mich am Nugget Tsil angelächelt hatte, machte ganz so, wie er dort, eine verbindliche Verbeugung und sagte mit seinen eignen Worten:

»Wir sind gekommen, diesen Platz zu besichtigen, und glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.«

Er sah mich groß an.

»Ihr versteht mich doch?« fragte ich ihn in gleicher Weise, wie er mich damals gefragt hatte.

Da ging ihm ein Licht auf. Er erinnerte sich jenes Vorgangs und begann zu ahnen, daß ich jetzt im Begriff stand, den Spieß umzudrehn.

»Gewiß«, versetzte er. »Vollkommen.«

»Nun?«

»Wir sollen von hier fortgehn.«

»Ja! Und zwar sogleich! Sonst helfe ich nach!«

Damit zog ich den Revolver.

»Wir gehn; wir gehn!« versicherte der Agent für alles sehr eindringlich und schnell. »Da bringen sie Mr. Paper. Hoffentlich hat ihm der Schreck nicht die Kraft geraubt, aufs Pferd zu steigen!«

»Sollte das der Fall sein, so bin ich gern bereit, ihn sofort wieder stark zu machen. Wem gehört der Hut, der dort am Ast hängt?«

»Mr. Paper.«

»Ausgezeichnet!«

Die Indianer hatten Herrn Okih-tschin-tscha aus dem Wasser gezogen. Er triefte und hatte, wie es schien, genug. Er beeilte sich, ins Innere des Blockhauses zu kommen. Noch hatte er es nicht erreicht, da hob ich den Revolver und zielte nach dem Hut. Ich traf. Paper erschrak so über den Schuß, daß er stehnblieb. Ich deutete nach der durchlöcherten Kopfbedeckung.

»Das war der Hut! Nun kommt der Mann an die Reihe, der mich festnehmen wollte! Ich gebe Mr. Antonius Paper nur fünf Minuten Zeit. Hat er sich dann nicht aus dem Staub gemacht, so gibt es ein zweites Loch, aber nicht durch den Hut, sondern durch die Knochen. Fare well, Mr. Evening! Ich hoffe, Ihr trollt Euch ebenso schnell von dannen!«

In diesem Augenblick nahm auch Dick Hammerdull seinen Revolver zur Hand und rief mir zu:

»Ob sie sich aus dem Staub machen oder nicht, das bleibt sich gleich. Jedenfalls fünf Minuten, nicht mehr! Dann besorge ich den einen und Ihr den andern!«

Herr Okih-tschin-tscha griff schnell nach seinem durchlöcherten Hut, stülpte ihn auf und rannte zu seinem Pferd. Der Agent für alles packte den Rest des Frühstücks, der auf dem Boden umherlag, hastig in seine Satteltasche, raffte die beiden Gewehre auf, denn Antonius Paper hatte das seinige vor Angst vergessen, und noch waren die fünf Minuten nicht vorüber, so ritten beide, ohne sich umzusehn, in größter Eile davon.

Nichts gefällt dem Indianer mehr als Mut und Tatkraft. Unser Verhalten flößte den Komantschen Achtung ein. Die Folge hiervon zeigte sich sofort. Der älteste von ihnen kam zu uns heran.

»Meine weißen Brüder kennen, wie man mir sagt, Old Surehand?«

»Ja«, antwortete ich.

»Und auch Apanatschka, unsern Häuptling?«

»Auch ihn. Ich kenne außerdem Young Surehand und Young Apanatschka. Die beiden Väter und die beiden Söhne nennen mich ihren Freund.«

»Haben sie dir gesagt, was hier geschehn soll?«

»Ja. Sie haben mir Briefe darüber geschrieben und mich eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen.«

»Hast du diese Briefe mit?«

»Ja«

»Ich bitte dich, sie mir zu zeigen.«

»Sehr gern!«

Ich war bereit, ihm den Gefallen zu tun, obwohl ich zu diesem Zweck erst den Koffer von dem Packtier nehmen und öffnen mußte. Meine Frau half mir dabei. Es gibt Augenblicke, in denen ihr der Schalk im Nacken sitzt. Davon erlebten wir jetzt ein Beispiel. Sie nahm einfach vier quittierte Hotelrechnungen aus Leipzig, Bremerhaven, New York und Albany heraus und reichte sie dem Komantschen.

»Hier! Von den beiden Vätern und von den beiden Söhnen!«

Er machte mit der Hand ein Zeichen der Hochachtung, griff nach den Papieren und betrachtete sie sehr eingehend. Sein Gesicht nahm dabei mehr und mehr den Ausdruck an, den man als ›Kennermiene‹ bezeichnet. Er wandte sich an seine Leute und bestätigte, indem er die Rechnungen einzeln emporhob:

»Es stimmt! Hier ist der Brief von Old Surehand und hier von Young Surehand, hier von Apanatschka und hier von Young Apanatschka. In allen diesen Briefen steht, daß diese Bleichgesichter Freunde sind und daß sie nach dem Mount Winnetou kommen sollen.«

Seine Kameraden wußten wahrscheinlich genau, welche Künste ihm zuzutrauen seien und welche nicht, denn einer von ihnen, der mehr ehrlich als pfiffig war, fragte:

»Kannst du es denn lesen?«

»Nein«, antwortete er; »aber ich sehe es. Howgh!«

Er gab dem Frager die ›Briefe‹ hin. Dieser prüfte sie ebenso eingehend und rief dann, indem er sie weitergab:

»Auch ich sehe es. Howgh!«

So gingen die Rechnungen weiter von Hand zu Hand. Ein jeder gab sein entscheidendes: »Auch ich sehe es, Howgh!« dazu, und dann bekamen wir sie zurück, wobei der Anführer unser Schicksal entschied.

»So mögen meine weißen Brüder mit ihrer Squaw getrost weiterreiten! Die Krieger der Pohonim-Komantschen haben ihren Häuptlingen mehr zu gehorchen als dem Ausschuß!«

Wir steckten die Rechnungen wieder in den Koffer. Meine Frau, die aus dem Verhalten der Roten merkte, wie die Dinge standen, reichte dem wackeren Schriftverständigen die Hand zum Abschied.

»Mein roter Bruder ist nicht nur klug und verständig, sondern auch in der Deutung unsrer Totems und Wampums wohl bewandert. Ich danke ihm.«

Auch wir gaben ihm die Hand; dann ritten wir weiter.

Meine Frau nahm an, daß der Junge Adler, der uns vorangeeilt war, an irgendeiner Stelle anhalten würde, um auf uns zu warten. Ich aber war andrer Meinung. Er hatte sich von uns getrennt und verfolgte damit sicher irgendwelchen Zweck. Daß uns unterwegs so kleine, fast läppische Hindernisse aufstoßen würden, wie es in der Tat geschah, hatte er dabei freilich nicht vorauszusehn vermocht.

Wir kamen noch an mehreren andern Wachtposten vorüber. Diese Indianer hielten uns nicht an. Sie wichen vor uns zur Seite. Die argwöhnischen Blicke, die sie dabei auf uns warfen, sagten nur zu deutlich, daß sie eine Weisung erhalten hatten, die für uns nicht günstig war. Ich vermutete, daß uns durch Mr. Okih-tschin-tscha ein Empfang bevorstand, auf den wir uns nicht zu freuen, den wir aber auch nicht zu fürchten brauchten.

Verschiedenen Wahrnehmungen zufolge konnte unser Ziel nicht mehr fern sein. Bei den Krümmungen des Flusses erschien ab und zu ein eigenartig gebildeter Bergkoloß, der beim Näherkommen immer mächtiger anstieg und alle andern Höhen, zwischen denen der Fluß sich hindurchwinden mußte, weit überragte. Schließlich lag ein Zelt oder ein Halbzelt an unserm Weg, dann wieder und wieder eins. Sie mehrten sich und lagen immer dichter beisammen. Es sah aus, als ob wir durch die äußerste Gasse einer weit ausgedehnten Lagerstadt nach ihrem Mittelpunkt ritten. Vor diesen Zelten saßen Indianerinnen, die uns mit ungewöhnlicher Neugier betrachteten. Man sah ihnen an, daß sie von unserm Kommen unterrichtet waren. Kinder gab es keine. Die hatte man nicht mit nach dem Mount Winnetou bringen dürfen. Auch Männer sahen wir nicht. Die waren uns wohl schon voraus, um bei dem Empfang, der uns erwartete, zugegen zu sein.

Karte

Nun verbreiterte sich das Tal des Flusses sehr schnell, bis die Uferhöhen plötzlich derart nach beiden Seiten zurückwichen, daß wir die ganze vor uns liegende Hochebene mit einem einzigen Blick zu überschauen vermochten. Der Eindruck, den dieses Bild auf uns machte, war so gewaltig, daß wir wie mit einem gemeinsamen Ruck unsre Tiere anhielten.

»Herrlich! Herrlich!« rief ich aus.

Auch meine Frau stand tief ergriffen. Sie, der hier alles noch Neuland war, packte dieser Anblick besonders stark.

Man denke sich einen mächtigen, weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein mächtiger freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist. Der Dom steht auf der westlichen Seite dieses Platzes und geht nach und nach in viele einzelne Türme über, die in fortschreitender Verjüngung im geheimnisvollen Blaugrau des Westens verschwinden. Auf den andern drei Seiten ist der Platz von niedrigeren Bergen rundum derart eingefaßt, daß es nur eine einzige Lücke gibt: das tiefe Flußtal, durch das wir heraufgekommen sind.

Dieser Riesendom ist der Mount Winnetou.

Der Hauptturm des Berges steigt wie eine von den kühnsten Naturgewalten willkürlich geschaffne Gotik hoch über die Wolken empor. Seine Zackenspitze besteht aus nacktem Gestein, das aus weichen, grün schimmernden Mattendächern emporwächst. Zwischen diesen Zacken liegt hell leuchtender Schnee, den unaufhörlich die Sonne küßt, bis er sich auflöst und als Wasserstrahl von Stein zu Stein, von Schlucht zu Schlucht in die Tiefe springt.

