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5. Das Geheimnis der Teufelskanzel

Während des Kaffeetrinkens sagte uns Pitt Holbers, daß wir heut abend die Devils Pulpit erreichen würden. Er bat nur um eine Stunde Aufenthalt hier am Kanubisee, um sich da wieder einmal umsehn zu können. Dagegen hatten wir nichts. Wir hätten ihm gern noch länger Zeit gegeben. Aber die Stunde war noch nicht vorüber, so kehrte er schon von seinem Rundgang zurück.

»Wollen aufbrechen, falls es Euch recht ist! Wenn ich noch länger hier herumkrieche, so finde ich doch nur mehr Bitterkeiten als Süßigkeiten, und das brauche ich mir altem Kerl wohl nicht anzutun!«

Recht hatte er. Auch dieser Kanubisee war schön, aber seine Wasser hatten für uns keinen frohen, sondern einen mehr als wehmütigen Schimmer, und so blieb er in unsrer Erinnerung nur als der Ort einer kurzen Rast, auf die eine neue Wanderung folgte. Wir ritten ins Tal des Rio Grande hinab und folgten dort einem schmalen, kristallklaren Wasser, das uns nach unserm Ziel führen sollte. Wir erreichten es, als es bereits fast dunkel geworden war, so daß ich vorschlug, heut lieber noch außerhalb des Bereichs der Teufelskanzel zu bleiben, weil wir vor diesem Ort gewarnt worden waren und wegen der Dunkelheit keine Zeit mehr hatten, ihn vorher auf die Anwesenheit von feindlichen Indianern auszukundschaften.

» Well!« sagte Hammerdull, der jetzt wieder das Wort führte, während Pitt in seine gewohnte Schweigsamkeit zurückgefallen war. »So bringe ich Euch nach einem Versteck, das wohl kein Roter, mag er auch noch so gute Augen haben, ausfindig machen wird. Ich fand es nur durch Zufall und glaube nicht, daß es jetzt außer mir und Pitt einen Menschen gibt, der es kennt.«

»Das ist viel gesagt!«

»Doch jedenfalls richtig!« antwortete er. »Wir brauchen nur noch wenige Schritte zu reiten und dann einem kleinen Seitenwässerchen zu folgen, das aus einem stillen, verborgnen Weiher quillt. Dieser Weiher ist nicht groß. Hohe Felsen, die man nicht ersteigen kann, umgeben ihn. Diese Felsen haben keine Lücke; wenigstens scheint es so. Aber wenn man grad durch den Weiher bis zur gegenüberliegenden Seite reitet, macht man die Bemerkung, daß es doch eine Seitenspalte gibt, die schief hindurchschneidet und nach dem eigentlichen Quell des Wassers führt, das nicht im Weiher entspringt, sondern weiter drin im Felsen, eben dort, wo wir übernachten werden.«

»Ist die Lücke breit genug für unser Gepäck?« erkundigte ich mich.

»Haben nur die Zeltstangen lang zu packen anstatt quer.«

»Und wie tief ist das Wasser?«

»Höchstens einen Meter.«

»Ihr wollt sagen, daß es damals so war?«

»Hm! Meint Ihr etwa, daß es tiefer geworden ist? Habe das in meinem Leben noch nicht gehört. Stehende Wasser pflegen mit der Zeit seichter zu werden, aber doch nicht tiefer. Doch halt! Da sind wir am Seitenwässerchen. Werden hier also umpacken. Dann reiten wir nach dieser Seite zwischen die Felsen hinein. Faß mit an, Pitt Holbers, altes Coon!«

Wir halfen ihnen, die Zeltstangen anders zu legen, und ließen sie dann als unsre Führer mit den Maultieren voran.

Es war grad noch so viel Tageslicht vorhanden, daß wir sehn konnten, wohin wir ritten. Wir kamen an den Weiher, der dunkel wie ein Rätsel war, ritten hindurch und sahen dann drüben, daß es im Felsen allerdings eine von dichtem Grün verhüllte Lücke gab, der wir seitwärts folgen konnten. Dann ging es noch eine Strecke am Wässerchen steil aufwärts, bis wir seinen Quellpunkt erreichten, der in einem großen, kreisförmigen Felsenloch lag, dessen Wände sich, wie es schien, senkrecht und unersteigbar in die Höhe reckten.

»So! Das ist der Ort!« sagte Dick. »Da können wir hundert Jahre lang lagern, ohne daß uns ein Mensch entdeckt.«

»Aber feucht, sehr feucht?« fragte ich.

»Ob feucht oder nicht, das bleibt sich gleich. Die Feuchtigkeit fließt ja ab. Übrigens haben wir Indianersommer, schon wochenlang, ohne eine Spur von Regen.«

»Kann man da an den Wänden hinaufklettern?«

»Weiß nicht. Habe es damals nicht versucht. Bin niemals ein Kletterspecht gewesen.«

»Und kann jemand von oben herunterschauen?«

»Da müßte er erst von hier hinauf. Von draußen bringt es keiner fertig.«

»So bin ich beruhigt. Machen wir also erst ein Feuer, sodann schlagen wir das Zelt auf!«

Beides war binnen einer halben Stunde geschehn. Wir banden die Pferde und Maultiere nicht an, so daß sie sich bewegen konnten, wie sie wollten. Sie tranken sich erst tüchtig satt. Dann wälzten sie sich voller Behagen im Moos, was sie gern tun, solange sie gesund in den Knochen und Gelenken sind. Und hierauf fanden sie so viel Blätter und auch andres Grün, daß wir getrost mehrere Tage hier bleiben konnten, ohne befürchten zu müssen, daß es ihnen an Futter mangle. Sie bedurften aber der Ruhe mehr als der Nahrung, denn der Ritt vom Kanubisee bis hierher war weit und anstrengend gewesen. Auch wir selber fühlten uns ermüdet. Darum dauerte es nach dem Abendessen nicht lange, bis wir uns niederlegten. Heut schliefen wir sofort ein, ganz anders als gestern, und ich muß beschämt gestehn, daß ich nicht eher aufwachte, als bis Hammerdull mich weckte.

