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15. Das Alte stürzt ...

Wir gingen zu unsern Pferden, stiegen auf und ritten fort, mit derselben Begleitung, mit der wir gekommen waren. Die Freunde riefen mir von allen Seiten jubelnd zu. Die Feinde verhielten sich still. Nur als wir an der Menge der Arbeiter vorüberkamen, vernahm ich Worte, die sehr geeignet waren, meine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Old Shatterhand! Schuft! Eindringling! Hund! Koyote! Feind! Rache! Erwürgen! Totschlagen!« das waren so einige der Drohungen, die ich zu hören bekam.

Das wunderte mich. Ich ersah keinen Grund zu solchem Haß. Als ich mich hierüber zu Tatellah-Satah und dem Jungen Adler äußerte, erklärte Dick Hammerdull:

»Ja, die Arbeiter hassen Euch, Mr. Shatterhand. Sie sind ergrimmt über Euch, vom ersten bis zum letzten. Sie wissen, daß besonders Ihr gegen den Bau des Denkmals seid. Sie behaupten, daß Ihr sie um ihre lohnende Arbeit bringen wollt, und halten seit einigen Tagen heimlich Versammlungen ab, in denen beraten wird, in welcher Weise man sich wohl von Old Shatterhand und Tatellah-Satah befreien könne. Und bei diesen Versammlungen sind die Herren vom Ausschuß zugegen!«

»Ah! So! Das ist allerdings wichtig!« gab ich zu. »Woher wißt Ihr das?«

»Von Sebulon Enters!«

»Nicht von Hariman?«

»Nein, von Sebulon. Ich weiß, Ihr traut ihm viel weniger als seinem Bruder. Aber seit er erfahren hat, daß er betrogen werden soll, ist er Euch sichrer als jeder andre. Die Brüder kommen des Abends heimlich zu Pitt und mir. Wir beraten mit ihnen –«

»Ohne mich zu fragen?« fiel ich ein.

»Ob mit oder ohne Euch, das bleibt sich gleich, aber Ihr braucht keine Sorge zu haben. Es gilt jetzt nur, Fühlung mit ihnen zu behalten. Sobald wir etwas Bestimmtes oder überhaupt Wichtiges hören, stellen wir uns ganz von selbst bei Euch ein. Am meisten wird über Euch in der Kantine gesprochen.«

»In welcher Kantine?«

»Es ist ein Blockhaus bei den Steinbrüchen, worin sich die Arbeiter verpflegen.«

»Kennt Ihr es?«

»Ja.«

»Habe noch nichts davon gehört. Ich muß es sehn, und zwar noch heut, bevor es Nacht wird. Reiten wir miteinander hin!«

»Im Häuptlingskostüm?« fragte meine Frau.

»Ja. Die Zeit reicht nicht, mich umzukleiden. Den Federschmuck lege ich ab. Du nimmst ihn mit heim.«

»Ich denke, ich reite mit?«

»Diesmal nicht, Klara, denn es handelt sich um eine kurze, schnelle Erkundung. Das ist nichts für dich.«

Ich gab ihr den Federschmuck, verabschiedete mich von ihr, dem Jungen Adler und auch von Tatellah-Satah und bog dann mit den beiden alten Jägern von unserm Weg ab, um am Schleierfall vorüber nach den Steinbrüchen zu reiten.

Die Sonne war längst hinter dem Mount Winnetou verschwunden, doch hatte es noch nicht zu dunkeln begonnen. Wir setzten unsre Pferde in Galopp, kamen durch ein Seitentälchen aus dem Innental heraus und ritten dann am äußern, nördlichen Fuß des Mount Winnetou an den Steinbrüchen und verschiednen andern Anlagen hin, durch die der herrlichen Natur hier so rücksichtslos Gewalt angetan wurde. Die Brüche sahen wie unheilbare Wunden aus, die man dem Berg geschlagen hatte. Und die häßlichen Gerüste, Mauern, Drahtseile und Balken, mit denen man den Wasserfall eingefangen und gefesselt hatte, um seine Kraft in Elektrizität zu verwandeln, mußten das Auge jedes schönheitsliebenden Menschen beleidigen. Dort standen schmutzige Pferdeschuppen mit Reihen von schweren Lastwagen. Eine Sägemühle kreischte. Zerfetzte Zelte und niedrige Baracken lagen ordnungslos umhergestreut. Hammerdull deutete auf ein großes, langgestrecktes Blockhaus.

»Das ist die Kantine«, sagte er. »Der Wirt ist ein Riese. Er wird ›der Nigger‹ genannt.«

»Das ist für einen Indianer eine Beleidigung!« bemerkte ich.

»Ob Beleidigung oder nicht, das bleibt sich gleich. Er ist es gewohnt und nimmt es nicht übel, ist aber sonst ein sehr roher, gewalttätiger Mensch. Er ist kein reiner Indianer. Man sagt, seine Mutter sei eine Negerin gewesen. Die Brüder Enters verkehren bei ihm.«

»O weh! Weshalb?«

»Um ihn auszuhorchen. Er ist der eigentliche Führer der hiesigen Arbeiterschaft. Man sagt, daß sogar gewisse Häuptlinge ihm ihr Vertrauen schenken. Gewiß aber ist, daß er ein Liebling der Herren vom Ausschuß ist. Man erzählt sich, daß Mr. William Evening und Mr. Antonius Paper ganze Nächte lang im Trunk und Spiel bei ihm sitzen. Wollt Ihr ihn vielleicht einmal sehn?«

»Wenn es möglich wäre, ohne daß man mich bemerkt, ja.«

»Es ist möglich. Nur noch einige Minuten, dann ist es dunkel, und ich führe Euch an die besondre Stube, zu der nur seine Vertrauten Zutritt haben. Damit man uns aber nicht sieht, reiten wir inzwischen ein wenig spazieren.«

Wir waren bisher einem Gebüsch gefolgt, das uns gut verbarg. Nun ritten wir unter derselben Deckung weiter, doch nur, um die Zeit bis zur Dunkelheit vergehn zu lassen. Das dauerte nicht mehr lange. Die Dämmerung kam schnell und ging ebensoschnell in vollständiges Dunkel über; denn wir standen im neuen Mond, und die Sterne besaßen jetzt, so kurz nach dem Tag, noch keine Leuchtkraft. Wir lenkten nach der Gegend um, in der die Baracke lag. Bei den letzten Büschen hielten wir an und stiegen ab. Pitt Holbers mußte bei den Pferden zurückbleiben, während Dick und ich vorsichtig dem Blockhaus zugingen, um unbemerkt an dessen hintere Seite zu gelangen. Das war nicht schwer.

Dort bemerkten wir Kisten und Fässer, die längs der Hinterwand standen. Das gab eine gute Gelegenheit, uns, wenn es sein mußte, zu verstecken. Aber es wurde glücklicherweise nicht nötig. Im Innern der Baracke brannte Licht, und ich stellte fest, daß sie aus mehreren Räumen bestand, einem großen und mehreren kleinen. Nach einem der kleinen Zimmer führte mich Dick. Es war dort nur eine einzige Fensterluke, die offen stand. Darunter stand eine schwere, starke Kiste, auf die man getrost steigen konnte, ohne befürchten zu müssen, sie könne unter der Last zusammenbrechen. Im Innern erklangen Stimmen.

»Das ist die Stube des Niggers«, sagte Dick Hammerdull leise. »Die Enters haben sie mir genau beschrieben. Hört Ihr, daß man drin spricht?«

»Ja. Ich klettere auf die Kiste und schaue nach.«

»Gut. Ich halte Wache.«

Als ich mich hinaufgeschwungen hatte, konnte ich ganz bequem in die Stube sehn. Da standen zwei rohe Brettertische mit ebensolchen Sitzen. Die Sprechenden waren fünf Männer, von denen mir vier sehr wohl bekannt waren: die beiden Enters, Tusahga Saritsch und To-kei-chun; der fünfte war jedenfalls der Wirt. Ein Riese von Gestalt, mit indianischen Gesichtszügen, aber aufgestülpter Negernase und echter Mohrenhaut. Ein treffenderes Schulbeispiel der Roheit und der rücksichtslosen Gewalttätigkeit als ihn konnte man sich wohl kaum denken. Das Gespräch war sehr erregt. Grad als ich den ersten Blick vom Fenster hinunter in die Stube warf, sagte der Nigger:

»Ich glaube, sie wissen es oben auf dem Schloß noch gar nicht, daß die beiden Medizinmänner entflohen sind. Verdammt sei dieser Old Shatterhand, daß er die Karte der Höhle erwischt hat! Glücklicherweise aber brauchen wir sie nicht. Die Medizinmänner finden den Weg auch so. Dieser Shatterhand ist trotz alledem ein Dummkopf. Als er nach dem Kampfplatz kam und sich mit den gestohlnen Medizinen brüstete, ahnte er nicht, daß seine Gefangnen sich bereits wieder in Freiheit befanden und daß der Plan für morgen schon fertig war. Sein blöder Sieg von heut nützt ihm nichts. Er hat einen Tag Zeit gewonnen, weiter nichts! Morgen abend ist er tot mitsamt seinem Weib! Ihr haltet doch Wort?«

Diese Frage war an die Brüder Enters gerichtet.