Da, wo sich – von oben herab gerechnet – der Turm zum eigentlichen Domgebäude weitet, sammeln sich vermutlich diese Wasser und bilden aus Rinnsalen und Bächen einen See, aus dem zu beiden Seiten je ein Wasserfall wohl über sechzig Meter schroff hinunterstürzt und die dann, der eine nach Süden, der andre nach Norden fließend, die Hochebene, also den freien Domplatz, umfassen und sich endlich zum Klekih Toli vereinen, an dem wir heut heraufgeritten waren. Unterhalb der grünen Matten hoch oben auf dem Riesendom beginnt der erst lichte, dann aber immer dunkler und dichter werdende Wald, der den See geheimnisvoll umgreift und dann immer weiter herabsteigt, bis er den freien Platz erreicht, sich in Gebüsch verwandelt und schließlich in die frisch grüne Prärie der Ebene übergeht. Dieser See heißt Nahtowa-pa-apu ›Geheimnis-‹ oder ›Medizinensee‹. Am östlichen Teil des dicht bewachsenen Doms liegt die Pforte, ein breit geöffnetes Höhental, durch das man zum hohen, langen First des eigentlichen Bergstocks und zum ›See der Medizinen‹ steigt. Über dieser Pforte erhebt sich der Nebenturm des Mount Winnetou, der zwar nicht so hoch und nicht so gewaltig ist wie der Hauptturm, aber zum Beispiel in Tirol doch als eine Dolomitennadel ersten Ranges gelten würde. Auch er ist dicht bewaldet. Aus dem dunklen Grün der Tannen und Fichten steigen die helleren Hochgebirgswiesen empor. Auf halber Höhe steht ein altindianischer Wartturm, von dem aus man die ganze Ebene und die oberen Windungen des Flusses zu überschauen vermag. Und einige Fuß tiefer hinab weichen Berg und Wald zurück und bilden eine weit hervorragende Hochfläche, auf der, einer uneinnehmbaren Festung ähnlich, eine nach beiden Seiten lang ausgestreckte Reihe von Gebäuden steht. Ihr Alter reicht gewiß noch über die Tolteken- und Aztekenzeit zurück und deutet auf jene graue Vergangenheit, deren Reste jetzt so außerordentlich selten sind. Dort oben wohnt Tatellah-Satah, der Bewahrer der großen Medizin. Man geht durch den vordern Teil des großen Tals und dann durch ein Seitental hinauf zu ihm. Doch ist es keinem Menschen gestattet, ohne seine besondre Erlaubnis diesen Weg zu betreten.

Der Hauptturm des riesigen Doms ist der eigentliche Mount Winnetou, der Nebenturm aber der ›Berg der Medizinen‹. Und dieser ist es, von dem die Sage geht, der ›Wecker des Volkes‹ werde dreimal um ihn fliegen, um dem roten Mann die verlorengegangnen Medizinen zurückzubringen.

Die Prärie vor dem Mount Winnetou dehnte sich weithin, so daß ihre Länge wie ihre Breite fast eine halbe Reitstunde betrug. Sie war jetzt mit Hütten und Zelten besetzt, die in ihrer Gesamtheit eine ganze Stadt bildeten. Weil nun die eine Hälfte der Ebene höher lag als die andre, zerfiel diese Stadt in eine Ober- und eine Unterstadt. Vorläufig nur der Lage nach – ob auch in andrer Beziehung ein Unterschied zwischen beiden herrschte, konnten wir zunächst nicht feststellen.

Die untere Stadt war dichter besetzt als die obere. Sie wies nur Zelte auf; in der oberen gab es auch kleinere Blockhütten und weitläufige Holzbauten, deren Zweck wir nicht sogleich erkannten. Einige von ihnen schienen Lagerhäuser zu sein. Andre hatten das Aussehn von Hotels oder Gasthäusern. Vielleicht waren es auch Versammlungshäuser. Zwischen den Zelten, vor denen die Lanzen ihrer Besitzer steckten, weideten die Pferde. Zahlreiche Feuer brannten, an denen gebacken und gebraten wurde, denn es war Mittagszeit. Es herrschte überhaupt ein reges Leben. Man sah aber keinen einzigen Weißen, nur Rote. Die meisten trugen indianische Kleidung. Ein großer Platz war zu Kampf- und Reiterspielen abgesteckt, ein andrer für Beratungen und andre öffentliche Angelegenheiten. Hier sah ich ungefähr zwanzig nebeneinanderliegende Sitzplätze, die sich fast wie Throne über den Boden erhoben. Wahrscheinlich für den Ausschuß und andre hervorragende Personen. Es waren grad jetzt sehr viele Menschen dort, deren Aufmerksamkeit auf uns gerichtet schien, denn sie deuteten, sobald wir auftauchten, zu uns herüber.

Grad vor uns ging eine uralte, steinerne Brücke über den Fluß, eine von der Art, daß man hüben hoch hinauf und drüben wieder tief hinab muß. Solche Brücken eignen sich gut zur Verteidigung des Flußübergangs. Diese Stelle war also schon in uralter Zeit als geographisch und strategisch wichtig betrachtet worden. Drüben auf der andern Seite hielt eine Schar von Indianern zu Fuß. Man sah es ihnen an, daß sie auf uns warteten. Wir aber nahmen uns Zeit. Wir genossen den Anblick des großartigen, unvergleichlichen Gebirgsbildes und des lebendigen Vordergrunds, der sich innerhalb der angegebnen Riesenlinien klein und belanglos bewegte. Waren die Menschen früherer Jahrtausende vielleicht größer gewesen als die heutigen? Hierher gehörten doch eigentlich wohl Enakssöhne, die auf elefantengroßen Pferden reiten, und Fürsten, deren Throne bis in die Wolken reichen! Die Sonne stand hoch, scheinbar senkrecht über uns. Sie warf nur geringen Schatten um unsre Füße. Sie leuchtete in jeden Winkel, in jede Spalte und Ritze. Kein Wölkchen stand am Himmel; kein Lüftchen wehte. Ein Empfinden von Kraft und Willensfreude erquickte Auge und Herz. Hier oben war der rechte Platz für neue, gute und glückhafte Menschheitsgedanken.

Nun erst ritten wir weiter, die Brücke hinauf und drüben hinunter. Dort wurden wir sofort von den Roten umringt; ganz wie wir es erwartet hatten. Sie waren beauftragt, uns gefangenzunehmen. Ein jeder von ihnen trug ein farbiges Band um den Arm; sie bildeten, wie wir dann erfuhren, die Ordnungspolizei des Ausschusses. Als sie uns zwischen sich genommen hatten, fragte ihr Anführer in englischer Sprache:

»Ihr seid die Bleichgesichter, die unsern Mister Antonius Paper ins Wasser geworfen haben?«

»Ja, die sind wir«, antwortete Dick Hammerdull lachend.

»So werdet ihr vom Ausschuß bestraft!«

» Pshaw! Wo ist denn dieser vorzügliche Ausschuß?«

»Dort drüben!«

Er deutete nach dem Beratungsplatz.

»So geht hinüber und sagt, wir kommen gleich! Solche Leute muß man sich einmal genau betrachten!«

»Wir sind beauftragt, euch zu verhaften, und gehen deshalb mit euch.«

»Uns verhaften?« lachte er. »Versucht es einmal!«

Er ließ sein Reittier einen Kreis um sich selber schlagen, und wir folgten seinem Beispiel. Die Roten flogen auseinander. Wir aber jagten davon, grad zum Platz hinüber. Sie liefen schreiend hinter uns her. Dort sprengten wir mitten in den Menschenhaufen hinein, daß er auseinanderfuhr und sprangen dann aus dem Sattel.

»Dieser Platz ist gut«, sagte ich, »hier bleiben wir. Herunter mit dem Gepäck!«

»Oho!« rief da eine Stimme hinter mir, »der tut ja, als ob er gar nicht Gefangner sei, sondern hier zu befehlen hätte!«

Ich drehte mich nach ihm um. Es war Herr Antonius Paper, genannt Okih-tschin-tscha. Neben ihm stand William Evening, der Agent für alles.

»Gefangner?« fragte ich, indem ich die Hände nach ihnen ausstreckte und auf sie zuging.

Da verschwanden sie schnell hinter den andern. An ihre Stelle traten sogleich Simon Bell und Edward Summer, die beiden Professoren. Bell machte eine gebieterische Handbewegung.

»Zurück mit Euch! Ich bitte, das Verhältnis zwischen uns und Euch nicht zu verkennen! Ihr seid verhaftet. Ihr habt schon am Nugget Tsil gehört, daß Eure Gegenwart uns störend ist. Sie ist es auch noch heut!«

»Also, wenn jemand Euch störend ist, so haltet Ihr ihn fest! Sonderbar! Diese Art der Logik konnte ich von einem Professor der Philosophie wohl kaum erwarten.«

Da fuhr er mich an:

»Schweigt! Wir verhaften Euch nicht, weil uns Eure Anwesenheit unangenehm ist, sondern weil Ihr es gewagt habt, Euch an einer Person unsres Ausschusses zu vergreifen.«

»Hiebe bekommt er, Hiebe!« rief Antonius Paper.

Pitt Holbers stand bereit, mich zu verteidigen. Dick Hammerdull aber ballte die Faust und drängte auf Paper zu. Dadurch bildete sich eine Lücke zwischen den uns Umringenden und ließ den Blick frei auf zwei Personen, die sich dem Versammlungsort genähert hatten und auf die sich hier abspielende Szene aufmerksam geworden waren. Sie trugen jetzt nicht europäische Kleidungsstücke, sondern indianische Anzüge. Trotzdem erkannte ich sie sofort; es waren Athabaska und Algongka, die beiden Häuptlinge aus dem Hotel am Niagarafall.

»Was tut man hier?« fragte Athabaska, indem er sich an Professor Bell wandte.

»Wir verhaften einige gefährliche Tramps mit ihrer Squaw, die sich an Okih-tschin-tscha vergriffen und ihn ins Wasser geworfen haben. Es wird ein Präriegericht abgehalten werden, um sie zu bestrafen. Wir bitten, an dieser Sitzung teilzunehmen.«

Er hatte im Ton großer Hochachtung gesprochen.

»Wir werden sehn«, nickte Algongka.

Man machte ihnen Platz; sie standen dicht vor uns. Ja, das waren noch Häuptlinge von altem Schrot und Korn! Ihre Gesichter zeigten nicht die geringste Spur von Überraschung. Grad so, als wären wir erst gestern abend auseinandergegangen, gaben sie uns die Hand und wandten sich dann an die Professoren.

»Von Tramps ist hier keine Rede«, versicherte Athabaska. »Das sind Mistreß und Mister Burton, die wir sehr achten und schätzen. Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!«

»Ja, es ist so«, stimmte Algongka bei. »Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!«

»Aber dieser Burton hat mich ins Wasser geworfen!« begehrte Paper auf.