»Mrs. Burton ist schon munter!« entschuldigte er sich. »Sie hat schon heißes Wasser bestellt, um – hört Ihrs? Sie mahlt den Kaffee im Zelt, um Euch nicht aufzuwecken. Sagt ihr ja nichts, daß ich es dennoch für richtig hielt, Euch einen Stoß zu versetzen! Der Mann muß doch immer Mann sein! Das ist er aber nicht, wenn er schläft!«

»So habt Ihr mich also nur um meines guten Rufs willen geweckt?« lachte ich.

»Ob Eures guten Rufs wegen oder nicht, das bleibt sich gleich. Aber Old Shatterhand und schlafen, wenn seine Frau schon wach ist! Das geht auf keinen Fall.«

Jetzt betrachtete ich mir die Örtlichkeit. Sie bot allerdings ein besonders schönes Versteck. Es gab nirgends eine Spur, die verriet, daß jemals ein Mensch an diesem abgelegnen Ort gewesen sei. Die Felswände waren überaus steil, aber nicht unersteigbar. Es gab da Riesenbäume, die mehrere hundert Jahre alt waren und sich mit ihren Ästen und Zweigen so eng ans Gestein schmiegten, daß sie das Klettern erleichterten und unterstützten. Der Junge Adler hatte kaum sein Frühstück eingenommen, so machte er sich daran, die Höhe zu erklimmen. Es gelang ihm ohne Schwierigkeit. Schon nach einem kurzen Rundblick rief er zu uns herab:

»Uff, uff! Ich sehe ein Wunder!«

»Nicht so laut!« warnte ich. »Wir wissen noch nicht, ob nicht doch Menschen in der Nähe sind!«

»Hier kann es keinen geben, der uns hört«, antwortete er herab. »Es ist ringsum nichts als Luft.«

»So hoch bist du? Und was liegt unten?«

»Die Devils Pulpit!«

»Die Teufelskanzel? Wirklich?«

»Ja.«

»Das ist unmöglich!« widersprach Dick Hammerdull.

»Warum?« fragte ich ihn.

»Weil ich es weiß. Der Weg nach der Teufelskanzel führt tief nach links hinunter; wir aber sind rechts abgewichen. Und sie ist auf allen Seiten von hohen, steilen Felsen umgeben, die kein Mensch erklimmen kann. Wie ist es da möglich, daß er sie sieht?«

»Ist es nicht auch denkbar, daß der Weg von hier nach der Teufelskanzel Krümmungen macht, die Euch täuschen?«

»Ob Krümmung oder nicht, bleibt sich gleich. Aber es kann sich kein Mensch, kein Tier und kein Weg so sehr krümmen, daß er es fertig bringt, mich zu täuschen.«

Ich fragte den Indianer noch einmal, und er blieb bei seiner Behauptung, daß er die Teufelskanzel sehe. Da auch er sie kannte, ergab das einen Widerspruch, der mich bestimmte, dem Jungen Adler zu folgen. Meine Frau kam mir nachgeklettert. Doch die beiden Jäger blieben sitzen.

»Bin mein Lebtag keine Gemse gewesen«, behauptete Dick, »und werde nun auch nicht erst eine werden. Ein ebener Weg, ein gutes Pferd und ein festgeschnallter Sattel, das ist es, was ich haben will. Steigt, so hoch Ihr wollt; ich mache nicht mit!«

Als wir hinaufkamen, bot sich uns ein wunderbarer Anblick.

Man denke sich ein plattes Dach, dessen steinernes Geländer aus schweren Felsbrocken besteht. Dieses Dach ist mit Bäumen und dichtem Gebüsch besetzt, so daß man, wenn man oben steht, von unten nicht gesehn werden kann. Tritt man an das Geländer heran und schaut hinab, so sieht man, daß die Felswand fast senkrecht in die Tiefe fällt.

Auf diesem platten Dach befanden wir uns jetzt, und tief unten lag ein weiter Talkessel.

Ich hatte mir von der Teufelskanzel bisher die Vorstellung eines alleinstehenden Felsens gemacht. Das lag im Namen. Nun sah ich vor mir das langgestreckte Tal, genau in der Form einer Ellipse, also eines Langkreises, der nicht mehr einen Mittelpunkt, sondern zwei sogenannte Brennpunkte hat. Und in diesem Tal ragten zwei einzelne Felsen auf.

Der Kessel bildete ein so regelrechtes Eirund, daß man fast den Eindruck gewann, er sei nicht von der Natur geschaffen, sondern von Menschenhand in die gewaltige Bergmasse hineingebrochen worden. Später glaubte ich dann feststellen zu können, daß die Natur hier zwar vorgearbeitet, die berechnende Kraft des Menschen aber zielstrebig nachgeholfen hatte. Das mußte aber schon vor langen, langen Zeiten geschehn sein. Damals waren die mühsam glattgemeißelten Felswände schließlich wohl senkrecht und nackt in die Tiefe gegangen. Dann aber hatte die Verwitterung gewirkt und Risse, Sprünge, Ecken, Kanten, Höhlungen, Altane und andere Abweichungen von der lotrechten Linie geformt, auf denen und in denen sich nach und nach ein kräftiger Baum- und Strauchwuchs mit allerlei Kräutern, Stauden, Gras und Moos angesammelt hatte.

