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6. Am ›Ohr des Manitou‹

Da es der Sioux und Utahs wegen galt, wachsam zu sein, und Dick Hammerdull mit dem Herbeischaffen der Beute beschäftigt war, bat ich zunächst Pitt Holbers, vorläufig noch bei den Pferden zu bleiben, und der alte Trapper nickte gutmütig dazu. Dann kletterten wir nach unserm hochgelegnen Lauscherposten hinauf.

Von oben aus hatten wir die Ellipse der Teufelskanzel wieder so deutlich unter uns liegen, daß es mir nicht schwer wurde, meiner Frau nachzuweisen und zu erklären, wie es kam, daß man an je einem Brennpunkt alles, was an dem andern gesprochen wurde, so deutlich hören konnte.

Als der Bär gebracht wurde, übernahm der Junge Adler die Wache hier oben, und wir stiegen wieder zum Zelt hinab, wo Hammerdull meiner Frau ausführlich beschrieb, wie man Bärentatzen einzuschnüren und in die Erde zu graben hat, so daß sie schnell mürbe werden, ohne daß Maden und Würmer sich einzustellen brauchen. Die Schinken wurden sorgfältig von allem Fett befreit, in Asche gewälzt und dann auch zum Aufheben und Mitnehmen eingeschnürt. Die Vorderkeulen aber unterwarfen Dick und Pitt einem andern, sehr anstrengenden Verfahren; sie sollten zuerst verzehrt werden und wurden deshalb von ihnen wohl eine Stunde lang geklopft, mit einer kurzen, starken Keule, die sie sich aus einem Ast schnitten. Ich aber suchte inzwischen die verschiednen Kräuter zusammen, die ein jeder erfahrene Westmann für unerläßlich hält, wenn am Spieß oder zwischen heißen Steinen gebratnes Bärenfleisch wirklich schmecken soll. So hatte ein jeder zu tun, das Herzle aber am allermeisten, denn sie buk heut auch Brot, gleich für mehrere Tage, dazu einen leckern Brombeerkuchen, wozu die Beeren massenhaft in nächster Nähe unsres Zelts standen. Hierdurch wurde die erste der von Trinidad mitgenommenen Mehlbüchsen leer, und Klara beeilte sich, sie mit dem zerlassenen Bärenfett zu füllen. Denn Bärenfett ist im Westen ein gar wichtiger Gegenstand, der vielfach benutzt wird und jeden Braten, sogar jedes Backwerk, wie Kenner behaupten, schmackhafter macht. Diese Wichtigkeit besaß es schon in alter Zeit bei den Indianern, noch ehe die Weißen kamen. Fast jede Stadt und jedes Dorf hatte einen besondern Stall oder Zwinger, worin Bären zum Schlachten gezüchtet und gemästet wurden. –

Die Indianer kamen heut und auch morgen noch nicht. Der Junge Adler und ich benutzten diese freie Zeit, den Wortschatz, den meine Frau aus der Sprache und der Ausdrucksweise der Apatschen besaß, möglichst zu vermehren. Sie hatte den Wunsch, besonders Kolma Puschi mit ihren Kenntnissen zu erfreuen.

Erst am dritten Tag stellten sich die Erwarteten ein, und zwar gegen Abend. Wir sahen sie von der Plattform aus über einen fernliegenden, kahlen Bergrücken kommen. Sie ritten einzeln hintereinander, im sogenannten Gänsemarsch, ganz so, wie es früher geschah, als man den Westen noch als ›wild‹ bezeichnete. In jener Zeit aber hätten sie sich gewiß sehr gehütet, ihren Weg über diesen nackten Berg zu nehmen, der ihnen so wenig Deckung bot, daß man sie sofort sehen mußte. Da es sich um keinen Kriegszug handelte, wenigstens jetzt noch nicht, so waren sie auch noch nicht mit den Kriegsfarben bemalt, woran man die Stämme voneinander zu unterscheiden vermag. Dennoch gab es einige Kennzeichen, besonders an ihren Lanzen und an der Anschirrung, Ausschmückung und Halfterung ihrer Pferde, woraus ich erkannte, daß wir es mit Utah-Indianern zu tun hatten, und zwar in sehr gemischter Zusammensetzung. Wir sahen – um mich eines gebräuchlichen Ausdrucks zu bedienen – wilde, halbwilde und zahme Utahs. Sie gehörten zu den Unterabteilungen der Pah-Utahs, der Tehsch-Utahs, der Kapote-, Wihminutsch- und Elkmountain-Utahs, der Dampa-, Pahwang- und sogar der Sempisch-Utahs. Unter den Kapote-Utahs bemerkte ich einen grauköpfigen Häuptling, bei dessen Anblick ich an Tusahga Saritsch Utahsprache: ›Schwarzer Hund‹ denken mußte, von dem ich im zweiten Band von ›Old Surehand‹ erzählt habe. Aber die Entfernung war leider so groß, daß ich die Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. Später stellte es sich heraus, daß ich mich nicht geirrt hatte; es war wirklich Tusahga Saritsch, der mir bekannte Häuptling der Kapote-Utahs, der sich damals nur notgedrungen mit uns aussöhnte, jetzt aber, da er am Rand des Grabes stand, wieder zu unsern Feinden gehörte.

Als die Utahs den Felsenkessel erreichten, ersahen wir aus ihrem Verhalten, daß dieser Ort auch ihnen heilig war. Sie betraten ihn nur mit Scheu. Sie brachten sich sogar Feuerholz mit, um die Bäume und Sträucher der Teufelskanzel schonen zu können. Und sie blieben nur im westlichen Teil; den östlichen samt dem ›Fels der Verschwiegenheit‹ wagten sie nicht zu betreten. Und, was für uns das wichtigste war, sie umlagerten die Teufelskanzel nur im weiten Kreis. Keiner nahte sich ihr, und noch viel weniger hatte einer von ihnen den Mut, sie zu ersteigen. Die Verhandlungen und Beratungen begannen jedenfalls erst nach dem Eintreffen der Sioux. Was dann besprochen wurde, das wollten wir hören, nichts andres. Darum verzichteten wir darauf, uns jetzt schon anzuschleichen und uns um bloßer Neugier willen in die Gefahr zu begeben, entdeckt zu werden. Wir blieben in unserm Lager und nahmen uns vor, einmal auszuschlafen, weil wir nicht wissen konnten, ob wir hierzu so bald wieder Gelegenheit hatten.