Athabaska mochte ihn schon kennen. Er fragte ihn in halb spöttischem und halb geringschätzendem Ton:

»Habt Ihr Euch gewehrt?«

»Nur wenig«, antwortete er.

»Seid Ihr ertrunken?«

»Nein!«

»Nun, so hättet Ihr Euch gründlicher wehren sollen, wenn Euch das kalte Bad so unangenehm war. Seid froh, daß es Euch nichts geschadet hat!«

Herr Okih-tschin-tscha war abgetan. Professor Summer aber fühlte sich in seiner Würde als stellvertretender Vorsitzender gekränkt. Er als bloßer Theoretiker konnte sich dem Eindruck der kraftvollen Persönlichkeiten dieser beiden durch die schwere, praktische Lebensschule gegangnen Häuptlinge nicht entziehn. Sie zwangen ihm Achtung ab, und das war ihm wohl ärgerlich. Darum versuchte er, ihnen gegenüber sein Ansehn geltend zu machen, indem er sich mit den Worten an sie wandte:

»Ich mache euch darauf aufmerksam, Mesch'schurs, daß es nach unsern Satzungen jedem Weißen verboten ist, sich am Mount Winnetou sehn zu lassen! Und diese Personen hier sind Weiße!«

Er sagte das in ziemlich scharfem Ton. Es klang ganz so, als hätten hier schon gewisse Reibungen stattgefunden, wovon wir noch nichts wußten.

Athabaska richtete sich in seiner ganzen Länge aus. Um seine Lippen spielte ein stolzes Lächeln.

»Darf ich fragen, von wem die Satzungen stammen?«

»Von uns, dem Ausschuß! Wir haben sie aufgestellt, und zwar aus guten, wohlerwognen Gründen!«

»Und von wem stammt dieser Ausschuß? Wer hat ihn eingesetzt? Wer hat ihm die Macht erteilt, Gesetze zu geben und gewaltsam auszuführen? Könnt ihr euch auf die Autorität Gottes oder der Vereinigten Staaten berufen? Ihr seid ein Ausschuß von Old Surehands und Apanatschkas Gnaden, weiter nichts! Ihr habt euch selber gewählt. Nun aber kommen wir, diese Wahl und eure Satzungen zu prüfen!«

Er sprach ernst und stolz wie ein König. Die beiden Professoren wagten nicht, ihm zu widersprechen. Er warf einen Blick rundum und fuhr dann fort:

»Hier ist der Beratungsort, wo sich das Schicksal der roten Völker entscheiden soll. Wer sind nun die Männer, die diese Entscheidung treffen? Ich sehe hier zwanzig Sitze. Fünf davon sind besonders erhöht. Für wen sind diese fünf wohl bestimmt?«

»Für uns, den Ausschuß.«

»Und die andern?«

»Für die Häuptlinge, die zu den Beratungen eingeladen werden.«

»Wie heißen sie?«

Er nannte die Namen. Athabaska und Algongka waren dabei, ferner alle, die mir geschrieben hatten. Athabaska fuhr fort:

»Ich vermisse einen Häuptling, und zwar grade denjenigen, dessen Namen ich am allerliebsten hörte, nämlich Old Shatterhand.«

»Er ist ein Weißer!«

»Und wurde deshalb nicht mit eingeladen?«

»Doch! Wir haben ihn angewiesen, sich die Nummermarke für seinen Platz beim Schriftführer zu holen.«

»Und ihr meint, daß er das tut? Wie einfältig ihr doch seid! Ich sage euch, falls Old Shatterhand wirklich kommt, wird er sich den Platz nehmen, der ihm beliebt, nicht aber den, den ihr ihm bietet! Und wir beide, Athabaska und Algongka, verzichten überhaupt auf die von euch bestimmten Sitze. Wie kommt der Ausschuß dazu, sich höher zu setzen als die alten, berühmten Häuptlinge der eingeladnen Stämme? Wer hat ihn befugt, sich über unsern Sitzen Throne zu errichten? Macht Platz! Wir gehn. Wir gehören nicht hierher!«

Er nahm mich und meine Frau bei der Hand und schritt davon. Die Roten wichen vor uns zurück. Gleich aber blieb er wieder stehn und wandte sich an die Professoren zurück.

»Es ist der größte aller Fehler, grad Bleichgesichter, die unsre Rasse lieben, von den Beratungen am Mount Winnetou auszuschließen. Kein Mensch steigt ohne die Hilfe andrer Menschen empor. So auch die Völker, die Rassen. Streicht euern steinernen Winnetou und euch so rot an, wie ihr wollt, ihr werdet es doch nicht verhüten, daß ihr dann gezwungen seid, über euer törichtes Werk noch tiefer zu erröten!«

Dann richtete er das Wort an mich:

»Ich kenne Eure Gesinnungen und Gefühle für das arme Volk der Indianer. Und dennoch bin ich überrascht, Euch hier zu sehn. Wißt Ihr, worum es sich hier handelt?«

»Ich vermute, daß man Winnetou ein riesiges steinernes oder ehernes Denkmal setzen will.«

»So ist es. Dieser Gedanke geht von Old Surehand und Apanatschka aus, die ihre Söhne gern berühmt wissen wollen. Denn diese sollen das Denkmal errichten. Man setzte einen Ausschuß ein, die Sache zu leiten, und es ergingen Einladungen an alle Stämme der roten Rasse. Diese Angelegenheit wurde mit derselben Geschäftstüchtigkeit behandelt, mit der man hierzulande eine Eisenbahn- oder Ölgesellschaft gründet. Es begann sehr zeitig und sehr still. Man legte vor allen Dingen Beschlag aus die herrliche Gotteswelt, in der Ihr Euch hier befindet. Der Berg wurde Mount Winnetou genannt, und man beabsichtigt, hier eine Stadt zu gründen, die Winnetou City heißen soll und nur von Indianern bewohnt werden darf. Man pumpt in der Nähe schon Öl. Man hat den einen Wasserfall schon in Ketten geschlagen, um Elektrizität zu gewinnen. Dadurch ist mit der Zerstörung des prächtigen Landschaftsbildes und der Entweihung und Beschmutzung aller erhabenen Gedanken unsres großen Tatellah-Satah begonnen. Man fällt den Wald. Man vernichtet ihm durch Steinbrüche, die man in den Felsen schlägt, um Stein für den Bau des Denkmals und der Häuser zu gewinnen. Man will sogar das Wunder dieser Gegend, den zauberhaften ›Schleierfall‹, zuschandenmachen, um Platz für Gebäude zu schaffen, die Alltagszwecken dienen. Das wißt Ihr wahrscheinlich noch nicht; werdet es aber bald erfahren, dies und noch viel mehr.«

Er machte eine Pause, die Algongka zu einer weitern Erklärung benutzte.

»Man gibt vor, durch diesen Denkmalsplan alle roten Stämme vereinen zu können. Man erreicht damit aber grade das Gegenteil. Man entzweit uns mehr und mehr, innerlich und äußerlich. Ihr seht das schon an dem Platz, der vor Euch liegt: hier die Unterstadt und dort die Oberstadt. Hier unten haben sich die Anhänger des Denkmalsplans festgesetzt; droben wohnen seine Gegner, zu denen auch wir gehören. Und ganz oben über uns allen grollt Tatellah-Satah und läßt sich vor niemand sehn. Seit man hier baut, ist er kein einziges Mal herabgekommen und hat auch keinem einzigen Menschen erlaubt, zu ihm hinaufzusteigen. Er verkehrt nur mit den Winnetous, durch die er mit der Menschenwelt in Verbindung steht. Auch wir sahen ihn noch nicht. Wir ließen ihm unsre Ankunft melden; er aber forderte Geduld, bis einer gekommen sei, den er mit Schmerzen erwartet. Dann sei es Zeit für ihn, sein Haus zu verlassen und sich denen zu zeigen, die gleichen Gefühls und gleichen Willens mit ihm sind.«

»Wer mag der eine sein?« fragte meine Frau.

»Das wissen wir ebensowenig wie der Winnetou, der uns diese Botschaft brachte. Aber wir warten, und wir wünschen, daß der Betreffende bald kommen möge. Euer Ziel, Mr. Burton, ist uns unbekannt. Seid Ihr nur aus Zufall hier?«

»Nein«, antwortete ich.

»So war es Eure Absicht, nach dem Mount Winnetou zu kommen?«

»Ja.«

»Und hier zu bleiben?«

»Und hier zu bleiben, bis die Denkmalsfrage geklärt ist.«

»Wo werdet Ihr wohnen? In der Unter- oder in der Oberstadt?«

»Droben bei Euch.«

»So bitten wir Euch, Euer Zelt in unsrer unmittelbaren Nähe aufzuschlagen. Vielleicht erfahren wir dann auch, wer oder was Euch, den Weißen, veranlaßt hat, Eurer Reise grade dieses Ziel zu geben.«

»Oh, das könnt Ihr schon jetzt erfahren! Ich wurde eingeladen, herzukommen. Und außerdem wäre ich auch ohnedies nach dem Mount Winnetou geritten, weil Ihr so viel und so fesselnd nicht nur von diesem Berg spracht, sondern auch von den Plänen, die hier zur Ausführung kommen sollen.«

»Wir? Wir beide?« fragte er.

»Ja, im Clifton-Hotel, am Niagarafall.«

»Dort? Ja, da haben wir Euch zwar kennengelernt, doch nicht mit Euch vom Mount Winnetou gesprochen!«

»Aber ihr untereinander spracht davon. Wir saßen am Nebentisch und hörten ungewollt eure Unterhaltung.«

»Uff, uff!« rief er aus.

»Uff, uff!« rief auch Athabaska. »Wir bedienten uns der Sprache der Apatschen. Wir waren überzeugt, daß dort niemand sie versteht. Ihr aber verstandet uns doch?«

Ich wollte antworten; da aber ertönten von der Oberstadt her laute Rufe. Durch die Zeltgassen ging eine Bewegung, die uns näher kam. Man eilte nach allen Seiten, um eine Botschaft zu verbreiten. Bald erreichte sie auch uns.

»Tatellah-Satah kommt! Tatellah-Satah kommt!« rief man einander zu.

»Nicht möglich!« staunte Algongka.