»Was wir versprochen haben, geschieht!« erwiderte Hartman.

Und Sebulon fügte hinzu:

»Eine größere Rechnung, als wir mit diesem Mann und seiner Frau haben, kann es nicht geben. Es fällt uns nicht ein, sie ihnen zu schenken!«

»Würde euch auch keinen Segen bringen!« drohte der Nigger. »Denn ich sage euch: Zwei sterben morgen unbedingt, entweder dieses deutsche Ehepaar oder die Brüder Enters! Darauf könnt ihr euch verlassen! Ich traue euch beiden noch nicht ganz! Es handelt sich um unsre Arbeit, um unser Fortkommen, um die vielen Tausende, die wir hier verdienen wollen und können. Deshalb habe ich den Häuptlingen meine ganze Arbeiterschaft für morgen zur Verfügung gestellt, und darum drücke ich drauf, daß alles genau so geschieht, wie wir besprochen haben. Wer sein Wort nicht hält, büßt sein Leben ein! Dabei bleibt es!«

Da stand To-kei-chun, der Häuptling der Racurroh-Komantschen, auf.

»Ja, dabei bleibt es! Wir sind alle zum Fest geladen. Wir kommen. Wir kennen die Plätze, die uns angewiesen werden. Unsre viertausend Krieger werden von den Medizinmännern durch die Höhle geführt, und zwar zu Fuß. Ihre Pferde bleiben im Tal zurück, weil wir nicht wissen, ob der letzte Teil des unterirdischen Wegs auch wirklich für Reiter benützbar ist.«

»Inzwischen stelle ich hier oben meine Arbeiter auf«, fiel der Nigger ein, »und die beiden Enters haben sich an Old Shatterhand und seine Frau heranzumachen. Sobald eure Krieger den Schleierfall hier oben erreicht haben, melden sie uns durch einen Schuß, daß sie da sind. Wenn dieser Schuß fällt, wird Old Shatterhand mit seiner Frau von den Enters erstochen, und ich werfe mich mit meinen Arbeitern auf die ganze andre Bande, um euern Kriegern freien Weg und glatte Arbeit zu schaffen.«

Jetzt stand auch Tusahga Saritsch auf.

»Der Plan ist gut. Sollte etwas hieran geändert werden, so sagen wir es dir oder senden einen Boten.«

Sie entfernten sich, und der Wirt geleitete sie hinaus. Die beiden Enters waren allein. Sie sahen einander bedenklich an.

»Das kann schlimm werden«, meinte Hariman.

»Wieso?« fragte Sebulon. »Wir haben erfahren, was wir wissen wollten. Morgen früh gehn wir beide zu Old Shatterhand, um es ihm zu erzählen und ihn zu warnen. Was kann daraus Schlimmes entstehn?«

»Oh, um mich und dich ist es mir nicht; wir kommen durch! Aber dieses Blutvergießen dann hier oben! Denn einen solchen Angriff ohne Kampf abschlagen, das bringt selbst ein Shatterhand nicht fertig. Ich denke an unsern Vater und sein Schicksal und möchte alles Blutvergießen vermeiden.«

Ich wußte genug und sprang von der Kiste herab.

»Habt Ihr etwas Wichtiges gehört?« fragte Hammerdull.

»Etwas sehr Wichtiges sogar!« antwortete ich. »Man möchte fast an ein Wunder glauben. Es ist, als ob wir grad in diesem Augenblick hierhergeführt worden seien, um den Schluß dieses Gesprächs hören zu müssen. Ich werde es Euch unterwegs erzählen. Eins aber muß ich Euch sofort sagen: die beiden Medizinmänner, die wir unten am Eingang der Höhle gefangengenommen haben, sind entflohen.«

»Unmöglich! Wann?«

»Heut früh wahrscheinlich! Ohne daß es bis jetzt jemand gemerkt hat. Sie haben sofort ihre Häuptlinge aufgesucht und mit ihnen den Plan besprochen, den ich soeben erfahren habe. Kommt schnell! Wir müssen nach Hause!«

Wir schlichen zu unsern Pferden und ritten davon.

Unterwegs erzählte ich den alten Kameraden, was ich erfahren hatte. Sie wußten, daß ein zuverlässiger Indianer ausschließlich mit der Bewachung der beiden Medizinmänner betraut worden war. Dieser wohnte im Erdgeschoß von Tatellah-Satahs großem Vorderhaus, und dort lag auch der Raum, worin die Gefangnen untergebracht worden waren. Wir gaben unsre Pferde ab und gingen zunächst dorthin, wo er wohnte. Er war nicht da. Er hatte weder Frau noch Kind, hauste allein, und niemand konnte Auskunft über ihn geben. Dann suchten wir das Gefängnis auf. Es war eine Art Keller. Wir fanden die Tür von außen verriegelt. Kaum schickten wir uns an, zu öffnen, so wurde von innen geklopft und gerufen. Vorsichtig schoben wir den Riegel zurück und heraus trat – der Gefängniswächter!

Als er heut früh den beiden Gefangnen Essen und Wasser gebracht hatte, waren sie über ihn hergefallen. So berichtete er. Sie hatten ihm mehrere Schläge versetzt, die ihm die Besinnung raubten. Als er wieder zu sich kam, fand er sich im finstern Keller eingeriegelt; sie aber waren fort. Er hatte dann fast ohne Unterlaß gerufen und Lärm gemacht, jedoch vergeblich. Niemand hatte ihn gehört. Er befürchtete eine strenge Strafe und bat, ich solle mich bei Tatellah-Satah für ihn verwenden. Ich versprach es ihm und ließ ihn laufen.

Dann begab ich mich in meine Wohnung. Meine Frau war nicht da. Sie hatte einen Zettel zurückgelassen, durch den sie mir mitteilte, daß sie inzwischen zu Tatellah-Satah gegangen sei und Winnetous Hefte mitgenommen habe. Wakon werde vorlesen; ich solle so bald wie möglich nachkommen.

In der Wohnung des ›Bewahrers‹ ging ich bis ins Schlafzimmer. In dem danebenliegenden Passiflorenraum war es augenblicklich still. Darum öffnete ich die Tür nur leise. Grad als ich das tat, erklang die Stimme Old Surehands:

»Ja, wahrhaftig, er war viel größer als wir alle! Viel größer, als wir dachten!«

»Winnetou war wie ein Held der alten Sagen, die uns überliefert sind«, stimmte Apanatschka bei.

»Wie steht es da mit Euerm Bild?« fragte Athabaska.

»Es ist viel zu klein für ihn, und bauten wir es noch so hoch!« rief Kolma Puschi aus.

Und Aschta, die Squaw Wakons, fügte hinzu:

»Wir wollen kein Bild von Stein! Er soll in uns erstehn, in unsern Herzen! Die köstlichen Worte, die er soeben durch den Mund des Vorlesers zu uns sprach, sollen in der Seele unsres Volks erklingen für alle Zeit!«

Da sah man mich unter der geöffneten Tür.

»Du kommst zur rechten Zeit!« begrüßte mich Tatellah-Satah. »Wir machten eine Pause, denn wir waren zu tief ergriffen. Soeben lasen wir vom Sieg deines Edelmenschentums, des großen, allgemeinen Menschheitsgedankens, den Winnetou dann weitertrug zu seinen Apatschen. Wir lasen ferner von seiner großen Umkehr vom Kriegsgedanken zum Friedensgedanken, vom Haß zur Liebe, von der Rache zur Verzeihung. Das hat uns alle emporgehoben. Das hat den Vorhang aufgerollt. Nun sehn wir, was hinter ihm stand und was hinter unsern winzigen Taten steht. Das hat sogar Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne aufgerüttelt –«

»Nicht aufgerüttelt«, fiel Young Apanatschka ein, »aber sehend gemacht. Wir werden fortan uns und unser Werk, das wir bisher für unübertrefflich hielten, sorgsam prüfen. Man sagt uns, daß unsre Kunst äußerlich sei, eine Kunst ohne Seele und Gedanken, das präge sich in unserm Standbild aus. Wir haben euch eingeladen, am morgigen Abend am Wasserfall unsre Gäste zu sein. Dort werden wir versuchen, den Stein durch Licht zu beleben. Gelingt es, dann ist es gut; gelingt es nicht –«

»Es gelingt!« fiel ihm Young Surehand siegesgewiß in die Rede.