Am Abend sah unser Beobachter inmitten des Lagers einige Feuer brennen, die leider nicht ausreichten, die Gestalten der daran sitzenden Indianer zu erkennen. Auch still ging es dort unten zu; kein Laut drang bis herauf in unsre Höhe. Wir schliefen gut. Nichts störte unsre Ruhe.

Der nächste Tag verging, ohne daß die Sioux kamen. Aber am darauf folgenden Morgen sahen wir, daß die Posten sich einstellten, das Erscheinen der Erwarteten zu melden. Diese kamen genau so im Gänsemarsch wie vorgestern die Utahs. Voran ritt ein alter, langer und hagrer Häuptling, der sein Pferd von zwei einfachen Indianern führen ließ, daß es ja keinen Fehltritt tun sollte. Er schien also nicht mehr gut bei Kräften zu sein. Daß er trotzdem einen so weiten Ritt unternahm, ließ darauf schließen, daß ihn der Gedanke, der ihn nach dem Süden trieb, innerlich entflammte.

Er wurde von den Utahs mit großer Achtung empfangen. Als man ihn vom Pferd gehoben hatte, sah man erst, wie lang und schmal er war. Wäre es nicht lichter Tag gewesen, so hätte man ihn für ein Gespenst halten können. Er war, wie ich dann bald feststellte, Kiktahan Schonka, der ›Wachende Hund‹, der den Apatschen und allen ihren Freunden den Untergang geschworen hatte. Man breitete für ihn einige weiche Decken aus, dem Utah-Häuptling Tusahga Saritsch gegenüber und setzte ihn nieder wie ein Kind. Hinter ihm wurden einige Pfähle eingeschlagen, damit er sich anlehnen konnte. Während ich ihn betrachtete, ging es mir durch den Sinn, daß sich in solchen menschlichen Ruinen Haß und Rachgier länger zu erhalten pflegen als in gesunden, widerstandsfähigen Personen.

Nun war es Zeit für uns, unsern Lauscherposten zu beziehn. Meine Frau wäre gern mitgegangen; sie konnte mir aber nichts nützen, wäre mir eher hinderlich gewesen. Sie mußte also im Versteck bleiben. Die beiden Jäger verzichteten freiwillig darauf, mich zu begleiten.

»Was soll ich dort unten?« fragte Hammerdull. »Wer die Indsmen belauschen will, muß ihre Sprache viel besser kennen als ich. Ich heiße zwar Dick Hammerdull und bin mit dem Gewehr in der Hand kein unebner Kerl; aber grade da, wo die Sprachen und Mundarten anfangen, hört meine Klugheit vollständig auf! Bleibe also hier oben bei unsrer Mrs. Burton und lasse mir von ihr einen neuen Brombeerkuchen backen. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?«

»Wenn du denkst, daß ich dir beim Kuchenessen gern Gesellschaft leisten werde, lieber Dick, so hast du allerdings recht.«

So stieg ich also mit dem Jungen Adler durch den Wald den Berg hinab. Wir nahmen unsre Gewehre mit, um für alle Fälle eine weittragende Waffe in der Hand zu haben. Dabei wandten wir nach guter Westmannsart alle Vorsicht an, keine Spuren zu hinterlassen und nicht gesehn zu werden. Denn morgen war der Tag, den die beiden Santers uns bezeichnet hatten. Da kamen sie wahrscheinlich hier an. Es war aber auch möglich, daß sie sich eher einstellten und sich heimlich hier umhertrieben, um die Indianer zu belauschen, bevor sie sich von ihnen sehn ließen. Wir stiegen also nur an solchen Stellen hinab, wo der Boden keine Fährte annahm, und taten, wie wir dann später bemerkten, sehr wohl daran. Unten drangen wir sofort ins tiefste Dickicht ein, um so schnell wie möglich zu verschwinden.

Als wir unsern Lauscherposten, unser kleines Inselhäuschen, erreicht hatten, sah ich, daß meine Frau uns allerdings eine bequeme Gelegenheit zum Sitzen und Liegen geschaffen hatte. Zunächst aber konnten wir uns nicht ausruhen. Vorerst mußten wir noch auf dem Posten bleiben, um uns die Roten betrachten zu können, wenn auch nicht mit bloßen Augen, so doch durch mein Fernglas.

Wir zählten genau vierzig Utahs und vierzig Sioux. Diese Zahl schien vorher bestimmt worden zu sein. Jedenfalls handelte es sich nur um die Ober- und Unteranführer. Die Krieger ohne Rang, also die eigentlichen Truppen, von denen die Apatschen angegriffen werden sollten, waren nicht bis hierher mitgenommen worden. Die beiden obersten Häuptlinge habe ich schon genannt. Außer ihnen gab es fünf Unterhäuptlinge der Sioux und fünf Unterhäuptlinge der Utahs. Die übrigen waren wohl Leute, die sich in irgendeiner Weise hervorgetan hatten und darum das Vertrauen der Anführer besaßen.

Vor meinen Augen entrollte sich das übliche Bild indianischen Treibens. Man hatte die Pferde versorgt und setzte sich nun zum Essen nieder.

Ich beobachtete vor allen Dingen die Anführer, Tusahga Saritsch und Kiktahan Schonka. Die andern gingen mich jetzt weniger an. Den Utah-Häuptling erkannte ich, als ich mein Glas auf ihn richtete, sofort wieder. Er schien sehr alt geworden zu sein, viel älter, als seine Jahre erwarten ließen, und recht runzlig. Solche Leute besitzen ja nicht die Seelenkraft des geistig Hochstehenden, die auch äußerlich jung erhält. Der Sioux anderseits hatte eine kraß hervorstehende, sehr schmale und, fast möchte ich sagen, messerscharfe Nase, einen breiten Mund mit gar keinen Lippen und tief in ihren Höhlen liegende Augen. Sein Haar trug er mit fremdem Haar verlängert. Man soll nicht vorschnell über seine Mitmenschen urteilen, aber wenn ich ehrlich sein will, muß ich sagen, daß dieser Indsman mir schon auf den ersten Blick unangenehm, ja sogar widerlich erschien.