»Ist es wahr?« erkundigte sich Athabaska. »Dann müßte ja der hier eingetroffen sein, auf den er wartet! Wer ist das? Wer hat ihn gesehn?«

Jetzt erschienen zwei Reiter oder vielmehr zwei Reiterinnen, die aus der Oberstadt im Galopp herabgeritten kamen. Sie überflogen mir ihren Blicken die Unterstadt, sahen den Menschenschwarm; der sich hier gebildet hatte, und lenkten ihre Pferde auf uns zu. Es waren die beiden Aschtas, Großmutter und Enkelin.

Dicht vor uns sprangen sie von ihren Pferden, eilten schnurstracks auf uns zu und begrüßten uns mit rührender, mir beinahe unverständlicher Freude. Aber das Verständnis kam mir sofort, als die Squaw Wakons ihrem Gruß die Worte hinzufügte:

»Nun sind wir erlöst! Und zwar durch Euch, Mr. Burton!«

»Erlöst? Durch mich?« fragte ich.

»Ja, durch Euch! Denn nun ist das Warten zu Ende, und Tatellah-Satah wird mit Taten beginnen. Der Junge Adler kam hier an und ritt sofort zu ihm hinauf, Euch zu melden. Vom Wachtturm wurde ausgeschaut und, als Ihr kamt, das Zeichen herabgegeben. Nun verläßt der größte Medizinmann aller roten Völker zum erstenmal seit langer Zeit sein hohes Felsenschloß, um Euch entgegenzukommen. Das ist ein hochbedeutsames Ereignis!«

Sie drückte mir abermals die Hand und begrüßte darauf herzlich meine Frau, Dick Hammerdull und vor allem unsern alten, schweigsamen Pitt Holbers. Athabaska und Algongka vermochten ihr Erstaunen über den Bericht Aschtas nicht zu verbergen; aber sie fanden keine Zeit, es in Worten auszudrücken, denn es nahte sich von der Oberstadt her ein Reiterzug, der unsre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Voran ritt der Junge Adler. Ihm folgte in zwei Abteilungen die Leibwache des Medizinmanns, auf kohlschwarzen Rossen, deren Satteldecken aus den Fellen von Silberlöwen bestanden. Die Reiter waren auserlesene junge Leute, alle so gekleidet, wie einst Winnetou sich zu kleiden pflegte, nicht mit Lanzen und Flinten bewaffnet, sondern nur mit Messer und Revolver im Gürtel und den Lasso in Schlingen von der Schulter zur Hüfte herab. Ein jeder trug das Zeichen der Winnetous auf der Brust. Als sie in unsre Nähe gelangten, lenkte der Junge Adler zu uns herüber, deutete auf unsre Gruppe und hielt dann an. Auch alle andern machten Halt. Ihre Reihen lösten sich, und aus ihrer Mitte ritt langsam der Gebieter hervor, hielt kurz vor uns sein Tier an und überflog uns mit prüfendem Blick.

Er wurde von einem herrlichen, schneeweißen Maultier getragen, dessen Mähne in langgeflochtnen Zöpfen fast bis zur Erde niederhing. Die Satteldecke bestand aus jenem unvergleichlichen altindianischen Federgeflecht, von dem jedes Teilchen fast ein Vermögen kostet. Die Bügel waren von reinem Gold, inka-peruanisch gearbeitet. Ein Mantel hüllte ihn ein, so daß der Anzug, den er trug, darunter verschwand. Dieser Mantel war von blauer Farbe, aber von einem Blau, wie ich es noch niemals gesehn habe, in der Schattierung mit nichts zu vergleichen. Der Stoff war außerordentlich fein, wie allerfeinste indische Seide; aber es war keine Seide, sondern jenes längst verschwundne sagenhafte Gewebe, von dem man erzählt, daß nur die Frauen der alten südamerikanischen Herrscher es herzustellen verstanden. Der Kopf des Greises war nur von dem reichen, silberglänzenden Haar bedeckt, das zu beiden Seiten in langen Zöpfen bis auf die Steigbügel niederfiel.

»Marah Durimeh!« flüsterte Klara mir zu.

Sie hatte recht. Genau so trug auch meine alte, meinen Lesern wohlbekannte Marah Durimeh ihr Haar. Auch seine Gesichtszüge waren den ihren verblüffend ähnlich. Vor allem die Augen, diese großen, weit offnen, unerforschlichen Augen, in denen der Ausdruck einer unerbittlichen Strenge und doch auch wieder einer heiligen Güte lag, die alles verstehn und alles verzeihen konnte. Und als er zu sprechen begann, erschrak ich fast. Seine Stimme war unbedingt die Marah Durimehs, so voll, so wirkungsstark, ein klein wenig männlicher gefärbt, aber doch genau dieselbe.

»Wer von euch ist Old Shatterhand?« fragte er, indem sein Blick uns prüfte.

Bei seinem Erscheinen war jedermann verstummt, so tief wirkte seine geheimnisvolle, unwiderstehliche Persönlichkeit. Als er aber diesen Namen nannte, flüsterte es rund um mich her:

»Old Shatterhand? Old Shatterhand? Ist doch nicht hier! Kann unmöglich hier sein!«

»Ich bin es«, antwortete ich, indem ich vortrat und langsam auf ihn zuschritt.

Eine Sekunde lang war es, als wollte sein Blick mich verbrennen, dann schwang er sich mit erstaunlicher Leichtigkeit aus dem Sattel, um mir einige Schritte entgegenzukommen und meine Hände zu fassen. So standen wir nun voreinander, ernst und doch voll inniger Freude. Auge in Auge. Fest ineinandergetaucht; uns beide der Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks bewußt. Da begann er wieder zu sprechen.

»Man sagte mir, du seist ein Greis geworden. Du bist keiner! Das Menschenleid kann greisenhaft werden, doch nie die Menschenliebe, die uns vereint, obgleich ich dich seit kurzem erst verstehe. Ich heiße dich willkommen!«

Er ergriff meine Hand und wandte sich an die Schar der Anwesenden.

»Ich bin Tatellah-Satah, und hier an meiner Seite steht Old Shatterhand. Das sind die Namen, mit denen man uns nennt. In Wahrheit aber sind wir mehr. Ich bin die Sehnsucht der roten Völker, die, nach Osten schauend, auf Erlösung warten. Und er ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert, um uns die Zukunft zu bringen. So soll ein jeder Mensch zugleich auch die Menschheit bedeuten, und was ihr hier an meinem Berg tut, mag es recht oder unrecht sein, das tut ihr nicht für euch und nicht für den heutigen Tag, sondern für Jahrhunderte und Jahrtausende und für die Völker aller Erdenländer.«

Und das Wort nun wieder an mich richtend, fuhr er fort:

»Steig auf dein Pferd und folge mir! Du bist mein Gast! Was mein ist, sei auch dein!«

»Ich bin nicht allein«, zögerte ich.

»Ich weiß es. Es wurde mir vom Nugget Tsil gemeldet. Bring mir die Squaw, von der meine Späher sagen, sie sei wie Sonnenschein! Bring mir auch die alten, treuen Trapper!«

Ich holte meine Frau. Wie ich sie kannte, erwartete ich, daß sie sich vor dem Greis tief verneigen würde! Doch er kam ihr zuvor, faßte sie bei den Händen und blickte ihr lange in die Augen.

»Wer bist du? Bist du Nscho-tschi, die Hoffnung der Apatschen, die nach Osten in die Städte der Bleichgesichter ging und nicht wiederkehrte? Oder ist sie nun endlich dock zurückgekommen, zurückgekommen in dir? Willst du uns Nscho-tschi, willst du uns Schwester sein? Dann sollst du mir tausendmal willkommen sein, mir und meinem Volk!«

Klara war nicht fähig, ein Wort zu erwidern, so stand sie unter dem Eindruck dieser gewaltigen Persönlichkeit. Er ließ ihre Hände frei.

»Steig auf!« bat er.

Sie gehorchte, da Dick Hammerdull inzwischen ihr Pferd gebracht hatte. Hierauf bekamen auch die beiden Westmänner einen gütigen Händedruck mir der Bitte, sich uns mit dem Gepäck anzuschließen. Bevor Tatellah-Satah selber wieder aufstieg, hielt ich es für geraten, ihm zunächst unsre Freundinnen, die beiden Aschtas, und dann auch Athabaska und Algongka vorzustellen. Er gewann sich ihre Herzen sofort durch die Art und Weise, in der er das entgegennahm. Dann schwang er sich wieder auf sein Maultier und geleitete uns zu seinen Begleitern, die mit uns in derselben Ordnung davonritten, in der sie gekommen waren: voran der Junge Adler, dann die Hälfte der Winnetous, hierauf Tatellah-Satah mit Klara und mir, hinter uns die zwei Westmänner mit den Gepäckmaultieren, und dann die andre Hälfte der Leibwache. So ging es aus der Unterstadt hinauf in die Oberstadt und dann dem Innental zu, das ich als Pforte des Mount Winnetou bezeichnet habe. Überall, wo wir vorüberkamen, standen ehrfurchtsvoll die Indianer, ihrem größten und berühmtesten Forscher und Gelehrten in ihrer stillen und doch so beredten Art und Weise ihre Huldigung darzubringen. Es war, als zöge ein König, ja ein Heiliger an ihnen vorüber.

Als wir die von Zelten besetzte Vorebene des Mount Winnetou hinter uns hatten, öffnete sich die massige Front des Vorderbergs zu einem hohen, breiten Felsentor, das in ein Tal, mitten ins Innere des Bergblocks, führte. Die Wände dieses Tals stiegen hoch an und waren bewaldet.

»Bevor wir hinauf zum ›Schloß‹ reiten, führe ich euch zu meinem Wunder«, sagte Tatellah-Satah. »Ich meine den Schleierfall, der wohl kaum seinesgleichen haben wird. Ihr werdet vorher noch andres sehn – die sagenhaften ›Ohren des Teufels‹ und den Entwurf zum Winnetou-Denkmal, an dem Young Surehand und Young Apanatschka arbeiten.«

Ich antwortete nicht; ich blieb still. Ich tat, als ob mich diese ›Ohren des Teufels‹ gar nichts angingen. Aber ich dachte im stillen an das ›Ohr des Manitou‹ im Talkessel der Teufelskanzel und an den ›Fels der Verschwiegenheit‹, von wo aus wir die Häuptlinge der Sioux und der Utahs belauscht hatten. Meine Frau schaute mich an. Sie war der Meinung, daß es meine Pflicht sei, mich über diesen Gegenstand zu äußern. Ich aber schüttelte nur leicht den Kopf.