Ich sah, daß ihm einige widersprechen wollten, darum ergriff ich schnell das Wort:

»Warten wir es ab!«

»Ja, warten wir es ab!« stimmte mir Athabaska bei. »Und selbst wenn es gelänge, würde es nur ein vergeistigter Tramp sein, den wir zu sehn bekommen. Hier aber hat man einen andern, den wirklichen Winnetou, der Geist, Gemüt und Adel besitzt und das gleiche von uns fordert. So wie er sollen auch wir nach oben streben, wir, seine ganze Rasse. Er nimmt uns mit; er zieht uns empor als seine geistigen Erben.«

Indem er das sagte, zeigte er auf das Winnetoubild, das wir Tatellah-Satah gegeben hatten. Es war jetzt an das weiße Passiflorenkreuz geheftet und zu beiden Seiten waren die Bilder von Marah Durimeh und Abu Kital, dem Gewaltmenschen, befestigt. Das hatte schon beim Eintritt der Anwesenden einen tiefen Eindruck gemacht, und diesem Eindruck war es wohl mit zuzuschreiben, daß die heutige Vorlesung eine so ungewöhnliche Wirkung hervorgebracht hatte. Der Bann, der von der lebensgetreuen Erscheinung Winnetous ausging, war eben doch einzig und unabweisbar zwingend. Man hatte also eigentlich weiterlesen wollen; aber es fehlte durch die Unterbrechung plötzlich die erforderliche innere Ruhe und Sammlung. Darum beantragte Old Surehand, für heut Schluß zu machen, zumal seinerseits für den morgigen wichtigen Tag noch viel vorzubereiten sei. Man ging darauf ein. Alle entfernten sich, nur Klara und ich blieben bei Tatellah-Satah zurück.

»Es war heut ein großer Erfolg«, sagte der ›Bewahrer‹. »Als sie kamen und euern Winnetou sahen, war das Schicksal des steinernen Bildes besiegelt. Selbst die beiden jungen Künstler nebst ihren Vätern und Kolma Puschi können sich dem nicht entziehn. Sie sind zu ehrlich, um das zu leugnen. Zwar werden sie morgen am Schleierfall versuchen, ihren Gedanken zu retten; aber sie fühlen es schon heut nur zu gut, daß auch diese letzte Anstrengung vergeblich sein wird. – Du rittest mit den zwei weißen Jägern nach den Steinbrüchen und kommst sehr spät zurück. Das läßt vermuten, daß ihr nicht umsonst geritten seid.«

»Allerdings«, antwortete ich. »Das Ergebnis ist mehr als befriedigend, wenn auch nicht erfreulich. Wir haben viel erfahren; zum Beispiel, daß die beiden Medizinmänner der Kiowas und der Komantschen entflohen sind.«

»Uff, uff!« rief er erschrocken aus.

Meine Frau war nicht weniger überrascht.

»Das ist noch nicht das Schlimmste«, fuhr ich fort. »Es kommt noch ärger. Setzen wir uns zunächst! Ich will erzählen.«

Als ich berichtet hatte, sagte Tatellah-Satah:

»Ich würde wohl in Besorgnis sein, wenn ich nicht sähe, daß du so ruhig bist! Weshalb hast du das nicht erzählt, als die Häuptlinge noch da waren?«

»Müssen sie es wissen? Brauchen wir sie dazu?« fragte ich. »Ich pflege mich in entscheidenden Taten auf mich allein zu verlassen.«

»Du glaubst, allein fertig werden zu können?«

»Ja.«

»Mit allen diesen viertausend Feinden?«

»Ja.«

Da sah er mich groß an und schüttelte den Kopf.

»Jetzt begreife ich an Winnetou, was ich zu seinen Lebzeiten nicht begreifen konnte: sein unbeschreibliches Vertrauen zu dir. Heut fühle ich es selber, dieses Vertrauen. Und so sag: Was gedenkst du gegen das alles, was uns droht, zu tun?«

»Das einfachste, was es gibt: Ich verlege ihnen den Weg durch die Höhle! Ich sperre sie sodann im Tal der Höhle ein, bis sie vor Hunger um Erbarmen bitten müssen. Und ich nehme ihre Häuptlinge gefangen, um sie als Geiseln zu benutzen. Wieviel bewaffnete Winnetous stehn dir zur Verfügung?«

»Heut über dreihundert; bis morgen abend können es fünfhundert sein und später noch weit mehr.«

»Die genügen vollkommen. Für jetzt brauche ich nur vielleicht zwanzig und unsern treuen Intschu inta dazu. Ich ziehe mich rasch um und steige dann sogleich mit ihnen hier durch die verborgne Treppe in die Höhle hinab, um die Stalaktiten wieder derart aufzustellen, daß die beiden Medizinmänner, wenn sie mit ihren Scharen an jene Stelle kommen, sich nicht weiterfinden.«

»Und wenn sie den Weg, den du ihnen verbergen willst, doch entdecken? Wenn sie die Steine ebenso wegräumen, wie du sie weggeräumt hast?«

»Das könnte höchstens am breiten Weg geschehn, dessen Ausgang ich ihnen aber hinter dem Schleierfall derart verlegen werde, daß sie nicht herauskönnen. Damit ist für heut und morgen alles vorbereitet. Zum Einschließen der Feinde im Tal ist übermorgen noch Zeit.«

Hierauf schickte ich mich an zu gehn; aber Klara zögerte noch. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen. Entschlossen trat sie plötzlich auf den Bewahrer der großen Medizin zu und bat um die Erlaubnis, ihn morgen photographieren zu dürfen. Ich erschrak. Das war eine Kühnheit, die ich mir niemals gestattet hätte. Er aber lächelte.

»Darf ich wissen, für wen oder wozu das Bild sein soll?«

»Das ist Geheimnis«, antwortete sie mit ungeminderter Verwegenheit. »Aber ein gutes und sehr nützliches Geheimnis, das vielen große Freude machen wird.«

»So ist es mir unmöglich, der Squaw meines Bruders Shatterhand ihren ›guten und sehr nützlichen Wunsch‹ abzuschlagen. Sie mag kommen, wann sie will; ich bin bereit.«

Als wir hierauf gingen, fragte ich sie unterwegs, wozu sie die Photographie brauche.

»Ich will sie für den Projektionsapparat haben.«

»Aha, ich verstehe!«

»Morgen abend sollen doch die Bilder der beiden Künstler zu beiden Seiten des Denkmals auf dem Wasserfall erscheinen. Ich habe denselben Gedanken für unsern Winnetou, den ich mir für diesen Zweck noch einmal von dem Bewahrer der Medizin ausbitten werde, mit den Bildern von Tatellah-Satah und Marah Durimeh zu beiden Seiten. Winnetou müßte dann über dem Denkmal sichtbar werden.«

»Der Gedanke ist gut, sehr gut, denn ein Ideal hat nichts mit Geschäftstüchtigkeit zu tun. Du brauchst da verschiedne Apparate, verschiedne Linsen –«

»Ist da, ist alles da!« fiel sie schnell ein, »und zwar bei dem Ingenieur, mit dem ich schon gesprochen habe.«

»Du denkst, daß er es tut?«

»Mit Vergnügen!«

»Und nichts vor der Zeit verrät?«

»Gewiß nicht! Ich bürge dafür!«

»So bin ich einverstanden.«

»Und nimmst mich jetzt mit nach der Höhle?«

»Meinetwegen! Damit du nicht in Sorge um mich zurückbleibst!«

Als wir nach einiger Zeit wieder zu Tatellah-Satah kamen, stand Intschu inta mit seinen zwanzig Mann schon bereit. Sie hatten sich genugsam mit Fackeln und mit einigem Werkzeug versehn. Wir öffneten den Treppenstein und stiegen in den Gang hinab. Unten suchten wir zunächst die Stelle auf, wo unser schmaler Weg in den breiten mündete. Hier hatten wir durch Beseitigung der Stalaktiten den Weg zum Schleierfall freigemacht. Sie wurden wieder herbeigeholt und an ihre früheren Plätze gebracht. Wir trugen auch noch eine Menge andrer Stücke hinzu, die wir derart aufstellten, daß die Verschleierung des Wegs unmöglich entdeckt werden konnte. Der Gang war nunmehr von unten bis oben vollständig zugefüllt, und zwar in so natürlicher Weise, daß der Gedanke an eine künstliche Nachhilfe ausgeschlossen erschien.