Auch der Boden des Kessels war mit grünem Pflanzenwuchs bedeckt. Doch machte ich in dieser Beziehung sofort eine wichtige Entdeckung.

Offenbar war den Menschen, die vor undenklichen Jahren dieses Tal irgendwie nach ihrem Wunsch und Willen formten, gar nichts daran gelegen gewesen, daß hier allgemein ein üppiger Pflanzenwuchs entstand; denn es zeigte sich ein vollständig unfruchtbarer Untergrund, und der mußte mit voller Berechnung hergeschafft worden sein, zumal es sonst, soweit das Auge auch reichte, nur fruchtbares Land gab. Die Bäume, die unten auf dem Grund des Kessels standen, hatten alle, so alt und so stark sie waren, keine Wipfel mehr. Und wo es noch welche gab, da waren sie vertrocknet. Das deutete darauf hin, daß sie sich nur von einer dünnen, angewehten Erdschicht nährten, mit den Wurzeln aber nicht in die Tiefe konnten. Und in der Tat, als ich später hinunterkam und nachschaute, fand ich den ursprünglichen Boden des ganzen Talkessels so dicht mit starken Steinplatten belegt, daß keine Pflanze einzudringen vermochte. Auf diesen Platten hatte sich im Lauf der Zeit eine Schicht von Humuserde gebildet, von der sich das später entstandene Baum- und Strauchwerk durch die Seitenwurzeln ernährte. Pfahlwurzeln gab es nicht. Daher das Verdorren sämtlicher Wipfel.

Wozu einst dieses Belegen des Bodens mit Platten? Das war die erste Frage, die ein aufmerksamer und vorsichtiger Beobachter hier stellen mußte.

Die andre auffällige Beobachtung war die, daß ein Drittel dieses Pflanzenwuchses vollständig unberührt zu sein schien, während man es den andern beiden Dritteln gleich auf den ersten Blick ansah, daß da Menschen verkehrt hatten, und zwar nicht allzu selten. Die Scheidelinie zwischen dem größern, berührten Teil und dem kleinern, unberührten war sogar auffällig gezogen. Es sah so aus, als ob ein strenges Verbot herrsche, dieses eine, sehr dicht bewachsne Drittel des Talkessels zu betreten.

Weshalb diese Unterscheidung? Das war die zweite Frage.

Und nun kommt die Hauptsache, die für mich von höchster Wichtigkeit war. Es gab, wie bereits erwähnt, auf dem sonst vollständig ebenen, ellipsenförmigen Boden des Felsenkessels zwei bedeutende, schroff aufragende Erhöhungen, die ganz den Anschein erweckten, als ob der Kessel einst in der Absicht hergestellt worden sei, ihn mit Wasser zu füllen und also eine Art von See zu bilden, aus dem die beiden Erhöhungen als Inseln hervorschauen sollten. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich dann wohl das Wasser einen Abfluß geschaffen. Vermutlich war obendrein der Zufluß versiegt, so daß der Wasserspiegel immer mehr sank, bis zuletzt der Boden zutage trat und das Becken gänzlich austrocknete.

Diese Beobachtung an sich hätte weiter nichts ergeben, als daß in uralter Zeit hier Menschen vorhanden gewesen waren, die in Beziehung auf ihre Bauwerke und daher wohl überhaupt bedeutend höher standen als die spätern Indianer.

Dazu noch ein andres! Diese beiden Erhöhungen – ich will dem Bild treu bleiben und sie Inseln nennen – lagen merkwürdigerweise genau in den zwei Brennpunkten der Ellipse. Das ergab ein Bild von so strenger Regelmäßigkeit, als hätte menschliche Berechnung hier mitgewirkt. Das war jedoch ausgeschlossen. Und dann – Berechnung zu welchem Zweck überhaupt? Ich dachte an die schwierigen, astronomischen Tüfteleien, die dem Bau der ägyptischen Pyramiden zugrunde liegen, an die noch unaufgeklärten Geheimnisse der Teokalli und andrer Tempelwerke aus früherer Zeit; doch bin ich weder Fachmann noch Gelehrter und durfte es unmöglich wagen, mich auf so schwierige, wissenschaftliche Untersuchungen einzulassen.

In diesen Betrachtungen störte mich der Anruf meines braven Dick Hammerdull, der von unserm Versteck aus herauffragte, wie es denn nun bei uns hier oben stände. Als ich ihm hinabrief, wir hätten vermutlich das Tal der Teufelskanzel vor uns, erhob er sich und begann, langsam und sehr vorsichtig in die Höhe zu kraxeln. Es dauerte lange, bis er uns erreichte.

»So! Da bin ich!« sagte er. »Nun will ich einmal hinunterschauen und sehn, welch ein unbegreiflicher Unsinn sich da –«

Er hielt mitten im Satz inne, vergaß aber den Mund zu schließen.

»Welchen Unsinn meint Ihr?« fragte ich.