Das Essen dauerte lange, wohl über zwei Stunden. Dann begaben sich die Häuptlinge empor auf die Kanzel. Kiktahan Schonka konnte die Stufen nicht ersteigen. Er wurde mit Hilfe von Lassos gezogen und von unten geschoben, bis er oben war. Von diesem Augenblick an begannen wir zu hören. Die Friedenspfeifen wurden angezündet. Der Oberhäuptling der Utahs stand auf, blies den Rauch nach den sechs Richtungen und hielt die erste Rede. Der Oberhäuptling der Sioux konnte sich nicht erheben; aber er tat die üblichen Züge aus der Pfeife und sprach sodann im Sitzen. Die Unterhäuptlinge folgten diesem Beispiel einer nach dem andern. So hörten wir insgesamt zwölf Reden, von denen einige recht wirksam waren, die ich aber hier unmöglich wiedergeben kann. Und doch bildeten sie nur die Einleitung zu den Verhandlungen, die gepflogen werden sollten. Man hatte hierfür drei volle Tage angesetzt, die wir also hier bei oder in der Hütte verbringen mußten, um ja nichts zu versäumen. Das war ein wenig viel. Glücklicherweise aber stellte sich bald eine triftige Veranlassung ein, diese lange Zeit so abzukürzen, daß aus den drei Tagen nur drei Stunden wurden, und diese Veranlassung – war ich selber!

Aber sehr hörenswert waren diese zwölf Reden doch. Sie begannen alle mit der Versicherung, daß die Apatschen und die mit ihnen verbündeten Stämme die niederträchtigsten Menschen seien, die man sich denken könne, daß aber der Gipfel dieser Niederträchtigkeit von Winnetou und Old Shatterhand, seinem Freund, erreicht worden sei. Und diesem Winnetou solle jetzt ein Denkmal gesetzt werden! Ursprünglich hätte man sogar an ein Denkmal von purem Gold gedacht! Und dieses Gold sollten alle Stämme der Indianer liefern! Aus all den Bonanzen, die man den Bleichgesichtern jahrhundertelang verheimlicht habe! Das hätte insgesamt viele, viele Zentner Gold ergeben! Für diesen einen, verächtlichen Menschen, den man nie anders genannt habe als nur den Coyoten, den Pimo! Nun sei man von dem Gold abgekommen, aber das Denkmal sei geblieben. Und von wem solle es gefertigt werden? Von einem Bildhauer und von einem Maler! Von Young Surehand und Young Apanatschka, deren Väter Verräter an der ganzen roten Rasse und nichtswürdige Geschöpfe der Bleichgesichter seien. Dieses Denkmal sei jetzt einstweilen auf Leinwand skizziert und aus Ton modelliert worden. Es werde am Mount Winnetou ausgestellt, und die Häuptlinge, die berühmtesten Männer und Frauen aller roten Völker seien eingeladen, sich dort einzustellen, um Figur und Bild anzusehn! Sogar Old Shatterhand sei aufgefordert, der räudige Hund!

Diese wahnsinnige Überhebung der Apatschen, so hieß es weiter, muß gedämpft werden! Sie müssen erfahren, daß man wohl einem Utah- oder einem Siouxkrieger ein solches Denkmal setzen kann, nicht aber einem kläffenden Köter vom Rio Pecos! Das Wann und das Wie zu beraten, sei man hier am ›Ohr Manitous‹ zusammengekommen. Und was da beschlossen werde, das müsse man ausführen, und wenn die ganze indianische Rasse dabei vollends zugrunde gehe!

So weit war man gekommen; da trat eine Störung ein. Sie kam in Gestalt eines Menschen am Bach dahergeschritten, und dieser Mensch war kein andrer als Sebulon L. Enters. Er hatte Sporen an den Stiefeln, war aber ohne Pferd. Er trug ein Gewehr und war genau so ausgerüstet, wie vor dreißig Jahren ein Westmann aufzutreten pflegte. Die Sioux hinderten ihn nicht heranzukommen; sie mußten ihn also kennen. Sofort führten sie ihn nach der Kanzel, zu der er hinaufstieg. Und nun hörten wir auch wieder Stimmen.

»Wer ist dieses Bleichgesicht?« fragte Tusahga Saritsch.

»Ein Mann, den ich kenne«, antwortete Kiktahan Schonka. »Ich habe ihn an diesen Ort bestellt. Er sollte erst morgen kommen. Warum kommt er schon heut?«

Diese Frage war an Sebulon gerichtet. Sie klang nicht freundlich. Der Indianer pflegt den Weißen, den er als Spion gebraucht, stets nur verächtlich zu behandeln.

»Ich mußte mich beeilen, so bald wie möglich hier zu erscheinen, um euch zu warnen,« antwortete Sebulon.

»Vor wem?«

»Vor euerm ärgsten Feind, vor Old Shatterhand. Er kommt hierher!«

»Uff, uff, uff, uff!« ertönte es rund im Kreis, und auch Kiktahan Schonka selber rief aus:

»Uff, uff! Old Shatterhand! Woher weißt du das?«

»Er sagte es mir.«

»So sahst und sprachst du ihn?«

»Ja.«

»Wo?«

»Am fallenden Wasser des Niagara.«

»Uff! Wir wissen, daß er kommen soll. Aber daß er schon da ist, das wußten wir noch nicht. Und er kommt nach der Teufelskanzel? Was will er hier?«

»Euch belauschen.«

»Uff, uff! So weiß er wohl gar, daß wir uns hier versammeln und was wir hier wollen?«

»Er weiß es.«

»Von wem?«

»Das sagte er nicht. Er reiste ab. Wir folgten ihm nach kurzer Zeit. In Trinidad trafen wir seine Spur. Er ist dort wieder fort, wahrscheinlich gradeswegs hierher.«

»Uff, uff, uff, uff!« ging es wieder rund im Kreis, und Kiktahan Schonka rief zornig aus:

»Ist dieser Halunke denn noch nicht alt genug, die Schärfe des Auges und der Ohren zu verlieren? Konnte er nicht drüben, jenseits des großen Wassers, in seinem stinkenden Wigwam bleiben?«

»Und seine Frau mit ihm!« fügte Sebulon hinzu.