Der Boden, auf dem wir ritten, glich keineswegs einem Wildnispfad, sondern mehr einer alten, jämmerlich ausgefahrnen deutschen Dorfstraße, auf der schwere Lastwagen verkehren. Es gab tief eingeschnittene Wagengleise und Pferdespuren, die darauf schließen ließen, daß hier große Lasten vielleicht nicht ohne Tierquälerei geschleppt worden waren. Als ob sie meine Gedanken ahnte, äußerte meine Frau soeben die gleiche Ansicht, und ich stimmte ihr zu. Tatellah-Satah war still. Aber seine Brauen zogen sich zusammen, und sein Gesicht wurde streng.

Dieser Fahrweg führte bergan, jedoch nur in sanfter Steigung. Bald zweigte links ein breiter Reitweg ab, der bedeutend steiler war.

»Unser Weg hinauf zum Schloß«, erklärte der Alte. »Wir bleiben aber zunächst noch unten: wir reiten weiter.«

Nach vielleicht einer Viertelstunde mündete das Tal plötzlich auf einen freien Platz, der schmal begann, aber nach und nach immer breiter wurde. Mit dieser Ausdehnung wuchs die Steilheit der Felsen. Sie zeigten zu beiden Seiten unsres Wegs je einen nicht genau kreisförmigen Einschnitt. Beide Einschnitte lagen einander wie abgemessen gegenüber. Sie bildeten gleichsam riesige Felsennischen.

Es fiel mir auf, daß die eine so tief und breit und auch genau so abgerundet war wie die andre. Ich gewann den Eindruck, daß hier zwar die Natur die Schöpferin gewesen war, daß aber die Menschenhand nachgeholfen hatte, und zwar vor mehreren Tausenden von Jahren. Daß diese Menschenarbeit nicht nur einen besondern Zweck, sondern auch einen tiefern Sinn gehabt hatte, war mir ohne weiteres klar. Ich hatte meine eignen Gedanken hierüber, zumal mir ein Umstand in die Augen fiel, der mich sofort an die Teufelskanzel in Colorado erinnerte. Im vordern Teil der beiden Nischen bestand der Boden aus sehr fest zusammengefügten Steinplatten, die keinen Pflanzenwuchs aufkommen ließen. Und über diese Platten erhob sich in beiden Halbkreisen ein kanzelartiger Felsen, der einer kleinen, frühern Insel glich und Stufen hatte. Das gemahnte sofort an jene Beratungskanzel, auf deren Stufen ich die kleinen Hundepfötchen gefunden hatte, ein Stück der Medizin des alten Kiktahan Schonka. Der hintere Teil beider Nischen aber war derart mit Gestrüpp und Bäumen besetzt, daß man sich hinter diesen Büschen leicht eine zweite Kanzel denken konnte, ähnlich dem ›Fels der Verschwiegenheit‹, wo der Bär sein Lager aufgeschlagen hatte und von uns erlegt worden war. Wenn man nicht tiefer dachte, konnte man also sehr wohl auf den Gedanken kommen, daß jede dieser Nischen eine Wiederholung des ellipsenförmigen Talkessels bedeute, der uns als die Teufelskanzel bekanntgeworden war.

»Das sind die ›Ohren des Teufels‹, auf dieser Seite eins und auf der andern Seite eins«, unterbrach Tatellah-Satah jetzt das Schweigen. »Ich werde dir vielleicht später ausführlich davon erzählen.«

Der Platz, auf dem wir uns befanden, war jetzt noch von über tausendjährigen, breitwipfligen Laubbäumen besetzt, die uns die Aussicht versperrten; doch als wir an ihnen vorüber waren, wurde der Blick in die Ferne frei. Unwillkürlich hielten wir unsre Pferde an, denn das, was wir sahen, fesselte uns mächtig.

»Das ist das Wunder, von dem ich sprach, der Schleierfall«, sagte der Medizinmann, indem er vorwärts deutete.

Wir konnten nunmehr den Abschluß des breiten Platzes vollständig übersehn. Da oben, aber für uns unsichtbar, weil wir uns in der Tiefe befanden, lag der bereits erwähnte Geheimnis- oder Medizinensee. Von ihm aus senkte sich die Höhe steil zu uns herab, genau lotrecht, und zwar in ihrer ganzen Breite. Ich habe schon erwähnt, daß dieser See zwei Wasserfälle speiste, die zu beiden Seiten des Mount Winnetou niederfielen und den Weißen Fluß bildeten. Aber diese Fälle stellten nicht die einzigen Abflüsse des Sees dar, sondern es gab noch einen dritten, eben den Schleierfall. Während der See rechts und links von dem Bergstock die beiden schmalen Fälle speiste, lief er in der Mitte breit über, von einer bis zur andern Seite des Platzes, auf dem wir uns unten befanden. Die Randlinie dieses Falls war vollständig grad, so daß das Wasser gleichmäßig verteilt, glatt und ungebrochen, wie ein geschliffner Spiegel, ins Tal niederstürzte.

Das war allerdings fast wie ein Wunder! Beachtlicher aber für mich war es, daß dieser Fall unten nicht etwa wieder einen See bildete, sondern sofort spurlos in der Erde verschwand.

»Wo sieht man dieses Wasser wieder?« fragte ich Tatellah-Satah.

»Im Tal der Höhle, vier Reitstunden weit von hier«, antwortete er.

Das war mir überraschend, denn dieses Tal der Höhle war ja der Ort, an dem sich Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten verstecken wollte. Tatellah-Satah fuhr fort:

»Um diese Tageszeit ist der Fall wie von Gold und Edelsteinen gewebt, nicht aber ein Schleierfall. Doch schaut ihn Euch später an! Des Abends oder des Nachts, im Dunkel, im Halbdunkel, im Mondschein, im Sternenlicht! Da ist es, als befände man sich vor seiner erhabnen Schönheit in einer andern Welt, nicht aber auf dieser Erde, der nichts mehr heilig gilt!«

Er deutete dabei auf ein im Entstehen begriffnes Bauwerk, das in kurzer Entfernung vor dem Wasserfall zum Himmel strebte, als wolle es mit Absicht dieses Wunder entweihen. Es bestand jetzt aus einem ungeheuer schweren, massigen Sockel von zehn übereinander liegenden Riesenstufen, die so breit und hoch waren, daß ihr Gewicht sicherlich viele Tausende von Zentnern betrug und jedenfalls darauf berechnet war, ungeheure Lasten zu tragen. Auf diesem Sockel erhoben sich zwei Balkengerüste, mit deren Hilfe an dem untern Teil eines Riesenstandbildes gearbeitet worden war. Das eine Bein war bis zum Knie, das andre bereits bis zur Hälfte des Oberschenkels entwickelt. Man sah deutlich, daß die Figur eine indianische Reithose und Mokassins tragen sollte.

»Welch eine Sünde!« klagte meine Frau. »Ein Bauwerk von Menschenhand grad vor so ein Gotteswunder zu stellen! Wer ist der Mann, der das ersonnen hat?«

»Es ist nicht einer, sondern es sind vier!« antwortete Tatellah-Satah. »Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne!«

»Was?« rief ich aus. »Soll diese Figur hier etwa Winnetou werden?«

Der Medizinmann nickte nur.

»Unmöglich! Hierher? Ich denke, man will ihn auf die Höhe des Berges stellen!«

Seit wir uns in diesem Tal befanden, waren wir nicht mehr in der Mitte, sondern an der Spitze der Wache geritten. Der Junge Adler befand sich also bei uns. Er gab Auskunft.

»Das ist richtig. Die endgültige Figur soll auf den hohen Bergvorsprung, den ich Euch noch zeigen werde. Der Entwurf steht in der Unterstadt in einem besondern Gebäude.

Dieses hier ist ein Mittelding, ein kostspieliger Versuch, den Old Surehand und Apanatschka aus ihren Taschen bezahlen, ein Opfer der Eitelkeit, das sie ihren Söhnen bringen. Sie wollen damit die Kinder der roten Rasse für den eigentlichen Denkmalsbau begeistern, der dann auch aus vielen tausend Einzelbeträgen bestritten werden soll. Man will die Sache durch ein Probestandbild schmackhaft machen, das nachts mit Lampions und Feuerwerk die Schaulustigen begeistern soll. Und dabei rechnet man auf die großartige Mitwirkung des Schleierfalls.«

»Und das duldet ihr?« fragte meine Frau, die in Dingen des Stilgefühls empfindlich ist.

»Ich nicht!« antwortete Tatellah-Zatah, indem er wie schwörend die Hand erhob. »Doch stand ich allein. Ich konnte nur vorbereiten und mußte warten. Nun aber der gekommen ist, aus den ich hoffte, lege ich ihm dieselbe Frage vor: Und das duldest du?«

Damit meinte er mich. Etwas ganz Eigentümliches stieg in mir auf.

»Habe ich Einfluß auf dein Volk, auf deine Rasse?« fragte ich. »Nein!«

»Nein?« fragte er zurück. »Du irrst. Old Shatterhand ist manchem Roten ein Vorbild. Ich brauche dein Auge; ich brauche dein Ohr; ich brauche deine Hand: ich brauche dein Herz. Wenn du mir das gibst, so werde ich siegen.«

Da reichte ich ihm die Hand.

»Hier Auge und Ohr, hier Hand und Herz. Ich bin dein!«

Er drückte mir kräftig die Hand.

»So heiße ich dich zum zweitenmal und noch ganz anders als vorher willkommen! Du sollst mein Gast sein, wie es noch niemand zuvor gewesen ist –«

Rasch unterbrach ich ihn:

»Laß mich dein Gast sein, wie ich es wünsche, anders nicht!«

»Und was wünscht du?«

»Ein freier Mann zu sein, kommen und gehn zu dürfen, ohne gehindert zu werden; Vertrauen bei dir zu finden, so wie du dir selber vertraust!«

»So sei es! Du bist dein eigner Herr, und alles, was ich habe, ist dein.«

Da kam es wieder über mich, wie vorhin. Ich deutete auf das schwer lastende Bauwerk.