Dann sah ich mich noch einmal an der Stelle um, die mir schon vorher verdächtig vorgekommen war. Aus dem einen Riß in der Decke waren mehrere geworden. Am Boden lagen schon eine ganze Menge herabgestürzter Steintrümmer. Und ein Regen von zerriebenem Kalksinter siebte ununterbrochen aus den klaffenden Spalten hernieder. Zuweilen hörte man ein leises, aber scharfschneidiges Geräusch, wie wenn zwei Glastafeln aneinandergescheuert werden. Das klang unheimlich. Irgendwo im Dunkeln, wohin mein Blick nicht zu dringen vermochte, krachte es, als ob Felsen prasselten und Steine in die Tiefe fielen. Das erzeugte ein beängstigendes Gefühl. Ich mußte mich sehr zusammennehmen, still an Ort und Stelle zu bleiben, und war froh, als wir uns endlich entfernen konnten. Und das ging nicht nur mir allein so, denn Klara sagte:

»Gott sei Dank, daß das vorüber ist! Mir war zuletzt ganz ängstlich zumut.«

»Warum?« fragte ich.

»Weil es scheint, als ob hier alles zusammenbrechen soll!«

»Hattest auch du dieses Gefühl?«

»Gleich, als wir kamen. Ich habe nichts gesagt, um dich nicht zu beunruhigen. Was gibt es hier über uns, zu unsern Häupten?«

»Höchstwahrscheinlich das schwere Winnetou-Standbild. Genau kann ich es nicht sagen.«

Da fuhr sie auf:

»Also deshalb steht es schief?«

»Und neigt sich mehr und mehr.«

»Hältst du den Zusammenbruch für unvermeidlich?«

»Gewiß.«

»Und du meinst, daß schon heute oder morgen ...«

»Die Zeit läßt sich nicht bestimmen. Um das zu können, müßte man die Felsenunterlage genau untersuchen. Ich hoffe aber, daß das Unglück erst später geschieht, nicht etwa schon in diesen Tagen.«

Hätte ich gewußt, wie nahe uns dieses gräßliche Ereignis stand, so hätte mich nichts abhalten können, die viertausend Indianer vor dem Betreten der Höhle zu warnen. Wir gingen nun auf dem schmalen Weg zurück, bis zu der Stelle, wo der steile Pfad nach der Teufelskanzel abzweigte. Auch diese Mündung verkleideten und verrammelten wir derart, daß niemand hier einen verborgnen Abzweig suchen konnte. Von dort ging es wieder zurück bis dahin, wo der Aufstieg zum Passiflorenraum begann. Wir versperrten ihn ebenso sorgsam, doch nicht von unten, sondern von oben her, weil wir uns ja hinter der Sperre befinden mußten, um ins Schloß zurückkehren zu können. Der Tag begann schon zu grauen, als wir dort anlangten. Tatellah-Satah war nicht da. Wir verschlossen die geheimnisvolle Treppe und trennten uns dann von unsern indianischen Begleitern, um heimzugehn und noch einige Stunden zu schlafen.

Als wir erwachten, wartete Intschu inta schon auf uns, um uns zu melden, daß die Brüder Enters bereits längere Zeit hier seien und uns zu sprechen wünschten. Wir ließen sie kommen und empfingen sie freundlich. Sie zeigten sich verlegen und wußten nicht, wie sie beginnen sollten. Da sprach ich das entscheidende Wort:

»Ihr kommt, uns zu sagen, daß wir heut abend sterben sollen?«

Sie erschraken; ich aber fuhr ruhig fort:

»Die beiden Medizinmänner sind entflohen. Sie wollen die viertausend Feinde heut abend durch die Höhle führen, um uns zu überfallen. Die Arbeiter stehn unter ihrem Anführer, dem Nigger, bereit, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Die Roten geben, wenn sie hinter dem Wasserfall angekommen sind, das Zeichen durch einen Schuß. Sobald dieser Schuß fällt, sollen die Brüder Enters mich und meine Frau ermorden, und die Arbeiter werfen sich auf die Häuptlinge und auf unsre andern Freunde.«

Sie sahen mich starr und stumm an; so groß war ihre Verblüffung.

»Nun?« fragte Klara. »Wie gefällt euch das? Gebt ihr es zu? Oder wollt ihr es bestreiten?«

Da fand Sebulon zuerst die Sprache wieder:

»Bestreiten? Nein! Wir sind ja nur deshalb gekommen, um es euch zu sagen und euch zu warnen. Ihr seht uns nur so betroffen, weil ihr schon alles wißt. Und so genau! Es soll ja das tiefste Geheimnis sein.«

»Geheimnis? Pshaw!« fiel ich ein. »Wir haben stets alles Wichtige rechtzeitig gewußt, und zwar viel besser als ihr. Wir wissen sogar, daß ihr gestern abend in der Kantine, als Tusahga Saritsch und To-kei-chun fort waren, beschlossen habt, heut früh hierherzukommen und uns alles zu erzählen.«

»Wie ist das möglich? Ihr könnt doch nicht dort unter den Tischen oder Sitzen gesteckt haben!«

»O nein! So unbequem brauchen wir es uns nicht zu machen! Die Leute, die unsre Feinde zu sein scheinen, erzählen es uns selber. Das ist ihr Glück. Sonst würden sie heut abend die ersten sein, die durch unsre Kugeln fallen.«

»Oh!« fiel Hariman ein. »Wir würden wahrscheinlich nicht bös darüber sein, uns morgen tot zu wissen! Es gibt für uns weder Glück noch Stern. Das ist der Fluch, der sich vom Vater auf die Söhne vererbt.«

»Nicht der Fluch, sondern der Segen!« widersprach ich ihm.

»Wieso?« fragte er.

»Der Segen, der darin liegt, Geschehenes gutzumachen und dadurch den Vater erlösen zu können.«

»Und daran glaubt Ihr, Mr. Shatterhand?«

»Gewiß. Und ich will Euch auch die Begründung nennen. Jede Tat, jedes Wollen birgt in sich Segen und Fluch im voraus.«

»Gott sei Dank! So gibt es also doch noch einen Lebenszweck für uns. Wir wollen unser Schicksal fernerhin mutig tragen. Ihr wißt also nun, daß wir angewiesen sind, uns heut abend in eurer Nähe zu halten. Wollt Ihr uns das erlauben?«

»Gern.«

»Uns also nicht mißtrauen?«

»Wir sind überzeugt, daß ihr es ehrlich meint.«

»Gott segne Euch für dieses Wort! Habt Ihr irgendeinen Befehl für uns?«

»Jetzt noch nicht. Vielleicht heut abend. Wir werden alles daransetzen, daß es gar nicht zum Kampf kommt. Der Überfall wird auf alle Fälle vermieden.«

»So nehmt Euch aber in jedem Fall vor dem Nigger in acht! Er haßt Euch glühend, denn er mißt Euch alle Schuld bei. Er hat Euch die Kugel um jeden Preis zugedacht. Und jetzt müssen wir gehn. Wir haben schon so lange gewartet, und doch soll niemand merken, daß wir hier verkehren.«

Sie entfernten sich.

»Die beiden tun mir leid!« sagte meine Frau. »Sie sind ganz anders als früher. Ich wollte, sie hätten noch ein recht glückliches Leben vor sich!«

Bei unserm verspäteten Frühstück stellten sich zwei andre Gäste ein: die Squaw des Häuptlings Pida und Dunkles Haar, ihre Schwester. Das war für uns eine besonders große Freude. Klara war sogleich eifrig beschäftigt, um sie an unserm Frühstück teilnehmen zu lassen. Wir erfuhren von ihnen, daß gestern abend die Frauen der Komantschen und der Kiowas hier angekommen waren. Sie hatten sich sofort mit den Frauen der Sioux unter deren Führerin Aschta vereinigt, um bei den Denkmalsberatungen auch ihre Stimmen zur Geltung zu bringen.