»Den Unsinn, daß, daß – Alle Teufel! Was erblicken meine Augen?«

»Nun, ist es die Teufelskanzel? Oder nicht?«

»Sie ist es! O Dick Hammerdull, was für ein Riesenschaf bist du! Muß dir das noch in deinen alten Tagen zustoßen! So etwas sollte sich eigentlich nur ein Greenhorn leisten, nicht so ein altgedienter Waldläufer. Wenn jemand von diesem Reinfall erfährt, bin ich erledigt auf ewige Zeiten. Meinst du nicht auch, Pitt Hol –?«

Er unterbrach sich, denn er merkte, daß der, an den er diese Anrede richten wollte, nicht in der Nähe war. Ich begriff seine bittere, derbe Selbstverspottung sehr wohl. Handelte es sich doch um seine Westmannsehre, die ihm über alles ging. Eines derartigen Irrtums darf sich kein Savannenläufer schuldig machen, wenn er es nicht darauf ankommen lassen will, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Glücklicherweise aber war niemand da, der Lust hatte, ihn bei diesem Fehler zu fassen, und als ich ihm versicherte, daß auch mir solch falsche Berechnungen schon wiederholt vorgekommen seien, begann er sich zu beruhigen.

Für ihn war die Frage der Teufelskanzel mit der Erkenntnis erledigt, daß er sich geirrt hatte. Mich aber beschäftigte diese Angelegenheit noch weiter. Ich wandte mich an den Jungen Adler, der bisher bescheiden geschwiegen hatte.

»Der Junge Adler hat uns richtig geführt«, lobte ich ihn. »Er scheint hier wirklich genau Bescheid zu wissen. Also wird er mir auch sagen können, welcher Punkt hier nun eigentlich als Teufelskanzel bezeichnet wird.«

»Der Felsen da drüben!«

Dabei deutete er nach dem westlichen, weniger bewachsenen Teil des Talkessels.

»Und die zweite Erhöhung hier grad unter uns?« fragte ich weiter.

»Ist der ›Fels der Verschwiegenheit‹. – Die Teufelskanzel wird übrigens von den roten Männern, Manitouottowug ›Ohr Gottes‹ genannt. An dieser Kanzel hört Gott, was der Teufel spricht, und verurteilt ihn zur Verdammnis.«

Jetzt horchte ich auf. Die Sache schien mir verwunderlich. Ich hielt das Gespräch mit dem jungen Indianer fest.

»Das ist ein Bild, ein Gleichnis mit tiefem Sinn, nach dem ich suchen werde. Ihr seht doch, daß der östliche Teil des Kessels ein richtiges Pflanzendickicht bildet, während der westliche, größere Teil viel weniger bewachsen ist. Man scheint hier sogar zuweilen Holz geschlagen zu haben, um Feuer zu machen.«

»Das tut man stets, wenn man zur Beratung da versammelt ist.«

»Zur Beratung? Doch auch zur Jagd oder zu einem sonstigen Zweck!«

»Nein. Dieser Ort ist jedem roten Mann heilig. Er ist nur für große, wichtige Beratungen bestimmt, die zwischen verschiednen Völkern abgehalten werden. Nie wird ein roter Mann diesen Talkessel betreten, ohne daß es eine große Zusammenkunft zweier oder mehrerer Stämme gilt. Und nie wird man hier um Nichtigkeiten reden.«

»Ah! – Wirklich?«

»Ja«, versicherte er. »Ich weiß das genau! Und selbst bei großen Beratungen, wo viele Krieger sich hier versammeln, wird es keiner von ihnen wagen, den östlichen Teil dieses Platzes oder gar den ›Fels der Verschwiegenheit‹ zu betreten. Man sagt, dort wohne der böse Geist, der Teufel, nach dem man die Kanzel im westlichen Kessel benennt.«

»Das ist eigenartig. Was man sich von diesen Dingen erzählt, ist jedenfalls schon sehr alt. Da läßt sich wohl denken, wie sehr man die Wahrheit verwischte. Glaubt Ihr daran?«

»Ich glaube an den Kern dieser Wahrheit.«

»Kennt Ihr diesen Kern?«

»Nein. Ich hoffe aber, ihn von Tatellah-Satah zu erfahren. Er ist es, von dem ich alles weiß, was ich soeben über dieses Tal sagte.«

»Hat er denn auch Kanzel und Ohr durcheinander gemischt? Ihr müßt doch bedenken, daß die Kanzel ein Ort ist, von wo aus man spricht, um gehört zu werden, während ein Ohr eben das Ding darstellt, womit man hört. Fühlt Ihr hier nicht einen Widerspruch?«

»Nein«, versicherte der junge Apatsche. »Ich habe über diese Dinge auch noch nicht so nachgedacht wie Mr. Burton. Ich achte den Brauch meiner Väter, ohne zu fragen, ob er sich auf Wahrheit gründet oder nicht.«

»So werdet Ihr es also vermeiden, den heiligen Ort dort unten zu betreten?«

»Wird Mr. Burton hinuntergehn?«

»Ja, ich gehe.«

»So gehe ich mit. Ich war vier Jahre lang bei den Bleichgesichtern und habe bei ihnen gelernt, die tiefere Bedeutung, den Sinn einer Sache, von der Sache zu unterscheiden. Der tiefere Sinn ist mir heilig; das sichtbare Kleid aber einer Sache verehre ich nicht. Doch ich achte es und würde es nur dann verletzen, wenn ich Grund hätte, es für bös, also für schädlich zu halten.«

Dieser junge Indianer sprach fast wie ein gebildeter Weißer. Er gewann sich immer mehr meine Zuneigung. Da fragte Dick Hammerdull, der sich bisher still verhalten hatte:

»Ich höre, Ihr wollt dort hinunter?«

»Natürlich! Die Teufelskanzel ist doch unser Ziel!« antwortete ich.