»So sage ich dir: Eher werden diese Quader von selbst in der Erde verschwinden, auf die man sie gegründet hat, als daß man Winnetou mit Lampions und Feuerwerk verkitscht! Doch versuchen wir es zunächst in Liebe!«

»Ja, zunächst in Liebe«, stimmte er bei. »Kommt, kehren wir um; wir sind hier fertig!«

Wir ritten den Weg, den wir gekommen waren, zurück, bis wir die Stelle erreichten, wo der Reitpfad zur Seite abbog und hinauf nach dem Schloß führte. Dem folgten wir. Unterwegs erfuhren wir von dem Bewahrer der großen Medizin, daß der Platz am Schleierfall jetzt ständig von Arbeitern wimmle und heut nur deshalb so leer und einsam gewesen sei, weil alle Kräfte nach den Steinbrüchen mußten, neue Quader zu holen.

Bald hatten wir eine Stelle des Wegs erreicht, von wo aus man frei nach der Spitze des Vorbergs zu schauen vermochte. Da hielt Tatellah-Satah sein Maultier an und deutete empor.

»Seht ihr innerhalb der südlichsten Felsennadel das riesige Adlernest, das für Menschen nicht erreichbar scheint?«

Wir sahen es. Der Medizinmann fuhr fort:

»Dort hinauf stieg der Junge Adler, als er noch ein Knabe war. Er wollte sich aus dem Horst des großen Kriegsadlers seinen Namen und seine Medizin holen. Aber der Lasso war viel zu kurz, und so sprang er ins Nest und konnte nicht wieder hinauf. Er tötete die zwei Jungen. Da kam die Alte. Er kämpfte mit ihr und zwang sie, ihn aus jener fürchterlichen Höhe hinunter ins Tal zu tragen. Nun sind ihre Federn, ihre Krallen und ihr Schnabel sein Schmuck, die Krallen und Schnäbel der Jungen aber seine Medizin. Er wird seitdem der Junge Adler genannt. Ich aber bin sein Pate, denn als er mit der Adlerin geflogen kam, saß ich vor meiner Tür, und er landete grad vor meinen Füßen.«

Das klang wie ein Märchen, wie eine Übertreibung, und doch mußte es wahr sein; denn dieser ehrwürdige Greis wog seine Worte bestimmt sorgsam ab. Der Junge Adler hatte es nicht gehört: er war weitergeritten, und wir folgten ihm, ohne daß ich den Alten bat, uns den Vorgang ausführlicher zu erzählen. Ich war überzeugt, daß er, wenn es sich mit seinen Absichten vertrug, von selber darauf zurückkommen würde.

Der Reitweg führte in zahlreichen Windungen und Kehren an der Innenseite des Bergs empor, bis die Höhe des Schlosses erreicht war. Dann wandte er sich nach der vordern, also der östlichen Seite des Berges der Medizinen, von wo aus wir nun die Ober- und die Unterstadt in der Tiefe vor uns liegen sahen. Von dort unten war der Junge Adler hier heraufgeritten, Tatellah-Satah unsre Ankunft zu melden. Hoch über uns ragte der Wachtturm. Der Bewahrer der großen Medizin deutete hinauf und sagte zum Jungen Adler:

»Da oben wirst du wohnen. Jetzt aber kommst du mit uns, die Pfeife des Friedens und der Gastlichkeit zu rauchen!«

Das Schloß bestand nicht etwa aus nur einem oder einigen Gebäuden. Es bildete eine Felsenstadt für sich. Die Jahrhunderte und Jahrtausende hatten an ihr gebaut. Darum waren alle amerikanischen Bauarten und Baustile hier vertreten, von dem erstbewohnten Felsenloch und der ersten Kordillerenhütte bis zur altperuanischen Festung, zum altmexikanischen Versammlungshaus und zum steinernen Wigwam nördlicher Gegenden. Es gab gewaltige Felsen- und Luftziegelwerke nach Art der Pueblostämme. Sie wurden, wie ich später sah, als Vorratshäuser benutzt, worin seit undenklichen Zeiten große Mengen von Getreide und getrockneten Nahrungsmitteln aufbewahrt wurden, ohne zu verderben. Da ragten Mauern, die aus noch größern Riesensteinen bestanden, als ich zum Beispiel in Baalbek und andern berühmten orientalischen Orten gesehn hatte. Wir ritten an allen möglichen indianischen Zelten, Hütten, Häusern, Palästen, Balkonen, Veranden, Dächern, Tennen, Scheunen und Schuppen vorüber, die sich wie ein langgestrecktes, festes Mauerband um die Höhe des Bergs legten und als steinerne Grüße aus uralter Zeit hinunter in die Tiefe schauten, wo in der Ober- und Unterstadt das kleine Volk der Gegenwart sich mit allen Kräften dagegen wehrte, endlich einmal größer zu werden. Aber so aufrichtig ich die rote Rasse liebe und so gern ich nur Gutes, Edles und Großes von ihr berichten möchte, so muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben und darum offen bekennen, daß alle diese Bauwerke trotz ihrer teilweisen Riesenhaftigkeit mir doch so niedrig und so geistlos vorkamen, daß sie mich nicht erfreuen konnten. Sie machten alle einen so – so – – indianischen Eindruck auf mich. Es war nichts daran, was zum Himmel strebte. Wir sahen nur wenige Fenster. Es gab kein Verlangen nach freier, gesunder Luft, nach Licht und Tageshelle. Und es gab unter allen diesen Gebäuden kein einziges, das gleich einer Kirche oder einer Moschee empor zur Höhe wies. Der Wachtturm bildete scheinbar die einzige Ausnahme; aber nur scheinbar. Sein Zweck deutete doch auch nur nach unten. Er war zur Beherrschung der Tiefe da, nicht aber als Fingerzeig für ein geistiges Aufwärtsstreben.

Diese Beobachtung tat mir weh. Und meiner Frau auch; das sah ich ihr an. Hier lag das ungeheure Leid einer ganzen, großen, fast untergegangnen Rasse in untrüglichen, steinernen Beweisen vor unsern Augen! Selbst der Wachtturm hatte nicht eigentlich Turmgestalt, sondern er bildete einen massigen, vierseitigen Würfel mit vollständig ebener Dachfläche. Die Indianer haben keine Türme, keine Minaretts. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Wer das nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder Einzelwesen. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird darin so gänzlich verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrigbleibt. Das ist das Schicksal des Indianers, wenn er nicht im letzten Augenblick noch lernt, aufwärts zu streben.

Dieser Eindruck des Felsenschlosses wurde nur dadurch gemildert, daß es wohlbevölkert war. Überall standen Leute, auf den Zinnen, auf den Tüchern, an den Luken, vor den Türen, auf den Gassen; Männer, Frauen und Kinder. Die Männer genau wie Winnetou gekleidet, mit dem Stern auf der Brust, auch die Frauen sauber und geweckten Auges, die Kinder ebenso. Nirgends die gleichgültigen, stumpfen Gesichter, denen man anderwärts unter den Roten so oft begegnet. Ich sah nur heitere Mienen. Man freute sich. Man lachte. Tatellah-Satah wurde mit ehrenden Zurufen und achtungsvollen Handbewegungen begrüßt. Man widmete ihm die größte, die aufrichtigste Ehrfurcht, und – man liebte ihn. Mit sichtlicher Wißbegier waren die Augen auf meine Frau und mich gerichtet, denn alle wußten, wen der Bewahrer der großen Medizin in eigner Person abgeholt halte. Man nannte meinen Namen; man rief ihn mir jubelnd zu; denn man hoffte zuversichtlich, daß nun die so lange hinausgezögerte Abwehr beginnen werde.

»Und das ist seine Squaw!« hörte ich sagen.

Ich erwähne, daß das Wort Squaw nicht etwa einen geringschätzenden Beigeschmack besitzt. Es gibt Romanschriftsteller, die die Indianerfrauen als rechtlos, als die Sklavinnen ihrer Männer schildern. Das ist grundfalsch. In Wahrheit hat es schon Indianerfrauen gegeben, die Häuptlinge gewesen sind. Die Stellung der Frau wird besonders auch dadurch erhöht, daß die Erbfolge sich meist in weiblicher Linie vollzieht. Dem Verstorbnen folgt nicht sein eigner Sohn, sondern der Sohn seiner Schwester. Es war also keineswegs etwas Ungewöhnliches, daß man meiner Frau dieselbe Aufmerksamkeit schenkte wie mir.

Wir ritten nun durch das breite, tiefe Tor des eigentlichen Schlosses, dessen Außenmauer durch schmale, schießschartenförmige, aber sehr hohe Öffnungen unterbrochen wurde. Jede dieser Öffnungen führte auf einen steinernen Balkon, von dem aus man die ganze Vorebene des Mount Winnetou überblicken konnte. Durch dieses Tor gelangten wir in einen geräumigen Hof, wo uns ein zweites, ähnliches Gebäude gegenüberstand. Auch dieses hatte ein Tor, das in einen zweiten Hof, zu einem dritten Gebäude führte. So stieg eine ganze Folge von miteinander abwechselnden Höfen und Gebäuden in einer Felsspalte empor, die unten sehr breit war, sich aber nach oben immer mehr verengte. Demgemäß waren auch die Gebäude und Höfe unten breit und wurden dann um so schmäler, je höher sie lagen. Die Seiten der Höfe wurden von den beiden Wänden der Felsspalte gebildet, an denen entlang hüben und drüben tief eingehauene Pfade zum Wald emporführten. Dort weideten die kostbaren Pferde des berühmten Medizinmanns.

Im untersten, größten Hof stiegen wir ab. Tatellah-Satah führte uns ins Haus, meine Frau, mich und den Jungen Adler. Niemand durfte uns folgen. Er geleitete uns über Stufen empor zu einem großen, hohen Raum, in dessen Mitte eine von sechs ungeheuren Grislybären getragne Platte stand. Darauf lagen wohl über ein Dutzend Friedenspfeifen mit allem Zubehör. Hier wurden im allgemeinen die Gäste empfangen; uns aber führte er weiter, durch eine ganze Reihe der verschiedensten Räume, bis wir an einen ledernen, schön gegerbten und bemalten Vorhang gelangten, den er mit der Aufforderung zurückschlug:

»Tretet ein und setzt euch nieder; gleich bin ich wieder da!«

Wir folgten seiner Aufforderung und sahen uns bewundernd um, denn wir befanden uns in einem kleinen, augenscheinlich mit großer Liebe behüteten Heiligtum. Zwei mit Glas verschlossene Luken spendeten helles Licht. Das Ganze war als Zelt eingerichtet, und zwar als Friedenszelt, dessen Bahnen abwechselnd aus den höchst seltnen Fellen des weißen Bibers und des weißen Präriehuhns bestanden. Vier ebenfalls weiße Büffelfelle lagen am Boden, derart angeordnet, daß sie weiche Sitze bildeten, während die Köpfe mit den starken Hörnern als Ellbogen- und Rückenstützen dienten. Dazwischen trugen vier Jaguarköpfe eine große, glänzend geschliffene Schale, die aus dem heiligen Pfeifenton des Nordens geschnitten war. Darauf lag ein Kalumet. Es war nicht groß, nicht kostbar, eher unscheinbar und zog durch nichts den Blick auf sich. Und doch erkannte ich es sogleich als die wertvollste und unschätzbarste Friedenspfeife, die es für diese Menschen hier geben konnte.