Es zeigte sich bald, daß sie gekommen waren, mir eine wichtige Mitteilung zu machen. Sie wußten nicht so recht, wie sie es anfangen sollten, mich genügend zu warnen, ohne einen Verrat an ihren eignen Kriegern zu begehn. Ich machte ihnen Mut, indem ich ihnen erklärte, daß ich bereits alles wüßte. Ich sagte ihnen, daß die viertausend Indianer heut durch die große Höhle ziehn würden, um den unsinnigen Plan der alten, gegen uns verschworenen Häuptlinge zur Ausführung zu bringen. Das ließ sie erleichtert aufatmen, und ich erfuhr nunmehr von ihnen, daß Pida, ihr Mann und Schwager, heut frühzeitig nach dem Tal der Höhle geritten sei, weil man ihn ausersehn hatte, den unterirdischen Marsch zu befehligen. Nach ihrer Beurteilung gab es nun lediglich zwei Möglichkeiten: Siegte er, so mußte ich zugrunde gehn, und siegte ich, so war es um ihn geschehn. In dieser Herzensangst hatten sie es für das beste gehalten, mich aufzusuchen und sich mir anzuvertrauen. Ich versprach ihnen Verschwiegenheit und gab ihnen die Versicherung, daß weder Pida noch mir irgendein Leid geschehn werde. Beruhigt verließen sie uns wieder.

Hierauf ging Klara zu Tatellah-Satah, um ihn zu photographieren. Ich begleitete sie. Sie war von ihrem Vorhaben so erfüllt, daß sie gleich darauf zu ihrem Helfer, dem Ingenieur, eilte. Wir aber machten einen Spaziergang nach dem Wachtturm, um den Jungen Adler aufzusuchen. Er schien von dem Kommen unsres ehrwürdigen Freundes und Beschützers bereits unterrichtet zu sein, denn er rief uns von der Höhe seines Daches aus zu:

»Kommt herauf! Es ist alles bereit. Mein ›Adler‹ ist fertig!«

Wir traten in den Turm und stiegen die vielen Stufen bis zum platten Dach hinauf. Dort stand auf vier Rollen ein großes, vogelähnliches Gebilde mit zwei Leibern, zwei mächtigen, ausgebreiteten Flügeln und zwei Schwänzen. Die beiden Leiber vereinigten sich vorn durch ihre Hälse zu einem einzigen Kopf, zu einem Adlerkopf. Sie waren, wie schon einmal gesagt, aus federleichten, aber außerordentlich festen Binsen geflochten und bargen wahrscheinlich den Motor. Im übrigen bestand das Flugzeug aus fast gewichtslosen Stoffen, die aber unzerreißbar schienen. Die Schwänze waren zwei übereinander angeordnete längliche Tragflächen. Zwischen den Leibern war ein bequemer Sitz angebracht, der Platz für zwei Personen gewährte. Über das ganze Gestell liefen mehrere Drähte, die zu verschiedenen Hebeln neben den Sitzen führten: vermutlich dienten sie zum Lenken des großen Vogels. Außer dem Jungen Adler waren noch unsre beiden weißen Freunde und Aschta, die Jüngere, zugegen.

Der Junge Adler erklärte uns nun mit Feuereifer sein kühnes Werk, das er auf Grund sorgfältiger Berechnungen aufgebaut hatte, und ich muß sagen, daß wir beide, Tatellah-Satah und ich, von der Sicherheit und der Verläßlichkeit der Maschine überzeugt waren und in uns der Wunsch aufstieg, uns ihrer recht bald einmal bedienen zu dürfen.

Tatellah-Satah schaute vom Dach in die Weite hinaus. Fast war es, als leuchtete sein Antlitz.

»Kommt!« erklang es erst nach längerer Zeit aus seinem Mund.

Er sagte das zu mir und dem Jungen Adler und ging zur Treppe, um wieder vom Turm hinabzusteigen. Schweigend wandte er sich nach dem Hochwald. Er schritt voran; wir folgten. Keiner sprach ein Wort. Sein Weg führte nach der andern Seite des Berges, bis zu einer Stelle, von wo aus wir hinüber zum See und hinunter zum Schleierfall schauen konnten. Jenseits des Sees ragte der domartige Hauptberg des Mount Winnetou hoch empor, und dahinter waren die gewaltigen Kuppen der benachbarten Riesen zu sehn. Darunter befand sich einer, der seinen Gipfel so stolz und steil, so scharf und senkrecht erhob, als sei es nie einem menschlichen Wesen vergönnt worden, je seinen Scheitel zu betreten. Auf ihn deutend, sagte der Alte:

»Das ist der Berg der Königsgräber. Bevor die Rasse der Indianer sich in winzige Stämme auflöste, wurde sie nicht von kleinen Häuptlingen, sondern von gewaltigen Kaisern und Königen beherrscht, die alle auf der mächtigen, hoch über den Wolken liegenden Plattform dieses Berges begraben worden sind. Die Gräber sind von Stein gemauert. Sie bilden zusammen eine Totenstadt mit Straßen und Plätzen, auf denen es keine Spur von Leben und Bewegung gibt. Sie bergen nicht nur die Leichen der verstorbenen Herrscher, sondern in jeder Gruft liegen, in goldnen Kästen unzerstört erhalten, die Bücher über jedes Jahr der Amtsführung dessen, der hier seine letzte irdische Wohnung fand. Hier sind also nicht nur alle die großen Herrscher der roten Rasse begraben, sondern durch diese Schriften auch die ganze Geschichte ihrer langen, vieltausendjährigen Vergangenheit. Aber man kann nicht mehr zu ihnen gelangen. Als der letzte König begraben worden war, vernichtete man die Felsenstraße, die zu den Königsgräbern führte, so daß es seitdem keinem Sterblichen mehr möglich war, zu ihnen hinaufzusteigen. Es soll zwar einen steilen Nebenpfad geben, der damals nicht mit zerstört worden ist, aber niemand hat ihn bisher gefunden. In einem meiner ältesten Bücher steht geschrieben, daß der Schlüssel zu diesem Pfad vorhanden sei, aber er liege hoch oben auf dem Berg der Medizinen, genau am Fuß der letzten, höchsten Felsnadel, unter einem Stein, der die Gestalt einer halben Kugel haben soll. Der ›Wecker des Volkes‹, auf den die roten Männer schon seit langen, langen Jahren warten, wird, wie auf der Haut des großen Kriegsadlers zu lesen ist, dreimal um den Berg fliegen und bei diesem Stein anhalten, um ihn zu heben und den Schlüssel hervorzunehmen.«

Er schaute zu jener Felsnadel hinauf, an deren Fuß der Schlüssel liegen sollte. Und er blickte hinüber zu der Bergkuppe, auf der die roten Kaiser und Könige begraben lagen. Dann fuhr er fort:

»Das alles wußte ich. In meiner Brust war die ganze, glühende Sehnsucht unsrer Rasse vereint. Da saß ich vor meiner Tür, und vor meinen Füßen landete aus hohen Lüften der verwegene Knabe, der den mächtigsten der Vögel gezwungen hatte, ihn über die Abgründe des Todes zur sichern Erde herabzutragen. Er wurde von nun an der Junge Adler genannt. War er der Verheißne, der Langverkündete? Ich glaubte es und nahm ihn zu mir, um ihn zu erziehn. Er war ein Verwandter meines Winnetou. Ich legte ihm die Sehnsucht, fliegen zu lernen, ins Herz. Als ich hörte, daß drüben in Kalifornien die ersten Flugversuche gemacht wurden, beschloß ich, ihn zu den Bleichgesichtern zu senden, damit er das Fliegen von ihnen lerne. Er ging und tat, was ich von ihm begehrte. Jetzt ist er zurückgekehrt. Er behauptet, ein Flieger geworden zu sein, und sagt, daß er einen eignen Adler erfunden habe, auf dessen Schwingen er sich verlassen könne. Ich glaube es ihm, denn er ist mein erster und oberster Winnetou, und es kam noch nie ein unwahres Wort über seine Lippen. Dennoch frage ich ihn heute in diesem wichtigen Augenblick: Getraust du dich, dort hinaufzufliegen und nachzusehn, ob wirklich ein Stein vorhanden ist, unter dem der Schlüssel zu den Gräbern der Könige verborgen liegt?«

Der Junge Adler antwortete sofort und in zuversichtlichem Ton:

»Ich getraue es mich nicht nur; es ist sogar leicht.«

»Und wann kannst du es tun?«

»Sobald du es wünscht. Die Zeit, die du bestimmst, ist mir recht.«

»Dann jetzt noch nicht. Der heutige Tag hat seine Aufmerksamkeit auf andres zu richten. Aber ich danke dir für deine Zuversicht. Sie macht mich fest in meinem Zukunftsglauben!«

Unser Blick reichte, wie bereits gesagt, bis hinunter an den Schleierfall. Da sahen wir jetzt Klara mit dem Ingenieur und einigen Indianern, die photographische Apparate trugen; sie befand sich also in voller Tätigkeit. Wir aber kehrten zum Turm und von dort ins Schloß zurück, wo zu meiner Überraschung Old Surehand und Apanatschka auf mich warteten.