»Wann?«

»Sofort!«

»So müssen wir satteln.«

»Ist nicht nötig. Wir laufen.«

»Oho!« rief er verwundert aus. »Glaubt Ihr, daß Dick Hammerdull läuft, wenn er ein Pferd oder ein Maultier am Zügel hat?«

»Das glaube ich freilich nicht. Aber es hat Euch auch niemand zugemutet zu laufen. Denn Ihr und Pitt bleibt hier.«

»Wir bleiben hier?« fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Sind wir etwa nicht wert, mitgenommen zu werden?«

»Redet keinen Unsinn! Ich brauche euch hier oben notwendiger als dort unten. Wir wissen, daß die Feinde kommen. Aber leider wissen wir keine bestimmte Zeit. Jeder Augenblick kann sie uns bringen. Sie können sich grade dann einstellen, wenn wir unten sind und sie nicht erscheinen sehn. Eben darum beabsichtige ich ja, zu laufen und nicht zu reiten. Pferde machen deutlichere Spuren als Menschen. Und es könnte sich ereignen, daß wir Menschen wohl glücklich entkämen, uns aber schließlich doch der Tiere wegen bloßstellen und in Gefahr begeben müßten –«

»Ah! Errate!« unterbrach er mich.

»Nun, was erratet Ihr?«

»Daß wir hier oben bleiben sollen, um Wache zu halten? Um aufzupassen?«

»Allerdings!«

»So ist das etwas andres. Wir tun es gern, und ich bitte um die nötigen Anweisungen!«

»Das ist schnell geschehn. Wir wissen, daß die Sioux und die Utahs kommen werden. Die Sioux sind von Norden, die Utahs von Westen her zu erwarten. Für beide Fälle liegt der Talkessel so, daß sie nicht von der Seite erscheinen können, von der wir gestern kamen, sondern von der entgegengesetzten. Und diese Seite breitet sich so deutlich vor Euern Augen aus, daß Ihr die Roten schon lange, bevor sie da sind, entdecken müßt. In diesem Fall gebt Ihr uns ein Zeichen.«

»Was für eins?«

»Einen langen, scharfen Pfiff. – Kommt!«

Diese Aufforderung war an den Jungen Adler gerichtet, und wir stiegen wieder zum Lager hinab; Dick Hammerdull blieb allein oben. Unten erhielt auch Holbers die nötigen Aufklärungen, dann nahm ich meinen Henrystutzen zur Hand.

»Willst du schießen?« fragte meine Frau.

»Vielleicht gibt es ein Wild«, sagte ich leichthin. »Der Junge Adler wird sein Gewehr auch mitnehmen.«

Sie winkte verstohlen nach der Richtung, wo der Indsman stand. Ich sah, was sie meinte. Es war rührend, mit welch andächtiger Spannung er den Stutzen betrachtete und jeden Griff beobachtete, den ich beim Laden tat.

»Uff!« sagte er. »Das also ist das berühmte Gewehr! Darf ich es einmal näher betrachten?«

»Hier ist es!«

Er nahm den Stutzen in die Hand, doch ohne sich zu erlauben, ihn untersuchen zu wollen.

Die Büchse, aus der in Gegenwart des unvergeßlichen Winnetou so mancher Schuß gefallen war, schien dem Apatschen ein Heiligtum zu sein.

»Ein einzigartiges Gewehr!« meinte er.

Damit gab er mir den Stutzen zurück.

»So einzigartig, wie Ihr denkt, ist es nicht. Ja, man hat mich ausgelacht, wenn ich von fünfundzwanzig Schüssen sprach. Es hat sogar sehr kluge Menschen gegeben, die mich dieses Gewehrs wegen der Lüge bezichtigt haben, obgleich sie von Handfeuerwaffen und vom Schießen herzlich wenig verstanden. Nun aber ist es schon lange her, daß ich nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar übertroffen worden bin. In Italien erfand Major Cei-Rigotti ein fünfundzwanzigschüssiges Armeegewehr, und dem englischen Kriegsminister wurde sogar ein achtundzwanzigschüssiges, das 3100 Meter weit trägt, von einem schottischen Erfinder vorgelegt. Übrigens wird dieser Stutzen einmal genau so heilig aufgehoben wie Winnetous Silberbüchse.«

»Die Silberbüchse?« fragte er, indem seine Augen leuchteten. »Ihr besitzt sie noch?«

»Gewiß.«

»Und könnt mir davon erzählen?«

»Später. Jetzt müssen wir jede Minute für die Untersuchung der Teufelskanzel sparen, denn wenn die Feinde angekommen sind, ist es zu spät dazu. Verlieren wir also keine Zeit!«

Als ich das sagte, hörten wir ein leises Lachen. Pitt war es. Er kam herbei und schmunzelte:

»Ja, hierbleiben sollen wir! Und laufen wollen diese drei klugen Leute! Werden aber doch reiten müssen! Und werden mich dazu brauchen, sogar sehr.«

Indem er das sagte, fiel mir ein, wie recht er hatte.