»Winnetous Pfeife!« rief ich aus. »Die Pfeife, die er trug, als ich ihn kennenlernte! Welch eine Überraschung!«

»Erinnerst du dich so genau?« fragte Klara. »Ich meine, seit damals ist doch sehr viel Zeit verstrichen.«

»Ich irre mich nicht.«

»So muß ich diese Pfeife betrachten.«

Sie wollte hintreten und zugreifen.

»Halt!« bat ich. »Rühre nichts an! Ich sehe, hier ist ein heiliger Ort; den haben selbst Freunde, wie wir, zu achten.«

Ich führte sie zu einem der Fenster. Wir hatten die Ebene mit ihren Zelten und Blockhäusern unter uns liegen. Es schienen soeben wichtige Personen angekommen zu sein; das merkten wir an der allgemeinen Bewegung. Wir fanden aber keine Zeit zu weiterer Beobachtung, denn Tatellah-Satah kam zurück. Er hatte den Mantel abgelegt, und nun sahen wir, was für ein Gewand er darunter getragen hatte: einen einfachen indianischen Anzug von weichgegerbtem, naturfarbnem Leder, ohne eine Spur von Verzierung, von Stickerei oder sonstigem Schmuck.

Er nahm zunächst Klara bei der Hand und bat sie, sich ihm gegenüber niederzulassen. Ihm zur Rechten war mein Platz und zur Linken der des Jungen Adlers. Hammerdull und Holbers waren unten bei den Pferden geblieben. Nach kurzer Pause begann Tatellah-Satah zu sprechen.

»Mein Herz ist tief bewegt, und meine Seele kämpft mit dem Leid vergangner Zeiten. Als zum letztenmal hier an dieser Stelle das Kalumet geraucht wurde, war es ein Rauch des Abschieds. Hier, wo jetzt unsre weiße Schwester sitzt, saß Nscho-tschi, die schönste Tochter der Apatschen, die Hoffnung unsres Stammes; hier, wo jetzt Old Shatterhand sitzt, saß Winnetou, mein Liebling, den keiner so kannte wie ich; hier, am Platz des Jungen Adlers, saß Intschu tschuna, der kluge und tapfre Vater dieser beiden. Sie waren gekommen, Abschied von mir zu nehmen. Nscho-tschi wollte nach dem Osten, in die Städte der Bleichgesichter, um ein Bleichgesicht zu werden. Im Innern meines Auges standen Tränen. Die Trägerin aller unsrer Wünsche und Hoffnungen verließ uns, weil ihre Liebe uns nicht mehr gehörte. Es war ein trüber Tag; draußen heulte der Sturm, und in meiner Seele war es dunkel. Sie gingen. Nscho-tschi kehrte nicht zurück. Sie wurde mit ihrem Vater ermordet. Nur Winnetou kam. Ich haderte mit ihm. Ich zürnte dem, um dessentwillen die Tochter unsers Stammes sich von uns gewendet hatte. Da legte Winnetou sein Kalumet in diese Schale und schwur, daß er diese Pfeife nicht eher wieder berühren werde, als bis ich erlaube, daß sein Bruder Shatterhand sich hier zu uns setze und den Gruß des Friedens mit uns rauche. Er war noch oft bei mir. Er wohnte und arbeitete monatelang im Felsenschloß; nie aber hat er dieses Zelt wieder betreten, und nie hat es ein Unberufener betreten dürfen. Nur sein Schwur saß hier und wartete, wartete lange Zeit. Winnetou starb. Er starb am Herzen Old Shatterhands. Ich zürnte mehr als vorher. Mir schien, als sei die Zukunft der Apatschen mit ihm gestorben. Ich war der Bewahrer der Medizinen; ich verfolgte die einstigen und ahnte die kommenden Geschicke unsrer Rasse. Ich hatte diese Rasse vom Untergang, vom Tod retten wollen. Ihre Seele sollte erwachen, in Winnetou, dem gedankentiefsten, dem edelsten der Indianer. Nun war er tot, und die Seele seiner Rasse war gestorben. So glaubte ich, ich Tor!«

Er hielt inne, schaute eine kleine Weile durchs Fenster, das ich geöffnet hatte, und fuhr dann fort:

»Es kamen helle, sonnige Tage. Die Stimme des Lebens drang wieder zu mir herein. Und wo ich sprechen hörte, sprach man von Winnetou. Er lebte. Er kam vom Hancockberg, wo er erschossen wurde, über Prärien, Täler und Berge in seine Heimat zurück. Seine Taten wachten auf. Seine Worte wanderten von Zelt zu Zelt. Seine Seele begann zu sprechen, zu predigen. Sie schritt durch die Täler. Sie stieg auf die Berge. Sie kam zu uns herauf, zum Berg der Medizinen. Sie kam zu mir herein, und als ich sie erkannte, da war es zwar die Seele Winnetous, zugleich aber auch die Seele seines Stammes, seines Volkes, seiner Erben. Sie ließ sich bei mir nieder. Ich hörte sie täglich und stündlich. Durch alle Türen, durch alle Luken, durch alle Öffnungen drang der Name Winnetou zu mir herein. Er war im Mund aller roten Völler. Er wurde zur hohen Flamme, die über die Savannen und über die Berge leuchtet. Wer Gutes, Reines und Edles wollte, der sprach von Winnetou. Wer nach Hohem, nach Erhabnem trachtete, der redete von ihm. Winnetou wuchs zum Vorbild. Er ist die erste geistige Liebe seiner Rasse. Ich lernte vieles verstehn, was ich früher nicht begreifen konnte. Ich lernte still und ruhig sein, wenn ich oft und immer wieder Old Shatterhand neben Winnetou nennen hörte. Ich stieg zu der Erkenntnis empor, daß diese beiden unzertrennlich sind im großen Menschheitsgedanken. Trat ich dann in Stunden innern Kampfes in dieses Zelt, worin ich jetzt zu euch spreche, so sah ich Winnetou im Geist vor mir stehn, wie er das Kalumet in die Schale legte und seine Hand zum Schwur erhob, es ohne seinen Bruder Shatterhand nicht wieder zu berühren.«

Wieder machte er eine Pause. Wir hörten ferne Stimmen durch das offne Fenster klingen. Sie stiegen von der Stadt herauf. Es waren Begrüßungsrufe. Tatellah-Satah erhob sich und schaute hinab.

»Es sind Häuptlinge angelangt; sie tragen den Federschmuck. Näheres werden wir bald erfahren.«

Dann trat er wieder auf uns zu und sprach weiter.

»Nie habe ich so deutlich wie jetzt, in diesem Augenblick, gefühlt, daß Winnetou noch lebt. Old Shatterhand kam über Land und Meer herüber, und es geht von ihm eine geheimnisvolle Bestätigung der frohen Gewißheit aus, daß es für seinen roten Bruder nicht die alten, sagenhaften Ewigen Jagdgründe gibt, die nur für die blinde, dumpfe Menge erfunden waren. Ich habe Old Shatterhand geschrieben und ihn gebeten zu kommen, um seinen Bruder Winnetou zu retten. Aber ich bin überzeugt, daß Old Shatterhand sehr wohl weiß, von wem diese Bitte eigentlich ausgegangen ist: nicht von Tatellah-Satah, sondern von Winnetou, von der Seele der roten Rasse, die von ihren eignen Söhnen niedergerungen und erstickt werden soll. Sie will empor! Sie will fliegen lernen! Sie will nicht nur essen und trinken und dabei darben, sondern sie will mehr. Sie will teilhaben an allem, was Manitou der ganzen Menschheit gab, nicht nur einzelnen Völkern. Sie will nicht länger Kind bleiben, denn wehe dem Volk, das sich sträubt, mündig zu werden! Sie will wachsen. Da aber eilt die Torheit der Unverständigen herbei, dem Kind vorzulügen, daß es ein Mann, ein Held sei, und verführt es, diese Lüge auch noch in Erz und Marmor zu verewigen. Das ist eine grobe Täuschung, das heißt, die eigene Rasse zu blinder Selbsttäuschung verführen. Das kann Tatellah-Satah nicht dulden, und das darf auch Old Shatterhand nicht dulden! Ich bin so froh, daß er gekommen ist, uns seine Hand zu bieten. Er sitzt zu meiner Rechten, wie damals Winnetou. Mir drängt sich die Vorstellung auf, er sei wirklich Winnetou und unsre weiße Schwester sei tatsächlich Nscho-tschi, der Liebling unsres Volks. Ich bin Tatellah-Satah, der Bewahrer der großen Medizin. Ich heiße euch willkommen. Ich fühle tief in mir die Nähe dessen, den ich liebte, wie ich keinen andern geliebt habe. Er sehe und höre, daß heut sein Herzenswunsch in Erfüllung geht. Old Shatterhand ist hier. Ich habe ihn gehaßt; nun aber liebe ich ihn. Er sei mein Bruder, wie ich der seine bin. Das Kalumet unsres Winnetou soll es bezeugen!«

Er griff nach der Pfeife, stopfte, setzte sie in Brand, tat die ersten sechs Züge, blies den Rauch nach oben, nach unten und nach den vier Himmelsrichtungen, sprach die gebräuchlichen Formeln dazu und reichte dann mir die Pfeife.

Ich stand auf.

»Ich grüße meinen Winnetou, und ich lausche dem Erwachen seines Volks. Ich war stets er, und er war stets ich. So sei es auch heut, und so bleibe es immerdar! Damit genug der Worte; wir wollen handeln! Die Zeit ist reif dazu!«

Hierauf tat ich dieselben sechs Züge und gab dem Medizinmann das Kalumet wieder. Er reichte es Klara.