»Seine Squaw, sagst du? – Hat er sie dabei?«

»Jawohl.«

»Sie war mit am Fall des Niagara?«

»Ja. Und auch in Trinidad war sie bei ihm. Wir hörten es, als wir ankamen und uns erkundigten.«

»Uff, uff! Das ist ein gutes Zeichen für uns! Sein Kopf ist schwach geworden! Wer seine Squaw mit sich auf den Kriegspfad der roten Männer schleppt, der ist verrückt, der kann keinem Menschen mehr etwas schaden. Er mag immerhin kommen. Wir fürchten ihn nicht. Er wird an den Marterpfahl gebunden, und sein Weib machen wir zu unsrer Magd!«

Da fiel Tusahga Saritsch, der Oberhäuptling der Utahs, ein:

»Mein Bruder spreche nicht voreilig! Old Shatterhand kennt seine Squaw; du aber kennst sie nicht. Wenn er sie mitgenommen hat, so weiß er bestimmt, daß er es wagen darf, ohne daß er sich damit schadet. Er mag alt geworden sein; aber jetzt hat er doch immer nur erst das Alter erreicht, in dem man weise und doppelt vorsichtig und bedenklich wird, nicht aber das, in dem kräftige Menschen kindisch zu werden pflegen. Es ist sogar möglich, daß wir ihn jetzt noch mehr zu fürchten haben als früher, da er um viele Sommer jünger war.«

»Und die beiden sind nicht allein!« ergänzte Sebulon.

»Wer ist noch bei ihnen?« fragte Kiktahan Schonka.

»Zwei alte, erfahrne Westmänner namens Dick Hammerdull und Pitt Holbers.«

»Uff! Ich habe von ihnen gehört. Sie sind tapfer und listig zugleich. Wenn sie bei Old Shatterhand sind, so müssen wir erst recht auf der Hut sein.«

»Und noch ein andrer ist dabei«, fuhr Sebulon fort. »Ein junger Mescalero-Apatsche, der Junge Adler.«

»Etwa der Junge Adler, der zu den Bleichgesichtern ging, um fliegen zu lernen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich hörte in Trinidad, er sei vier Jahre lang bei den Bleichgesichtern gewesen und kehre jetzt zu seinem Stamm zurück.«

»So ist er es! Er ist einer der ersten von denen, die sich ›Jungindianer‹ nennen und von weiter nichts als von Menschlichkeit und Bildung, von Versöhnung und Liebe reden. Und er ist auch einer der ersten vom Clan Winnetou. Er soll überhaupt ein Blutsverwandter von Winnetou sein. Wenn er sich bei Old Shatterhand befindet, so müssen wir uns alle Mühe geben, diese vier Männer und die Squaw in unsre Hände zu bekommen. Wo hast du dein Pferd?«

»Jenseits des Bergs bei meinem Bruder«, antwortete Sebulon. »Er blieb bei den Tieren zurück. Ich aber schlich mich zu Fuß hierher, um nach Spuren zu suchen und die Gegend zu erkunden.«

»Welchen Weg schlugt ihr von Trinidad aus ein?«

»Wir kamen über den Kanubisee.«

»Habt ihr auf diesem Weg Spuren von Old Shatterhand gefunden?«

»Nein. Aber Spuren vieler Weiber, die am See gelagert haben.«

»Das waren die irregeführten Frauen unsres eignen Stammes, die sich ›Jungindianerinnen‹ nennen. Sie ziehn auch nach dem Mount Winnetou, um das Denkmal zu sehn und ihre Nuggets dafür hinzugeben. Wir können sie nicht hindern, das zu tun; aber wir werden die Apatschen dafür bestrafen. Hat Old Shatterhand vom Mount Winnetou gesprochen?«

»Nein.«

»Auch nicht von dem Weg, den er einschlagen will?«

»Auch nicht. Wir erfuhren nur, daß er beabsichtigte, nach der Teufelskanzel zu gehn, um Kiktahan Schonka, den Häuptling der Sioux, dort zu sehn.«

»So ist er immer noch der unermüdliche, listige Späher, der er stets war. Aber dem Marterpfahl, dem er so oft entgangen ist, dem entrinnt er dieses Mal nicht. Wenn er sich nähert, kann er nur von der östlichen Höhe kommen, woher wohl auch du gekommen bist?«

»Ja.«

»Ich werde sofort die ganze Umgebung hier durchsuchen lassen. Du aber kehre zurück zu deinem Bruder und bring ihn her! Die Beratung ist unterbrochen, bis wir uns überzeugt haben, daß Old Shatterhand sich nicht in der Nähe befindet.«

Sebulon L. Enters entfernte sich. Wir sahen ihn den Weg zurückgehn, den er gekommen war. Es war der unsrige. Wie gut also, daß wir so vorsichtig gewesen waren, erkennbare Spuren zu vermeiden. Auch Tusahga Saritsch verließ mit sämtlichen Unterhäuptlingen die Kanzel. Sie stiegen hinab, um sich an den Nachforschungen nach uns zu beteiligen. Nur Kiktahan Schonka allein blieb zurück. Es schlichen sich also vierzig Sioux und vierzig Utahs von dannen, um nach uns zu suchen. Das war keine Kleinigkeit. Zwar traute ich weder den beiden Jägern noch meiner Frau die Unvorsichtigkeit zu, ihr Versteck während unsrer Abwesenheit zu verlassen, aber der kleinste Umstand konnte Veranlassung zu der Wahrnehmung werden, daß ein verborgner Pfad durch den stillen Weiher noch weiterführte. Und was uns beide selber betraf, so durften wir uns keineswegs so sicher fühlen, daß jede Entdeckung ausgeschlossen war. Es brauchte unter den achtzig Indianern nur ein einziger zu sein, der keine Angst vor dem ›bösen Geist‹ hatte und sich nicht scheute, in den östlichen Teil der Ellipse einzudringen, so mußte er unsre Spuren sehn. Es war notwendig, meinem Gefährten zu sagen, was in diesem Fall geschehn sollte. Wir hatten bisher nur immer englisch mit ihm gesprochen, aus dem einfachen Grund, weil meine Frau keine indianische Mundart genügend verstand und auch die beiden Jäger sich höchstens nur im halb englischen, halb indianischen Slang auszudrücken vermochten. Nun aber, da wir allein waren, konnte ich den Jungen Adler kurzerhand in seiner Muttersprache anreden.