»Reiten? Und Euch dabei brauchen?« fragte Klara. »Wir gehn zu Fuß.«

»Nein, Ihr reitet! Werdet mir schon einmal gehorchen müssen, ganz gleich, ob Ihr wollt oder nicht. Oder will Mrs. Burton vielleicht nasse Füße haben, einen Schnupfen und andre schöne Dinge? Das Niesen gar nicht gerechnet!«

Das war allerdings richtig. Ein Westmann fragt freilich nicht danach, ob er naß wird oder nicht, aber wenn er es vermeiden kann, so tut er es. Das hier war ein solcher Fall. Wir mußten ja zunächst durchs Wasser. Also saßen wir auf und ritten hinaus, über den Weiher hinüber. Dann schaffte Holbers die Pferde wieder zurück. Wir aber folgten dem schmalen Wässerchen abwärts, bis wir die Stelle erreichten, wo wir gestern von der Richtung nach der Teufelskanzel abgewichen waren. Von da an mußte der größere Bach unser Führer sein, bis er allzu mutig wurde und sich in verschiedenen Sprüngen in die Tiefe stürzte. Das konnten wir nicht mitmachen. Wir stiegen also langsam und in bequemen Schlangenwindungen hinunter und machten dabei die Beobachtung, daß wir damit nicht der graden Richtung folgen konnten, sondern einen ansehnlichen Bogen schlagen mußten. Das war es, was Dick nicht mit berechnet hatte, und darum war er zu der irrigen Ansicht gekommen, daß das, was der Junge Adler sah, nicht der Kessel mit der Teufelskanzel sein könne.

Unten in der Tiefe bemerkten wir die schmale Abflußspalte, die das Wasser mit der Zeit beinahe senkrecht in den Felsen gefressen hatte. Es sah fast aus, als hätte hier eine riesige Säge gearbeitet; und ganz genau so war es auch da, wo das Wasser in den Kessel trat. Es schien also erwiesen, daß das Becken einst einen halb natürlichen, halb künstlichen See gebildet hatte und später, als der Abfluß die Tiefe des Grundes erreichte, vertrocknet war. Das zu- und abfließende Wasser war freilich noch da. Ein Bach durchquerte noch immer den ganzen Kessel. Aber er hatte die Steinplatten nicht durchdringen, hatte sich keine tiefere Rinne bohren können, sondern sie bildeten seinen Grund, auf dem er sich durch angeschwemmtes Geröll seine eignen Ufer gebaut und befestigt hatte. Wir wurden von ihm in den östlichen, dichter bewachsenen Teil des Kessels geführt, verweilten dort aber nicht, sondern hoben ihn uns für später auf, weil es zunächst galt, den westlichen Teil des Beckens kennenzulernen; denn von dieser Seite waren die Roten zu erwarten. Wir mußten also vor allen Dingen dort fertig sein, bevor sie kamen.

In diesem westlichen Teil gab es einige Stellen, an denen unter der aufgewühlten Erde die Steinplatten hervorschauten. Die Bäume, die da standen, waren nicht hoch, und die Büsche nicht dicht. Sie hatten wohl allzuoft den Brennstoff zu Lagerfeuern liefern müssen. Die zwischen ihnen liegenden, zahlreichen lichten Stellen waren so groß, daß Hunderte von Lagernden hier Platz finden konnten, ohne einander zu beengen. Die Insel, die sich da erhob, war höher als der höchste Baum; was aber nicht viel besagte, da ja die Bäume keine bedeutende Höhe besaßen. Sie war nicht mit Grün bewachsen, sondern vollständig kahl. Eine Reihe von Stufen führte hinauf. Oben gab es in der Mitte einen hohen, steinernen Sessel und rundherum einen Kreis von niedrigeren Sitzen. Das war also die Teufelskanzel, auf der die Häuptlinge zu beraten und das Ergebnis dann durch den Sprecher den unten Versammelten zu verkünden pflegten.

Wir stiegen hinauf. Es war nicht das geringste zu entdecken, was beachtenswert erschienen wäre. Natürlich nahm ich von hier aus, doch stillschweigend und unauffällig, die im östlichen Teil liegende andre Insel in Augenschein. Sie war ebenso hoch wie diese hier, doch umfangreicher und außerdem dicht bewachsen.

Dieser Umstand bestätigte mir eine Vermutung, die mir beim Anblick des eirunden Kessels, der beiden Erhöhungen genau in den Brennpunkten und vor allem beim Nachdenken über die beiden Namen ›Teufelskanzel‹ und ›Ohr Gottes‹ für die eine Insel und ›Fels der Verschwiegenheit‹ für die andre so nach und nach gekommen war. Sollte es sich hier etwa um ein akustisches Geheimnis handeln? Ich erinnerte mich der schon im Altertum verwendeten baulichen Erfahrungen, daß man bisweilen innerhalb einer geometrischen Figur an einem Punkt deutlich das hört, was an einem anderen, entfernten Punkt leise gesprochen wird.

Ich schwieg vorerst über diese Dinge, und wir stiegen wieder hinab. Wir waren mit diesem Teil des Kessels fertig und schauten einmal zur Höhe empor, ob es wohl möglich sei, unsern Hammerdull zu sehn. Jedenfalls beobachtete er uns; aber da er wahrscheinlich so klug war, sich nicht ganz vor an die Brüstung zu wagen, konnten wir ihn nicht entdecken.