»Wundert Euch nicht, daß Ihr uns bei Euch seht«, redete mich Old Surehand an. »Es ist eine etwas unklare, aber, wie es scheint, höchst wichtige Sache, die uns zu Euch führt. Kennt Ihr den sogenannten Nigger, der die Arbeiterkantine bewirtschaftet?«

»Ich habe ihn einmal gesehn«, antwortete ich vorsichtig.

»Und mit ihm gesprochen?«

»Nein.«

»Habt ihn also nicht beleidigt?«

»Nie.«

»Dennoch hat er einen fürchterlichen Haß auf Euch. Weshalb, das könnt Ihr Euch wohl denken. Er steht auf unsrer Seite. Wir können ihm also nicht zürnen. Aber er ist ein höchst unbedachtsamer, jähzorniger und gewalttätiger Mensch und scheint jetzt mit seinem Haß gegen Euch zu weit gehn zu wollen. Vorhin war er in einer geschäftlichen Angelegenheit bei uns und hat bei dieser Gelegenheit in einer Weise von Euch gesprochen, die uns in Besorgnis versetzt. Er sagte, heut sei Euer letzter Lebenstag; es würden auch noch andre dran glauben müssen; heut müsse es sich zeigen, wer Herr und Gebieter am Mount Winnetou sei. Er schien betrunken zu sein. Wir haben ihn bisher für brauchbar gehalten; diese seltsamen Reden aber erregen unser Bedenken. Wir sind gekommen. Euch zu warnen. Es scheint etwas gegen Euch im Werk zu sein, doch konnten wir leider nicht erfahren, was.«

»Ich danke Euch!« antwortete ich. »Ich bin bereits gewarnt.«

»Bereits gewarnt? Das soll uns freuen! Ihr seid noch immer der alte und wißt immer mehr als andre. Sagt also, ist unsre Vermutung richtig? Hat man etwas gegen Euch vor?«

»Nicht nur gegen mich, sondern auch gegen andere.«

»In der Tat? Was?«

»Man will mich und überhaupt alle Gegner des steinernen Denkmals beiseiteschaffen. Ich bin von allem unterrichtet und habe inzwischen meine Vorkehrungen getroffen. Da ihr so ehrlich seid, mich, euern Widersacher, zu warnen, so will ich euch ins Vertrauen ziehn.«

Ich erzählte ihnen, was nötig war. Die Wirkung läßt sich denken. Sie wollten sofort mit allen vorhandnen Kräften nach dem Tal der Höhle ziehn, um den Feinden in die Höhle zu folgen und sie dort niederzumetzeln. Zum Glück aber hatte ich ihnen von der Beschaffenheit der Höhle und davon, daß ich ihre Ausgänge kannte, nichts mitgeteilt. Sie konnten also ohne mich nicht handeln. Es kostete mich trotzdem große Mühe, sie zu beruhigen und ihnen das Versprechen abzuringen, die Leitung dieser Angelegenheit einzig und allein in meiner Hand zu lassen. Eins aber vermochte ich nicht zu verhüten, und das war, daß sie sofort hinaus zur Kantine drängten, um den Nigger zur Rede zu stellen und sich seiner Person zu bemächtigen. Es konnte mir dadurch leicht ein Strich durch alle meine Berechnungen entstehn, und so mußte ich wohl oder übel mit ihnen reiten, um wenigstens zu verhüten, was noch zu verhüten war.

Als wir während dieses Ritts am Schleierfall vorüberkamen, herrschte dort eine rege Tätigkeit. Die Vorbereitungen zur Festbeleuchtung heut abend nahmen alle Kräfte in Anspruch. Beim Vorbeireiten warf ich einen forschenden Blick auf die neu eingegrabnen Masten, und da war es mir, als stände das Standbild heut bedeutend schiefer als vorher und als hätten sich auch die Gerüste weiter geneigt.

Bei der Kantine fanden wir meine Frau mit dem Ingenieur. Sie machten Aufnahmen. Die beiden Enters waren dabei. Sie hatten, wie ich später erfuhr, in der Kantine gesessen und waren herausgekommen, um zuzusehn. Grad als wir bei ihnen von den Pferden stiegen, kam der Nigger aus dem Haus. Old Surehand und Apanatschka nahmen ihn sofort in Beschlag. Sie machten weder Einleitungen noch lange Umstände. Old Surehand platzte sogleich unvorsichtig heraus.

»Wir sind gekommen, dich zu verhaften!« sagte er. »Du kommst uns grad recht!«

»Verhaften? Mich?« staunte der Nigger. »Möchte den sehn, der das fertig brächte! Darf ich fragen, weshalb?«

»Wegen des Theaters, das heut abend gespielt werden soll.«

Der Mensch erschrak, faßte sich aber schnell. Er machte nicht den geringsten Versuch zu leugnen, sondern lachte vielmehr laut auf.

»Dafür, daß ich euch eure Gegner vom Hals schaffen will, wollt ihr mich verhaften? Well! Ist das Dankbarkeit?«

»Glaubst du, uns täuschen zu können?« fragte Apanatschka. »Wir wissen genau, daß es sich nicht nur um unsre Gegner handelt, sondern auch um uns selber! Nicht nur sie, sondern auch wir sollen abgeschlachtet werden.«

»Von wem?«

Die Augen des Niggers funkelten, während er diese Frage tat. Apanatschka zürnte weiter:

»Waren To-kei-chun und Tusahga Saritsch gestern abend etwa nicht bei dir? Ist da nicht ausführlich genug davon gesprochen worden, was geschehn soll? Saßen nicht die beiden Enters auch dabei?«

Das war ein unverzeihlicher Fehler, den Apanatschka beging. Die Folgen stellten sich augenblicklich ein. Der Nigger griff in die Tasche, jedenfalls nach einem Revolver. Er richtete seine Gestalt hoch auf, sah einen nach dem andern von uns an und sagte, indem er die Worte pfeifend zwischen den Zähnen hervorstieß:

»Also verraten! Doch schadet das nichts! Was werden soll, wird doch!«

Klara war an meine Seite geeilt. Sie glaubte mich in Gefahr. Auch die beiden Enters waren näher getreten. Sie standen jetzt neben dem Nigger. Der betrachtete sie mit einem tief verächtlichen Blick.

»Und wißt ihr, wer es verraten hat? – Ihr Schufte! Denn die beiden Häuptlinge werden sich doch nicht selber verraten! Eigentlich sollte ich euch sofort niederschießen! Aber ihr kommt erst an zweiter Stelle dran! An erster Stelle steht dieser fremde, deutsche Hund mit seiner Squaw, die ich sofort durchlöchern werde, um –«

Er riß den Revolver aus der Tasche, spannte ihn und richtete ihn auf mich und meine Frau. Da aber wurde er von den beiden Enters gepackt, so daß er nicht schießen konnte. Auch Old Surehand und Apanatschka zogen rasch ihre Revolver. Klara wollte sich vor mich stellen, aber ich schob sie mit festem Griff hinter mich.

»Keine Torheit!« sagte ich kurz.

Der Nigger versuchte, die Brüder von sich abzuschütteln. Sie ließen nicht los.

»Wehe, wenn du auf Old Shatterhand schießt! Schieß lieber auf mich!« rief Hariman Enters.

Sebulon leistete seinem Bruder in dem Ringen tapfer Beistand.

Dem Nigger gelang es aber doch, seine Rechte freizumachen.

» Well!« brüllte er. »Also zunächst ihr beide, damit ich euch los werde!«

Er richtete den Lauf seiner Waffe blitzschnell auf Sebulon und dann auf Hariman. Die Schüsse krachten. Zugleich aber fielen noch zwei andre Schüsse – aus den Revolvern Apanatschkas und Old Surehands. Diese Kugeln drangen dem Riesen mitten in die Stirn. Er drehte sich halb um sich selbst, begann zu wanken und stürzte dann mit den beiden Enters, die in die Brust geschossen waren, zu Boden. Apanatschka und Old Surehand warfen sich schnell auf ihn, um nötigenfalls weiteres Unheil zu verhindern. Meine Frau kniete bei Sebulon und ich bei Hariman nieder. Beide waren tödlich getroffen. Hariman öffnete noch einmal die Augen.