»Hat mein junger Bruder alles verstanden, was gesprochen wurde?« fragte ich ihn mit gedämpfter Stimme.

»Ich hörte alles«, antwortete er ebenso leise.

»Glaubst du, daß man uns findet?«

»Nein.«

»Bin der gleichen Meinung. Aber ein vorsichtiger Krieger soll sich auf alles vorbereiten. Es sind zwei Fälle zu bedenken. Weiß mein junger Bruder, welche ich meine?«

»Man kann uns hier aufspüren, und man kann unser Lager dort oben entdecken.«

»Ganz richtig! Es ist also nötig zu erwägen, wie wir uns in beiden Fällen zu verhalten haben. Sollte man uns hier finden, so wäre es eine Torheit, hinauf zu unserm Versteck zu fliehn und uns von den Utahs und Sioux belagern zu lassen. Mein junger Bruder müßte sich dann sofort davonschleichen und die beiden Jäger samt meiner Frau mit den Tieren herausschaffen. Ich aber würde inzwischen die Roten mit meinem Stutzen im Zaum halten. Der Ausgang aus diesem Kessel ist eng. Es käme so leicht keiner hinaus, ohne von meiner Kugel getroffen zu werden.«

»Und wenn man nicht uns, aber unser Lager entdeckt?« fragte er.

»So hätte ich auch keine Sorge. Die zwei Jäger halten doch Wache. Sie haben unbedingt gesehn, daß alle Roten sich plötzlich entfernten, daß sie gegangen sind, nachzuforschen. Sie werden sich also mit ihren Gewehren am Weiher verstecken und aufpassen. Auch dort ist der Ein- und Ausgang sehr schmal. Es genügt ein einziger Mann, ein ganzes Heer zurückzuweisen. Und wir beide kämen den Indsmen dann in den Rücken. Wir haben also nicht den geringsten Grund, besorgt zu sein. Warten wir darum ruhig ab, was geschieht!«

Es dauerte über eine Stunde, bevor der erste Indianer zurückkehrte. Ihm folgten nach und nach auch die andern. Man hatte nichts gefunden. Aber man fühlte sich nun zu größerer Vorsicht veranlaßt. Es wurden Wächter ausgestellt. Leider standen sie auch dort, wo wir unbedingt vorüber mußten, wenn wir uns entfernen wollten.

Dann kamen die beiden Enters geritten. Nun begann die Beratung aufs neue. Die Häuptlinge stiegen wieder auf die Kanzel. Sie sprachen aber nicht laut, sondern so, daß wir ihre Stimmen nur als unterdrücktes Gemurmel vernahmen, jedenfalls der beiden Weißen wegen, die man ausnutzen wollte, ohne sie ins Vertrauen zu ziehn. Als man dann übereingekommen war, welchen Auftrag sie auszuführen hatten, ließ man sie auf die Kanzel kommen, und Kiktahan Schonka fragte sie in seinem barschen und wenig achtungsvollen Ton:

»Ihr wißt noch genau, was ich mit euch besprochen habe?«

»Ganz genau«, antwortete Sebulon, der überhaupt das Wort für sich und seinen Bruder führte.

»Und seid ihr noch heut bereit, die Bedingungen, die zwischen euch und uns vereinbart wurden, zu erfüllen?«

»Ja, noch heut.«

»So kommt eine schwierige Aufgabe für euch dazu: uns Old Shatterhand und seine Squaw in die Hände zu treiben. Seid ihr dazu bereit?«

»Nur dann, wenn es lohnt.«

»Es lohnt! Doch ist es heut noch nicht Zeit, über den Preis zu reden. Wenn wir selber ihn fangen, bezahlen wir euch natürlich nichts. Wir bleiben noch drei volle Tage hier und passen auf. Kommt er, so entgeht er uns bestimmt nicht; wir nehmen ihn fest. Dafür erhaltet ihr also nichts. Aber da er Trinidad schon vor euch verlassen hat und noch immer nicht da ist, so sind wir überzeugt, daß er seinen Plan geändert hat und gar nicht nach der Teufelskanzel geritten ist. Er ist vielmehr am Kanubisee auf unsre Squaws getroffen, die ja so wahnsinnig sind, für ihn und Winnetou zu schwärmen, und es hat dem alten Mann wohlgetan, sich von den Weibern preisen und anbeten zu lassen. Er ist mit ihnen gezogen. Freilich wird er da den Squaws oder eigentlich seiner Eitelkeit zuliebe einen großen Umweg machen.«

»Das ist möglich«, sagte Sebulon schnell. »Denn wir sahen auch einige Männerspuren.«

»Das genügt! Er ist es gewesen. Und nun ist es an euch, um den Preis zu ringen, den wir auf seine Ergreifung setzen. Glücklicherweise kennen wir das nächste Ziel, nach dem diese Frauen jetzt reiten. Es ist der Tavuntsits-payavh Utahsprache: Der Fuchsberg. Kennt ihr ihn?«

»Nein.«

»Mein berühmter Bruder Tusahga Saritsch kennt ihn genau und wird euch den Weg dorthin beschreiben.«

Auch ich hatte von einem Tavuntsits-payavh noch nie gehört und paßte also scharf auf, um mir kein Wort entgehn zu lassen. Der Oberhäuptling begann die Beschreibung des dorthin führenden Wegs. Er war sehr ausführlich dabei, und man denke sich meine Überraschung, als ich am Schluß erkannte, daß dieser Tavuntsits-payavh kein andrer Berg war als der Nugget Tsil, zu dem auch wir wollten! Dorthin also ritten die Squaws, während ich, da sich Aschta vom Kanubisee aus zunächst nach Süden entfernte, angenommen hatte, ihr Ziel sei unmittelbar der Mount Winnetou. Mir wollte es nicht recht einleuchten, warum die Frauen sich zu einem solchen Umweg entschlossen hatten. Doch erhielt ich darüber sofort die nötige Aufklärung. Der Häuptling fügte nämlich seiner Wegbeschreibung die Bemerkung hinzu:

»Diese Weiber scheint der böse Geist in der Irre umherzutreiben, daß sie erst so weit nach Sonnenaufgang ausbiegen.«

Da fiel ihm Kiktahan Schonka in die Rede.