Nun begaben wir uns nach dem andern, dem dichter bewachsnen Teil des Talkessels. Ich steuerte sogleich auf die zweite Insel zu, hemmte aber bald meinen eiligen Schritt, denn ich stieß auf Spuren, doch glücklicherweise auf solche, die man gern zu sehn pflegt. Auch dem Jungen Adler fielen sie sofort auf. Es sah fast so aus, als ob Kinder wiederholt durch die Himbeer- und Brombeersträucher gebrochen seien. Wir waren zunächst still, aber als wir uns einmal rund um die Insel geschlichen hatten und nun wußten, woran wir waren, fragte ich:

»Herzle, hast du Appetit auf Bärenschinken oder Bärentatzen?«

»Mein Gott!« antwortete sie ein wenig erschrocken. »Gibt es hier etwa Bären?«

»Ja«

»Wohl gar Grislybären?«

»Nein. So schlimm ist es nicht. Es ist ein ganz gewöhnlicher, unschädlicher schwarzer Bär, der auf dem linken Hinterbein hinkt. Er scheint einmal verwundet worden zu sein und hat sich also die Gefährlichkeit abgewöhnen müssen. Ich vermute in ihm einen leidenschaftlichen Pflanzenfresser, der sich nicht die geringste Mühe geben wird, dir als Menschenfresser zu erscheinen. Er steckt hier oben auf der Insel.«

»Dort oben?« Sie schaute empor. »Du hast recht. Ich sehe ihn. Dort guckt er herunter. Dort, dort!«

Sie zeigte mit der Hand hinauf. Da hob der Junge Adler auch schon sein Gewehr.

»Schießt nicht; schießt nicht!« bat sie. »Er macht ein gar zu liebes, albernes Gesicht!«

Aber ihr Wunsch kam zu spät. Der Schuß krachte. Die Kugel war ins Auge gezielt und drang grad ins Gehirn. Der Bär hatte hart am Rand der Insel gelegen und, als er uns sah, eine Bewegung gemacht, sich aufzurichten. Nun sank er wieder nieder, wälzte sich unter der Wirkung des Schusses einmal nach vorn, kam dann heruntergerutscht und blieb tot vor unsern Füßen liegen.

»Wie schade!« meinte meine Frau. »Man konnte ihn leben lassen!«

»Zu seiner eignen Qual?« fragte ich, indem ich ihn untersuchte. »Schau her! Er war nicht verwundet, sondern er hatte das Hinterbein gebrochen, und da ihm keine Universitätsklinik half, so schleppte er es eben hinterher, bis ihn unsre Kugel erlöste.«

»Aber das war noch lange kein Grund, das harmlose Tier zu töten«, beharrte sie.

Ich kannte meine Frau und wußte, daß bei ihr in Gefühlsdingen eine sachliche Belehrung nichts fruchtete. Darum wich ich mit einem Scherz aus.

»Gebrochene Beine schmecken gerade gut.«

»Du bist ein lasterhafter Mensch!« zürnte sie, halb lachend und halb ernst. »Was wird nun mit dem Bär? Wer soll ihn denn hinauf nach unserm Versteck tragen?«

»Das werden unsre beiden Jäger besorgen. Das Tier ist über vier Jahre alt und wiegt wohl einige Zentner, aber wir haben ja Maultiere, ihn zu tragen. Wir müssen alles vermeiden, was unsre Anwesenheit verraten könnte, der Indianer wegen, die wir erwarten. – Jetzt ziehen wir Meister Petz den Rock aus.«

Das ging sehr schnell. Der Junge Adler half und zeigte sich dabei geschickt und sauber. Als wir das Tier dann wieder in sein eignes Fell gewickelt hatten, setzten wir unsre unterbrochnen Nachforschungen fort. Auch hier führten Stufen hinauf, die aber von Ranken fast unwegsam gemacht worden waren. Zu beiden Seiten dieser Stufen gab es je eine große Steintafel mit ziemlich guterhaltnen Meißelarbeiten. Diese Tafeln waren jedenfalls erst dann angebracht worden, als der Kessel kein Wasser mehr hatte. Sie enthielten Abbildungen der Insel. Auf der ersten Tafel sahen wir eine männliche Figur, die hinaufsteigen wollte. Auf der zweiten erschien oben ein schreckliches Ungetüm, das diesen Kühnen verschlang, noch bevor er hinaufgelangt war. Also eine Warnung, den ›Fels der Verschwiegenheit‹ zu betreten! Warum das? Es schien hier doch etwas vorhanden gewesen zu sein, was niemand wissen durfte! Wir kletterten hinauf.

Oben sahen wir ein vom Gebüsch vollständig überwuchertes, kleines, niedriges Gebäude, ungefähr einer Feldwächterhütte ähnlich, aber aus Steinplatten gebaut, sowohl die Wände als auch das Dach. Gleich daneben hatte sich der Bär sein Lager hergerichtet. Drinnen hätte er es wohl bequemer gehabt, aber er war nicht hineingelangt, denn die Tür war geschlossen. Sie ging in einer steinernen Standangel, die in den Platten selber angebracht war. Wir öffneten. Die Hütte war vollständig leer. Es konnten vier Personen darin sitzen, mehr nicht. Für wen war dieses Häuschen bestimmt gewesen? Etwa für einen Lauscher? Er saß hier versteckt und ungesehn. Auf der andern Insel aber gab es weder ein solches Häuschen noch verbergende Büsche. Er konnte also alles sehn; die aber, die er beobachtete, bemerkten ihn nicht.

Eine weitere Entdeckung war auch hier oben nicht zu machen. Wenn das Geheimnis, nach dem ich suchte, wirklich vorhanden war, so fußte es gewiß nicht auf scharfsinnigen Berechnungen, sondern auf der schlichten Ausnützung eines einfachen Naturgesetzes. Nicht ohne Grund dachte ich daran, daß hier Eingeweihte ein Geheimnis darum gesponnen hätten, um Unwissende zu täuschen. Ich bat meine Frau, mit dem Jungen Adler nach der andern Insel zurückzukehren und sich dort auf den Stuhl der Häuptlinge zu setzen.

»Wozu?« fragte sie.