»Ich war Euer Winnetou, seit jenem Abend am Nugget Tsil«, flüsterte er. »Ist mir mein Haß vergeben?«

»Alles, alles!« antwortete ich.

»Auch meinem Vater?«

»Auch ihm!«

»So – sterbe ich – froh –!«

Diese Worte hauchte er nur noch. Dann war er tot. Sebulon lag still; aber seine geschlossenen Augenlider zitterten. Meine Frau weinte. Sie streichelte ihm leise die Wangen. Da öffnete er plötzlich die Augen, richtete sich auf dem einen Ellbogen halb auf, sah sie an und fragte überraschend lebhaft:

»Ihr weint, Mrs. Burton? – Und ich bin so glücklich!«

Er lächelte und zog mit seiner letzten Kraft ihre Hand an seine Lippen.

»Lest den Namen unter meinem Winnetoustern!« bat er.

Sie nickte.

Nach kurzer Pause fuhr er mit immer leiser werdender Stimme fort:

»Glaubt Ihr – daß mein Vater – nun erlöst ist?«

»Ich glaube es«, versicherte sie.

»Dann – Gott sei Dank – ist es doch nicht umsonst – nicht umsonst!«

Er sank zurück und streckte sich. Auch er war erlöst. Wir standen auf. Der riesige Nigger lag tot, mit starr geöffneten Augen zwischen seinen Opfern.

»Mußte das alles sein?« fragte meine Frau.

»Nein!« schüttelte ich mißbilligend den Kopf.

»Ja, es mußte nicht sein«, stimmte Old Surehand bei. »Wir konnten es umgehn. Wir waren zu unbesonnen!«

»Wie mitunter schon in früherer Zeit«, konnte ich mir nicht versagen, beizustimmen.

Sie nahmen den Tadel ruhig hin.

»Was soll nun werden?« fragte ich. »Glaubt ihr, die Verschwörung der Arbeiter durch den Tod ihres Anführers beseitigt zu haben? Oder wird nicht grade dieser Gewaltstreich das, was wir verhüten wollen, zum schnelleren Ausbruch bringen?«

»Hm«, brummte Old Surehand verlegen. »Ihr habt recht. Was ist zu tun?«

Sie sahen einander an, fanden aber keine Antwort auf diese Frage.

»Wie lange dauert es, bis ein Dutzend Eurer Kanean-Komantschen hier sein können?« erkundigte ich mich.

»Wenn ich sie hole, höchstens eine Viertelstunde«, meinte Apanatschka.

»Noch weiß niemand, was hier geschehn ist. Die Arbeiter sind jetzt bei den Steinbrüchen und am Wasserfall. Holt verschwiegne Leute, die den Nigger fortschaffen und einstweilen verstecken! Dann wird man hören, er habe im Streit die Brüder Enters erschossen und sich der Strafe durch die Flucht entzogen. So wissen die Arbeiter nicht, woran sie sind, und man kann hoffen, daß sie sich ruhig verhalten.«

»Das ist ein guter Gedanke!« stimmte Old Surehand zu. »Eile! Hol die Leute!«

Diese Aufforderung galt Apanatschka, der sofort davongaloppierte und nach überraschend kurzer Zeit die Komantschen brachte, die den toten Nigger auf ein Pferd banden und sich mit der Leiche entfernten. Zwei von ihnen blieben als Totenwache bei dem erschossenen Brüderpaar zurück.

Klara war tief erschüttert. Sie verlangte heim. Darum ritt ich mit ihr nach dem Schloß, das sie erst am Nachmittag, als sie sich beruhigt hatte, wieder verließ, um mit dem bereitwilligen Ingenieur ihre Bildaufnahmen fortzusetzen. Sie kam erst gegen Abend wieder zurück und meldete, daß sich die Schaulustigen schon unten auf dem Festplatz am Schleierfall einstellten. Nach dem Essen stiegen wir mit dem Bewahrer der großen Medizin und dem Jungen Adler hinab. Dick und Pitt, Intschu inta und andre waren schon vorausgegangen.

Tatellah-Satah hatte alles Nötige ausführlich mit mir besprochen und daraufhin seine Anweisungen erteilt. Die Arbeiter sollten am Denkmal bleiben. Die allgemeinen Zuschauer waren nach dem großen Platz vor dem Standbild gewiesen, der Tausende von Menschen faßte. Dieser Platz zog sich rückwärts bis zu den beiden Teufelskanzeln hin, die nur von den Häuptlingen, Unterhäuptlingen und sonstigen leitenden Persönlichkeiten besetzt werden durften. Zwischen den Arbeitern und den Zuschauern stand eine dreifache Reihe von Winnetous, die alle mit Revolvern bewaffnet waren und dafür zu sorgen hatten, daß die Arbeiter sofort überwältigt werden konnten, wenn es ihnen etwa einfallen sollte, nach dem Plan des Niggers und der verbündeten vier Häuptlinge zu handeln.

Zu erwähnen ist, daß im Verlauf des heutigen Tags die ersten Wagenzüge angekommen waren, mit deren Hilfe die hier zu erwartende Menschenmenge von der Bahn aus mit Lebensmitteln versehn werden sollte. Mit diesen Wagen hatten sich zugleich auch mehrere Scharen neuer Mount-Winnetou-Pilger eingestellt, die mit Freude vernahmen, daß sie schon am heutigen Abend das Glück haben würden, die herrlich erleuchtete Gestalt ihres geliebten Winnetou zu sehn. Sie waren nun auch schon zum Festplatz gewandert, und so kam es, daß sich dort eine gewaltige Menschenmenge angesammelt hatte. Die Häuptlinge waren, wie schon gesagt, auf die Teufelskanzeln verteilt und zwar in folgender Weise: Links vom Fahrweg lagen die Kanzeln 1 und 2, rechts von ihm die Kanzeln 3 und 4. Die Kanzeln 1 und 3 waren die vorderen, die Kanzeln 3 und 4 die hinteren. Wer auf Kanzel 1 war, der hörte, was auf Kanzel 3 gesprochen wurde. Wer sich auf Kanzel 2 befand, der vernahm alles, was auf Kanzel 4 verlautete. Und so auch umgekehrt. Da es für uns sehr wichtig war, was die vier feindlichen Häuptlinge und ihr Anhang sprachen, so hatte ich unauffällig veranlaßt, daß sie auf Kanzel 3 Platz nahmen, während wir auf Kanzel 1 gingen. Wir mußten natürlich auch bei unsrer Unterhaltung vorsichtig sein und durften, was drüben nicht gehört werden sollte, nur flüstern. Von den Kanzeln 2 und 4 war nur die 4 besetzt; die 2 hielten wir für uns frei.

Als wir auf dem Festplatz anlangten, war er erst notdürftig durch schwache elektrische Birnen erleuchtet. Man machte uns Platz, nach unsrer Kanzel 1 zu kommen. Das war dieselbe, von deren Fuß aus der geheime Gang in die Höhle führte. Dort wurden wir von den uns befreundeten Häuptlingen empfangen. Sie waren alle da, auch Avaht-Niah, der hundertjährige Häuptling der Schoschonen. Ich hatte ihnen sagen lassen, daß sie die Kanzel ja nicht ohne mich betreten, sondern sich einstweilen an deren Fuß versammeln sollten. Sie hatten das getan, ohne den Grund zu kennen. Jetzt beeilte ich mich, ihnen das Nötige mitzuteilen. Wie erstaunten sie, als sie hörten, daß es sich hier um die Lösung des alten, sagenhaften Geheimnisses handelte! Ich bat sie, nunmehr auf die Kanzel zu steigen, dort aber ganz leise zu sprechen und dabei die Hände vor den Mund zu halten; ich aber würde jetzt zu unsern Gegnern gehn, um mit ihnen zu reden. Es würde jedes Wort hier zu verstehn sein.

Ich ging. Der alte Kiktahan Schonka saß mit seinem Anhang schon oben auf Kanzel 3. Diese Kanzel war gemäß unsrer Anordnung rundum von einer Schar bewaffneter Winnetous besetzt. Denen sagte ich, daß sie alle oben auf der Kanzel als Gefangne betrachten müßten und keinen von ihnen ohne meine besondre Erlaubnis fortlassen dürften. Dann stieg ich hinauf.