»Mein Bruder irrt. Er kennt Aschta, das Weib Wakons nicht, die Führerin dieser Squaws. Sie weiß immer, was sie tut. Ich habe durch Späher erfahren, daß sie unterwegs Zuzug von Gleichgesinnten erwartet. Sie will mit einer möglichst großen Schar erscheinen, um desto sicherer auftreten zu können. Auch wollen die Weiber am Tavuntsits-payavh an alten Gräbern, die ihnen heilig sind, zu Manitou für das Gelingen ihrer Pläne beten. Das ist ihnen so wichtig, daß sie darum den weiten Umweg nicht scheuen.«

Da hatte ich schon den nötigen Aufschluß. Ich wußte, um welche Gräber es sich hier handelte, und bewunderte im stillen das Weib Wakons, das die Squaws vor den Tagen der großen Beratungen erst zur letzten Ruhestätte Nscho-tschis am Nugget Tsil führte. Nun konnte ich auch sicher sein, trotz unserm großen Umweg den rechten Zeitpunkt für unser Erscheinen am Mount Winnetou nicht zu versäumen. Die langsam ziehenden Frauen, die doch selber gewiß nicht zu spät kommen mochten, überholten wir ohne Mühe. Nur galt es jetzt, ihnen südlich auszuweichen, wollte ich nicht gezwungen sein, in ihrer Gesellschaft zu reiten und dadurch darauf verzichten zu müssen, am Nugget Tsil ungestört der Botschaft des alten ›Tausend-Jahr‹ nachzuforschen.

Die Brüder Enters machten sich einige Aufzeichnungen in ihre Merkbücher; dann fuhr Kiktahan Schonka fort:

»Ihr reitet also dorthin, um euch an Old Shatterhand zu hängen, und laßt ihn nicht wieder los. Getraut ihr euch, das zu erreichen?«

»Gewiß! Aber wie bringen wir ihn euch? Wann und wohin? Und wird er uns gutwillig folgen?«

»Er wird. Ist euch der Name Wiconte-mini Siouxsprache: Wasser des Todes bekannt?«

»Nein.«

»Dorthin ziehen wir von hier aus, um uns mit den Komantschen und Kiowas gegen die Apatschen zu vereinigen. Ihr sollt ihm das nicht etwa verraten, sondern sollt ihm nur sagen, daß die Kiowas und die Komantschen sich da versammeln. Seine ungeheure und unbezähmbare Neugier wird ihn verführen, dorthin zu reiten, um uns zu belauschen. Dabei ergreifen wir ihn.«

Jetzt bekamen die beiden Enters abermals eine Wegbeschreibung zu hören, damit sie sich – ohne sich auf uns verlassen zu müssen – vom Nugget Tsil nach dem Wiconte-mini finden sollten. Sie hörten, daß dieser See bereits drüben in Arizona, westlich vom Mount Winnetou, lag. Das gab Sebulon Anlaß zu einigen Bedenken.

»Ihr wollt von hier aus gradeswegs südwestlich nach diesem Wasser reiten? So müßt ihr ja um vieles eher dort eintreffen als wir. Werdet ihr dort so lange warten, bis wir Old Shatterhand bringen, wenn er uns überhaupt über den Mount Winnetou hinaus folgt?«

»Er folgt euch gewiß, denn er wird darauf brennen, uns noch vor den Beratungen zu beschleichen. Und daß ihr uns dort antrefft, ist sicher. Wir ziehen nur mit großen Unterbrechungen. Noch trennen uns Wochen von dem Beginn des Meetings am Mount Winnetou. Wir dürfen uns aber erst wenige Tage vorher am Wiconte-mini versammeln. Bedenke, welch ungeheure Scharen unsrer Krieger zusammenströmen werden! Solche Massen samt ihren Pferden könnten wir dort nicht wochenlang verpflegen. Auch könnten wir auf die Dauer nicht vor unsern Gegnern verborgen bleiben, und grade das ist unbedingt nötig. Sei also ohne Sorge! Handelt nach unserm Geheiß und bringt uns diesen weißen Hund samt seiner Squaw, damit er endlich unsrer Rache verfällt!«

»Und unser Lohn?«

»Den besprechen wir, wenn ihr kommt und uns meldet, daß Old Shatterhand naht.«

»Warum sagt ihr uns nicht schon heut den Preis?«

»Weil wir heut noch nicht wissen, womit wir ihn später zahlen können, ob in Tieren, ob in Nuggets oder in Waren, Waffen und Sachen, die wir erbeuten. Glaubt ihr uns etwa nicht?«

»Wir glauben euch.«

»So seid ihr jetzt entlassen und könnt gehn! Wir raten euch, keine Stunde zu versäumen, um Old Shatterhand so bald wie möglich einzuholen. Je schneller und gewissenhafter ihr verfahrt, um so sichrer ist der Erfolg und um so größer wird der Lohn.«

Die zwei Brüder stiegen von der ›Kanzel‹ hinab und gingen zu ihren Pferden. Hariman F. Enters hatte während der ganzen Zeit kein Wort gesagt. Die Häuptlinge schwiegen, bis sie die beiden fortreiten sahen. Dann sagte der Oberhäuptling der Utahs nur das eine Wort:

»Schurken!«

»Schufte!« fügte Kiktahan Schonka hinzu. »Sie sind nicht das Anspeien wert! Glaubt mein Bruder etwa, daß sie für ihren Verrat auch nur so viel bekommen werden, wie ein Grashalm oder eine ausgeraufte Vogelfeder wert ist?«

»Und das ganze, große Geschäft, das sie mit euch und uns machen wollen?« fragte Tusahga Saritsch.