»Nimm auch du es hin! Nscho-tschi spreche jetzt zu uns aus deinem Mund!«

Das war eine große Ehre. Ich freute mich darüber, doch nicht ohne eine kleine Bangigkeit. Sie sollte sprechen! Was würde sie sagen? Und sie sollte rauchen! Den scharfen, mit Sumach vermischten Tabak! Sie sah mich an und las in meinen Augen die Warnung: ›Herzle, ich bitte dich um Gottes willen, mache dich und mich nicht lächerlich!‹ Sie aber schaute ernst und zuversichtlich drein, nahm die Pfeife und stand auf.

»Ich liebe Nscho-tschi, die Tochter der Apatschen. Ich kam an ihr Grab und fühlte, daß da kein Tod, ich meine, kein Abschluß für immer sei. Nur Überflüssiges verwest; alles andre aber bleibt. So wie sie, schwand auch dein Volk; seine Seele aber blieb. Diese Seele ist unsterblich für alle Zeiten, ist daseinsberechtigt, wie die jedes andern Volkes, jeder andern Rasse; und wenn ihr, die Träger dieser Seele, stark und fest seid im Willen, wird sie sich den neuen, herrlichen Körper schaffen, der ihr schon längst gebührt.«

Sie tat mutig alle sechs Züge und gab die Pfeife dann zurück. Als sie sich wieder niedersetzte, hatte sie feuchte Augen.

Hierauf bekam auch der Junge Adler das Kalumet.

»So weit die Erde reicht«, sagte er, »ist jetzt große Zeit. Doch ist die Zeit noch nicht vollendet; wir stehn mitten drin. Die Menschheit steigt zu ihren Vorbildern auf. Steigen auch wir! Wir sind ja die Erben Winnetous! Schon regt der junge Adler seine Schwingen. Fliegt er dreimal um den Berg, so fährt der rote Mann aus dem Scheintod auf, und der Tag, der ihm gehört, bricht an!«

Auch er tat die vorgeschriebnen sechs Züge und gab das Kalumet dann an den Bewahrer der großen Medizin zurück.

Dieser mußte es langsam ausrauchen, ohne daß weiter dabei gesprochen wurde. Hierauf erst war die Feierlichkeit beendet. Tatellah-Satah geleitete uns nach jenem ersten großen Raum mit den vielen Friedenspfeifen. Er zeigte auf einen dort wartenden, riesenhaften Indianer.

»Das ist Intschu inta ›Gutes Auge‹, euer Diener. Er wird euch in eure Wohnung führen und sagt euch alles, was ihr wissen wollt. Er war der Liebling Winnetous. Sei er nun auch der eurige! Nur einmal bitte ich euch, meine Gäste auch beim Essen zu sein, nur heut am ersten Tag, eine Stunde lang; dann aber seid ihr stets und in allem frei, könnt aber zu mir kommen, sooft es euch beliebt.«

Er reichte uns die Hand und zog sich dann zurück. Wir gingen zunächst nach dem Hof hinab, wo die Gefährten geblieben waren. Da stand aber nur der Hengst des Jungen Adlers und das Maultier, das sein Paket trug. Er stieg auf und ritt davon, hinauf zum Wachtturm, der ihm zur Wohnung angewiesen war. Unsre Pferde und Maultiere waren, wie wir von Intschu inta erfuhren, von den zwei Westmännern nach unsrer Wohnung geführt worden, wohin wir ihnen jetzt nachfolgten.

Intschu inta war, wie bereits gesagt, ein wahrer Hüne von Gestalt, gewiß schon über sechzig Jahre alt, doch immer noch vollkommen rüstig. Ein wahrheitsliebender, treuer, stolzer Mann. Wenn er als unser Diener bezeichnet worden war, so war er das freiwillig. Das hatte nichts mit Unterordnung, mit Zwang zum Gehorsam zu tun. Er war trotzdem in jeder Beziehung sein eigner Herr. Er führte uns durch die schon beschriebenen Tore nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Innenhof. Das Gebäude dort war für uns allein bestimmt.

»Es ist Winnetous Haus«, erklärte uns Gutes Auge.

»Aber er benützte dieses Heim doch selten«, meinte ich.

»Stets, sooft er in dieser Gegend weilte. Die Räume, worin Old Shatterhand bleiben wird, sind noch genau so, wie sie von Winnetou verlassen wurden, als er zum letztenmal hier war. Auch Intschu tschuna hatte zeitweilig in diesen Räumen sein Heim. Ebenso Nscho-tschi. Unsre weiße Schwester wohnt in den Stuben, die von der schönen Schwester Winnetous benützt wurden.«

Dieses Gebäude hatte ebenfalls Balkone vor den schmalen Schartenöffnungen der Mauern. Infolge der hohen Lage mußte es da einen noch weiteren Fernblick geben als unten bei Tatellah-Satah. Unsre Tiere waren in einem Nebengebäude, einer Art Stall oder Schuppen, untergebracht. Wir stiegen nun die Treppe zu den Wohnräumen empor und gelangten zunächst in eine große, indianisch ausgestattete Stube, in der hohe Tongefäße zum Waschen standen. Es gab hier zahlreiche Sitze verschiedner Art und auch eine Platte mit Friedenspfeifen.

»Das ist der Empfangsraum«, erriet ich sogleich.

Die Wände waren mit allerlei Waffen ausgestattet. Ich sah einige Messer, Pistolen und Flinten, die ich kannte. Sie hatten Jagdgenossen von uns gehört. Der Diener führte uns durch das ganze Gebäude. Es hätte bequem Raum für dreißig bis vierzig Gäste gehabt, und es ist mancherlei über seine Einrichtung und Ausstattung zu berichten, mancherlei, was die Verehrer Winnetous fesseln dürfte.

Mit welchen Gefühlen ich die drei nebeneinander liegenden Stuben betrat, die Winnetou zum eignen Gebrauch gedient hatten, kann man sich wohl denken. Links lag die Schlafstube. Hieran stieß das bedeutend größere Wohnzimmer und dahinter die ebenso große Arbeitsstube. Aus jedem dieser drei Räume konnte man hinaus auf einen Balkon treten und die herrliche Aussicht genießen. In der Schlafstube befand sich ein weiches, hohes und sauberes Lager von Fellen und Decken. Dazu auch hier einige Wassergefäße zum Waschen, andre zum Trinken, weiter nichts. Die Wohnstube war halb europäisch, halb indianisch eingerichtet. Sie enthielt niedrige und hohe Sitze, niedrige und hohe Tische. Auf diesen Tischen lag und an den Wänden hing gar mancher Gegenstand, den ich kannte, weil er von mir stammte. Darunter zwei Lichtbilder von mir, die ich dem Freund gelegentlich geschenkt hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. In einer Mappe entdeckte ich dann noch einige Blätter mit Versuchen, diese Bilder nachzuzeichnen.

»Er muß dich doch sehr lieb gehabt haben!« sagte meine Frau, indem sie diese Blätter eingehend betrachtete. »Er war nicht ungeschickt, es fehlte ihm nur die Anleitung und die nötige Übung. Diese Versuche sind rührend.«

In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte sich der junge Häuptling im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauch einer jeden Waffe, bemüht gewesen, ein Held der Feder zu werden! Und hier hatte er die bedeutsamsten Abschnitte seines Testaments geschrieben, dessen Veröffentlichung mir übertragen worden war!

Auch in andrer Weise hatte er hier gearbeitet, mit Messer und Zange, mit Hammer und Feile, sogar mit Nadel und Zwirn. Nichts war ihm zu nichtig gewesen. Sogar eine Ledermappe zu machen, hatte er versucht. Als ich sie öffnete, lag ein einziges Blatt darin. Darauf stand in großen Buchstaben geschrieben: »Scharlih, mein Scharlih«.

Hatte das ein Brief werden sollen? Oder hatte die Seele meines Winnetou nur grad Zwiesprache gehalten mit der meinen? Müßige Frage jetzt!

Intschu inta stand dabei und sah, daß meine Frau, als wir das lasen, weinte. Auch mir stand ein Tropfen im Auge. Er, der starke Mann, drehte sich um und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Es ist hier alles so sauber! Grad als wäre er noch vor einer Stunde hier gewesen!« sagte Klara nach einer Pause des Schweigens. »Wer hat hier auf Ordnung gehalten?«

»Es war mir ein inneres Bedürfnis«, sagte der Hüne schlicht.

»Seit wann tut Ihr das?«

»Seit er zum letztenmal hier war.«

»Diese lange, lange Zeit? Tag für Tag? Trotzdem er nicht mehr lebte?«

Da schüttelte er leise den Kopf.

»Er sagte stets, es gäbe keinen Tod; das habe ihm sein Bruder Shatterhand versichert. Und ich glaubte ihnen beiden. Ich glaube es auch noch heut.«

Er strich mit der Hand über den Lederanzug, der an der Wand hing.

»Diese Leggins und diese Jacke trug er stets, wenn er die Absicht hatte, die Wohnung nicht zu verlassen. Bin ich hier allein, so ist es mir oft, als hörte ich die Lederfalten dieses Anzugs rascheln. War das Winnetou? Wenn ich hier eintrete, meine ich bisweilen, er stände draußen auf dem Altan, um sinnend in die Ferne zu schauen, wie er zu tun pflegte, wenn ihn eine Sehnsucht oder ein Leid bewegte. Er nannte mich seinen Freund; ich aber war stolz darauf, sein Diener sein zu dürfen. Ich wäre gern tausendmal für ihn gestorben. Aber er hat sterben müssen. Denn nicht sein Leben, sondern sein Tod hat alle Stämme der Apatschen und alle roten Völker aufgeschreckt, doch endlich die Augen zu öffnen und einzusehn, wie kostbar schon das Leben eines einzelnen Menschen ist, um wieviel kostbarer und unersetzlicher also das Leben einer ganzen Rasse sein muß! Wir waren blind und sind nun sehend geworden! Durch ihn!«

Und plötzlich stand er vor mir, faßte meine Hand und bat:

»Sei uns der Stellvertreter des Dahingegangenen! Nicht nur hier im Haus, sondern auch hier bei mir!«

Er klopfte sich an die Brust. Dann nahm er auch meine Frau bei der Hand.

»Und dich flehe ich an, sei uns Nscho-tschi! Sprich zu den Frauen, die sich hier versammeln wollen! Führ sie zur Tat! Tatellah-Satah ist Priester, aber nicht Krieger. Bedenkt das wohl! Darum war es die Sehnsucht unsres großen Winnetou, seinen weißen Bruder in dieses Haus zu leiten. Die Seele, die hier erwacht, braucht Schutz und Schirm vor ihrem eignen Volk. Sie hofft auf euch!«


 << zurück weiter >>