»Old Shatterhand!« rief der alte Tangua, der mich zuerst sah und erkannte.

»Ja, ich bin es«, antwortete ich laut. »Ich komme, um euch Wichtiges mitzuteilen, damit ihr nicht vergeblich wartet. Wißt ihr, daß der Nigger, euer Verbündeter, nicht mehr da ist?«

»Wir wissen es«, antwortete To-kei-chun. »Aber er ist nicht unser Verbündeter.«

»Er ist es!« widersprach ich. »Ich stand gestern am offnen Fenster der Kantine, als ihr mit ihm und den beiden Enters den Plan für den heutigen Abend berietet!«

»Uff, uff!« rief er erschrocken aus.

»Nun sind die Enters tot, er aber ist auch tot«, fuhr ich fort. »Old Surehand und Apanatschka haben ihn erschossen!«

»Uff, uff! Uff, uff!« ertönte es rundum.

»Und Pida, der nach dem Tal der Höhle geritten ist, um die viertausend Sioux, Utahs, Kiowas und Komantschen durch die Höhle nach dem Wasserfall zu führen, wird nicht kommen, uns zu überfallen. Wir haben ihm die Wege verlegt und nehmen ihn mit allen seinen Kriegern gefangen.«

»Uff, uff!«

»Und euer Ausschuß ist aufgelöst! Die Brüder Enters haben mir die Schrift gebracht, die von euch unterzeichnet worden ist. Eure ganze Betrügerei und euer Trachten nach meinem Leben ist also bekannt. Die Strafe folgt. Ihr seid hier gefangen. Diese Kanzel ist von unsern Winnetous umstellt. Sie halten euch fest. Jeder von euch, der es wagt zu entfliehn, wird augenblicklich erschossen!«

Jetzt rief niemand uff, uff. Sie waren zu Tod erschrocken. Die vier Herren vom Ausschuß befanden sich ebenfalls hier. Auch sie waren still. Aber diese Stille wurde jäh unterbrochen. Es war, als ob die Erde unter uns wankte. Ich fühlte und hörte ein kurzes, scharfes Zittern und Knirschen unter mir. Ich mußte mich beeilen, von hier fortzukommen.

»Hört ihr es?« fragte ich. »Das war die Stimme der Höhle, in der sich eure unglücklichen Krieger befinden. Sie sind verloren.«

Nach diesen Worten stieg ich schnell von der Kanzel hinab, um zu den Meinen zu kommen. Es herrschte rundum bedrückende Stille. Jedermann war darüber, daß der Boden gewankt hatte, erschrocken. Da ertönte die laute Stimme Old Surehands. Er befahl, daß die Beleuchtung beginnen solle. Der Ingenieur gehorchte, und im nächsten Augenblick wurde die Winnetougestalt taghell beleuchtet, und ihr zu beiden Seiten erschienen auf dem Spiegel des Schleierfalls die stark vergrößerten Gesichtszüge Young Surehands und Young Apanatschkas. Old Surehand hatte bestimmt Beifall erwartet. Aber niemand rührte sich; alle blieben still. Das kopflose Standbild machte nicht den geringsten Eindruck, und die Bilder der beiden jungen Künstler hatten so wenig Besondres oder gar Erhebendes an sich, daß sie die Beschauer vollständig gleichgültig ließen. In diesem Augenblick erreichte ich meine Kanzel. Ich gab den Anwesenden ein Zeichen, ja nicht laut zu sprechen, und fragte leise:

»Habt ihr alles gehört?«

Sie nickten.

»Auch das Beben der Erde?«

»Auch das«, flüsterte Klara ein wenig verstört.

»Das Verhängnis scheint nicht warten zu wollen«, fuhr ich fort. »Ich vermute, es ist da!«

Wieder grollte es in der Erde. Dann war es, als ob irgendwo etwas zusammenbräche. Da erscholl Old Surehands Stimme zum zweitenmal. Der Ingenieur schloß den Projektionsapparat und drehte die Leitungskurbel. Die Bilder verschwanden; dafür aber begannen alle die zahllosen Lichter zu leuchten, von der kleinsten Birne bis hinauf zu den Riesenkugeln auf hoch emporstrebenden Masten. Doch auch das machte keinen Eindruck. Das Licht war kalt, und das Steinbild blieb dasselbe. Man hatte es am Tag gesehn und sah es jetzt nicht anders.

Und doch! Ich sah es anders! Ich sah, daß es sich noch mehr zur Seite geneigt hatte, und zwar so beträchtlich, daß meine Frau erschrocken meine Hand ergriff und mir zuraunte:

»Um Gottes willen! Es stürzt, es stürzt!«

Kaum hatte sie das gesagt, so rollte es unter uns; es stob und knallte und krachte. Das Standbild neigte sich nach links, wankte nach vorn und bog sich nach rechts: ein Donner grollte unter uns hin – ein Getöse, als wollte die ganze Welt untergehn –

»Flieht, flieht! Rettet euch!« brüllten die Arbeiter, indem sie davonstürzten.

Nun brach es erst richtig los. Es folgte ein unbeschreibliches Poltern, Prasseln, Knattern, Platzen, Bersten, Schmettern, Brausen und Dröhnen. Der Boden öffnete sich. Ein Abgrund gähnte. Die Figur drehte sich mit ihrer gewaltigen Unterlage langsam um sich selbst und verschwand dann mit einem Donnerschlag, der uns die Ohren sprengen wollte, in der Tiefe. Und nicht nur die Figur, sondern auch alles, was sich in der Nähe befand, die Gerüste, die Stangen, die Balken, die Masten mit den Beleuchtungskörpern, alles, alles wurde mit hinabgerissen. Im nächsten Augenblick herrschte tiefste Dunkelheit. Tausende von Stimmen vereinten sich zu einem einzigen großen Schrei des Entsetzens. Dann trat für einige Sekunden lautlose Stille ein, aus der sich nur die verzweifelte Stimme des alten Tangua erhob.

»Pida, Pida! Mein Sohn, mein Sohn! Er ist verloren!«

Jetzt wurden all die tausend Stimmen wieder laut. Das gab ein Lärmen, Brüllen und Zetern, als wäre diese ganze große Menge plötzlich wahnsinnig geworden. Niemand wollte auf seinem Sitz bleiben. Alles drängte fort, zum Tal hinaus. Das Unglück konnte sich ja wiederholen und weitergreifen. Auch unsre Häuptlinge waren schnell von der Kanzel gestiegen und berieten sich eilig, was zu tun sei. Nur sechs Personen waren oben geblieben: Tatellah-Satah, Dick und Pitt, Intschu inta, meine Frau und ich. Der Bewahrer der großen Medizin bat mich leise:

»Laß keinen wieder herauf! Nur wir sechs wollen hören, was drüben auf der andern Kanzel gesprochen wird.«

»Nicht wir sechs, sondern nur ihr zwei«, flüsterte ich. »Wir andern haben jetzt keine Zeit zu lauschen. Hier gilt es zu retten, was noch zu retten ist!«

Ich schickte Intschu inta und die zwei Westmänner ins Schloß, Fackeln zu holen, und suchte Old Surehand und den Ingenieur auf, um zu fragen, ob es nicht möglich sei, schnell wieder elektrisches Licht zu schaffen. Sie versprachen, sich darum zu bemühn; Leitungsdrähte und Glühlampen seien genug vorhanden. Sodann beauftragte ich sechs von den zwölf Apatschenhäuptlingen, mit ihren Leuten sofort, trotz des nächtlichen Dunkels, nach dem Tal der Höhle zu reiten und möglichst schnell Bericht zu erstatten, wie es dort stehe.

Kaum hatte ich das getan, so nahte neue Gefahr. Der Wasserfall verschwand nicht mehr vollständig in der Tiefe. Die hinabgestürzten Erd- und Steinmassen hatten sich in den Abfluß gelegt, und plötzlich stieg das Wasser in dem jäh entstandnen Riesenloch immer höher und höher. Nicht lange, so mußte es das Tal überschwemmen, und dann war es nicht mehr möglich, den in der Höhle Verschütteten von hier aus Rettung zu bringen. Glücklicherweise aber kam es nicht so weit. Die Gewalt des Wassers war größer als das Gewicht der Erdmassen. Die aufsteigenden Fluten, die anfangs einen See bilden wollten, begannen zu mahlen, zu drehn und zu gurgeln. Sie hatten einen neuen Weg gefunden. Es bildete sich ein wirbelnder Trichter, der schließlich die Wasser in die Tiefe riß.


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