»Wird ihnen nicht ein einziges Pferdehaar einbringen«, lachte der alte Sioux. »Sie zahlen den Preis; wir aber behalten, was wir haben. Ist mein roter Bruder einverstanden?«

»Ja. Mein Bruder ist sehr klug.«

» Pshaw! Es gehört keine Klugheit dazu, ein Bleichgesicht zu betrügen!«

»Aber die Verräter werden fordern, daß wir unser Versprechen halten und ihnen den Preis zahlen.«

»Das werden sie nicht. Wer nicht mehr lebt, kann keine Forderung stellen. Ist mein roter Bruder auch hiermit einverstanden?«

»Ja.«

»Und die andern auch?«

»Ja, ja, ja, ja!« hieß es rings im Kreis.

Da konnte ich mich nicht halten; ich rief mit lauter Stimme ganz dasselbe Wort in der Sioux-Mundart, das vorher Kiktahan Schonka gebraucht hatte:

»Sitschepi – Schufte!«

Es folgte eine tiefe Stille. Dann hörte ich:

»Uff, uff – – uff, uff! Wer war das? Was war das? Woher kam das?«

Ich hob das Glas an die Augen und sah, daß sie die Köpfe bewegten und nach allen Seiten schauten.

»Schikschitsche – lahgtscha – Schurken!«

Wieder tiefe Stille. Aber ich sah, daß sie sich von ihren Sitzen erhoben, einer nach dem andern. Sogar der ewiglange Kiktahan Schonka stand schwerfällig auf.

»Auch ihr seid nicht das Anspeien wert!« fuhr ich fort.

Abermals tiefe Stille. Dann hörten wir die halblaute, hastige Stimme des alten, langen Sioux:

»Uff, uff! Das ist kein Mensch!«

»Kein Mensch!« stimmte Tusahga Saritsch bei.

»Weiß mein roter Bruder, was man in alten Wampums über die Felsenkanzel lesen kann, auf der wir uns befinden?«

»Ja.«

»Daß hier der gute Manitou alles hört, was der böse Geist spricht?«

»Ja.«

»Und ihn dafür bestraft?«

»Sogar sehr streng!«

»Ob er es war, der jetzt sprach, der gute Geist? Was ist zu tun? Ich bleibe nicht hier!«

»Ich auch nicht!«

»Fort mit euch!« gebot ich ihnen. »Fort, fort!«

Das wirkte. Sie rannten und sprangen alle spornstreichs die Stufen hinab. Nur Kiktahan Schonka konnte das nicht, obgleich er grad derjenige war, der sich am allermeisten fürchtete.

»Helft mir; helft mir!« brüllte er. »Ich will hinunter, ich auch, ich auch!«

Aber die mutigen Häuptlinge hatten es sehr eilig. Sie halfen ihm nicht. Es mußten einige andre kommen, um ihren Häuptling hinunterzuschaffen. Dabei verlor er das künstlich verlängerte Haar. Er achtete nicht darauf. Es mußte hinter ihm beigetragen werden, bis er sein Pferd erreichte. Dort nahm er es an sich und erteilte den Befehl, sofort aufzubrechen und den geheimnisvollen Ort zu verlassen, dessen Ansehn jedenfalls nun in einer Weise gestiegen war, daß er noch für zehnmal heiliger galt als vorher. Man war nun nur darauf bedacht, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Man verzichtete sogar darauf, auf Old Shatterhand zu warten, um ihn hier zu fangen. Die Posten wurden zurückgerufen, und dann ritten die Indsmen davon, alle achtzig, im Gänsemarsch, wie sie gekommen waren.

Indem wir ihnen nachschauten, spielte ein fröhliches Lächeln um die Lippen des Jungen Adlers, und auch ich war wohlgelaunt.

»Dieser Sieg freut mich mehr«, sagte er, »als wenn wir mit ihnen gekämpft und sie alle erschlagen hätten. Es ist ein Sieg der Wissenschaft, nicht des blutigen Tomahawks.«

»Ist dir dieser Teil der Wissenschaft bekannt?« fragte ich ihn.

»Ja. Ich mußte ihn kennenlernen. Die Lehre vom Schall gehört zur Lehre von der Luft. Ich ging zu den Bleichgesichtern, um die Aerostatik und Aeronautik zu studieren. Ich weiß, daß schon die alten Assyrer, Babylonier und Ägypter das Geheimnis kannten, Bauwerke so anzulegen, daß man an dem einen Punkt deutlich hören kann, was an einem andern, entfernten Punkt gesprochen wird. Ich bin froh, heut erfahren zu haben, daß die Ahnen der roten Rasse in diesem Wissen nicht hinter jenen Völkern zurückgestanden haben. Es ist unsre Pflicht, alles, was uns seitdem verlorengegangen ist, in die erwachende Seele unsers Volks zurückzurufen. Wir bitten den großen, guten Manitou, uns Kraft und Fröhlichkeit zu diesem wichtigen und schönen Werk zu verleihen!«

Es war zum erstenmal, daß er aus sich herausging und in dieser Weise sprach. Ich wunderte mich keineswegs über das, was ich hörte. Er war ein stiller, hochbegabter junger Mann. Und er besaß die nötige Tatkraft, auch Ungewöhnliches zu erreichen. Auf seinem schönen, ernsten Gesicht lag jetzt ein warmer, beinahe sonniger Schein, wie er so oft die Züge meines Winnetou umflossen und durchgeistigt hatte. Es kam mir vor, als sei der Junge Adler in diesem Augenblick meinem unvergeßlichen roten Freund überaus ähnlich geworden.

Als der letzte der achtzig Indianer verschwunden war, verließen wir unsern Lauscherposten. Doch kehrten wir nicht nach oben zurück, sondern gingen zunächst gleich nach dem westlichen Teil des Kessels, wo die Indsmen gewesen waren, und schritten den Platz ab, um nachzuschauen, ob aus ihren Spuren vielleicht etwas für uns Brauchbares zu lesen sei. Es fand sich nichts. Aber als ich schließlich noch einmal hinauf auf die Kanzel stieg, wo die Häuptlinge gesessen hatten, sah ich auf einer der Stufen einen Gegenstand liegen, der vor der Ankunft der Indianer sicher noch nicht dagelegen hatte; sonst hätte ich ihn bestimmt schon vorher bemerkt. Ich hob das Fundstück auf, um es zu betrachten. Es waren zwei kleine, niedliche Hundepfötchen, nicht etwa nur die Krallen, sondern die Pfötchen, glatt abgeschnitten und an den Schnittflächen mit Hirschsehne sorgfältig zusammengenäht, so daß sie ein Doppelhändchen bildeten, dessen Finger nach entgegengesetzten Richtungen lagen. Ich zeigte es dem Jungen Adler.

»Eine Medizin!« rief er aus.

»Sehr wahrscheinlich! Aber wessen Medizin?« fragte ich.

»Des alten Kiktahan Schonka!«

»Hoffen wir es! Aber wie konnte er sie verlieren? Medizinen pflegt man doch im verschlossenen Medizinbeutel zu tragen. Es sind Hundefüße, und der Häuptling der Sioux heißt der Wachende Hund. Wie war es möglich, daß er sie verlor? Mein junger, roter Bruder schaue nach!«

Ich gab sie ihm. Er betrachtete sie aufmerksam und reichte sie mir dann zurück.

»Diese Medizin hat nicht im Medizinbeutel gesteckt, sondern sie war an den Gürtel genäht. Man sieht noch deutlich die Stiche. Sie ist losgerissen worden, als man den Häuptling am Lasso über die Stufen emporzog oder als man ihm wieder herunterhalf. Dieser Fund ist sehr wichtig!«

»Allerdings, aber auch gefährlich. Wenn Kiktahan Schonka seinen Verlust bald bemerkt, kehrt er unbedingt hierher zurück, um zu suchen. Wird er ihn erst später gewahr, so weiß er freilich nicht, wo er die Medizin verloren hat, ob hier oder nachträglich unterwegs. Auf keinen Fall aber dürfen wir jetzt noch länger hier verweilen. Gehn wir!«

Ich steckte die Medizin sorgfältig ein. Dann verließen wir den Platz und stiegen nach unserm Lager empor. Wir waren von dort aus scharf beobachtet worden, denn man erwartete uns bereits. Dick Hammerdull brachte uns die Pferde, damit wir nicht nötig hätten, durch das Wasser des Weihers zu waten.

»Ist schnell gegangen, ungeheuer schnell!« sagte er. »Kommen sie wieder?«

»Hoffentlich nicht«, entgegnete ich.

»Sonderbar! Man pflegt sonst oft tagelang zu beraten. Warum sind sie so rasch fort? Und habt ihr etwas erlauscht?«

»Wartet, bis wir bei den andern sind! Sie wollen es ja auch wissen!«

Das war allerdings so. Meine Frau schaute uns so gespannt entgegen, daß ich es nicht übers Herz brachte, sie auch nur einen Augenblick warten zu lassen, sondern ihr sofort entgegenrief:

»Gelungen! Alles gelungen!«

»Großartig!« freute sie sich. »So steig ab; setz dich her und erzähle!«

Ich gab dem Jungen Adler erst noch einen Wink, nach der Höhe zu steigen und inzwischen Wache zu halten, damit ich es sofort erführe, wenn Kiktahan Schonka doch zurückkäme. Meinen Bericht machte ich so kurz wie möglich. Als ich damit zu Ende war, sprang das Herzle in ihrer schnell entschlossenen Weise wieder auf und rief:

»Also einpacken! Wir müssen augenblicklich fort!«

Damit griff sie auch schon nach ihren Kochgeräten. Ich aber blieb sitzen.

»Wohin?«

»Den beiden Enters nach!«

»Du allein?«

»Allein? – Ich? – Wieso?«

»Ja, wenn du fort willst, so mußt du das eben allein tun! Ich bleibe noch ein bißchen hier.«

»Was gibt es hier noch zu tun?«

»Nichts.«

»Und da willst du bleiben?« Erstaunt wandte sie sich an Dick: »Nichts! Und doch will er bleiben! Versteht Ihr das, Mr. Hammerdull?«

»Ob ich's verstehe oder nicht, das bleibt sich gleich«, antwortete er. »Aber wenn er noch warten will, so hat er seine Gründe, und dagegen wird wohl nichts zu machen sein!«

»Gründe? Hm! Die hat er stets!«

»Dieselbe Erfahrung haben Pitt und ich auch mit ihm gemacht«, meinte der Dicke.

»Ihr ratet also, ihm zu gehorchen?«

»Gewiß! Setzt Euch in Gottes Namen wieder nieder und habt zu diesem Mann Vertrauen! Er weiß, was er will. Wir bleiben jetzt noch hier.«

»Wie lange?«

»Wahrscheinlich bis morgen früh«, meinte Dick gelassen.

»Ist das wahr?« wandte sich meine Frau an mich.

»Ja«, nickte ich.

»So willst du also die beiden Enters laufen lassen?«

»Wenigstens für heut. Ich kenne ja ihren Weg. Weshalb wollen wir sie schon heut einholen und uns dann ganz unnütz mit ihnen schleppen? Wohl brauchen wir sie; sie werden in gewissen Dingen die Quellen sein, aus denen wir schöpfen; aber ich halte es trotzdem nicht für nötig, sie Tag und Nacht bei uns zu haben. Das wäre lästig.«

»Du hast recht.«

»Schön! Wir reiten also erst morgen früh.«

Damit waren alle einverstanden. Wir brauchten nicht zu hetzen, sondern konnten uns in Muße auf den kommenden Ritt vorbereiten. Von den Indianern kam keiner zurück. Der Wachende Hund hatte also seinen Verlust noch nicht bemerkt. Wie groß dieser Verlust war, das weiß nur der zu ermessen, der über die Entstehung, die Bedeutung und den Wert einer indianischen Medizin unterrichtet ist.


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