»Es gilt eine Überraschung, die ich dir bereiten möchte.«

»Überraschung?«

»Ja doch! Glaube mir nur! Wenn ich dir jetzt erst eine lange Erklärung gebe, dann ist es nichts mehr mit der Überraschung. Siehst du das nicht ein?«

»Freilich!«

»Dann bitte! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie quittierte mit einem Kopfschütteln.

»Du bist seit einiger Zeit sehr geheimnisvoll.«

Dann entfernte sie sich mit dem Apatschen. Ich trat an den Rand der Insel und schaute ihnen nach. Sie schritten über den Platz, während sie miteinander sprachen, bis an die Kanzel des Teufels und stiegen hinauf. Ich muß sagen, daß ich mich in großer Spannung befand. Ich lauschte.

Da erklang, nicht vor mir, also von dorther, wohin ich schaute, sondern hinter mir die muntere Stimme meiner Frau:

»Er ruht nicht eher! Er wird es durchsetzen, hinter diese ›Ohr‹- und ›Kanzel‹-Sache zu kommen! Ich kenne ihn!«

Sie standen jetzt beide oben auf der Insel. Die Worte Klaras hatte ich also erst von dem Augenblick an gehört, als sie auf der Höhe der Kanzel erschienen war. Ich sah beide stehn, wenn auch nicht deutlich. Die Gesichter konnte ich nicht erkennen; dazu war die Entfernung zu groß. Auch die Arm- und Handbewegungen waren für mich nur unklar. Es trat nach dem letzten Wort eine Pause ein; dann hörte ich Klara wieder:

»Nein; ich habe keine Ahnung. Er hat ja noch keine Zeit gehabt, es mir zu sagen.«

Aus diesen Worten war zu schließen, daß der Apatsche auch etwas gesprochen hatte, was meinem Ohr aber entgangen war. Wahrscheinlich stand ich falsch, nämlich so, daß mich die von seinem Mund ausgehenden Schallwellen nicht treffen konnten. Meine Frau war am Rand der Insel stehngeblieben. So stand auch ich. Der Junge Adler aber war mehrere Schritte nach der Mitte zu gegangen. Deshalb verließ auch ich den Rand und ging zur Mitte. Sie lag hier bei mir allerdings grade da, wo das Häuschen stand, also tief im Gesträuch, und es fragte sich, ob dieses Gebüsch die Schallwellen nicht auffangen und unhörbar machen würde. Das geschah aber nicht. Denn kaum hatte ich das Häuschen erreicht, so hörte ich meine Frau noch viel deutlicher als vorher sagen:

»Leider habe ich noch keinen gebraten. Ich muß mich also ganz auf Euch verlassen. Sind die Tatzen wirklich das Beste?«

Ebenso deutlich hörte ich hierauf den jungen Apatschen antworten:

»Ohne allen Zweifel! Es gibt überhaupt nichts Köstlicheres!«

»Und müssen sie wirklich vorher so lange liegen, bis sie Würmer bekommen?«

»Eigentlich ja.«

»Pfui!«

»Warum pfui? Man entfernt die Würmer. Man ißt sie doch nicht mit!«

»Aber sie waren doch da! Das ekelt!«

»Dann wartet man eben nicht so lange!«

Da machte ich mir den Spaß, mit lauter Stimme dazwischenzurufen:

»Auf keinen Fall! Man muß warten, bis die Würmer drin sind! Dann werden die Tatzen gebraten; die Würmer aber verfüttert man an die Rotkehlchen und Nachtigallen!«

Sofort hörte ich Klara lachen.

»Das ist mein Mann, der Spaßvogel! Er ist uns nachgeschlichen. Wo steckt er denn?«

Ich vermutete, daß sie sich nach mir umschaute. Erkennen konnte ich das nicht. Darum rief ich:

»Hier bin ich – hier!«

»Wo denn?« fragte sie.

»Hier oben! Bei Dick Hammerdull!«

»Scherz! Sag es ernsthaft!«

»Nun gut: Ich sitze dort auf dem nächsten Baum!«

»Nichts als Unfug! Sprich doch vernünftig! Hier ist irgendein Trick dabei.«

»Ganz wie du willst! Der Junge Adler mag in seine linke Westentasche greifen. Da stecke ich!«

»Uff, uff!« rief der Genannte. »Jetzt weiß ich es!«

»Was?« fragte sie.

»Er ist gar nicht da! Seine Stimme klingt bald von oben, bald von unten, bald von rechts und bald von links. Er steht noch dort, wo wir ihn verlassen haben; aber er hat das Geheimnis entdeckt, uns seine Stimme bis hierher zu senden.«

»Dann wäre das wohl die Überraschung, von der er sprach?«

»Ganz gewiß. Ihr sagtet soeben, daß er nicht eher ruhen würde, als bis er hinter diese ›Ohr‹- und ›Kanzel‹-Sache gekommen sei. Nun kann er ruhn. Er hat seine Aufgabe gelöst!«

Da sprach ich hinein:

»Er hat recht. Ich ruhe.«

»Wo?« fragte Klara.

»Hier auf meiner Insel. Ich stehe vor dem Häuschen.«

»Wirklich? Oder foppst du noch immer?«

»Nein. Jetzt bin ich ernst. Ich rede auch ganz vernünftig. Ich stehe wirklich hier am Inselhäuschen auf dem ›Fels der Verschwiegenheit‹ und höre euch ebenso gut wie ihr mich hört. Das ahnte ich, und deshalb schickte ich euch nach der andern Insel, um die Probe auf meine Vermutung zu machen. Sie ist gelungen und stellt mich zufrieden.«

»Wenn das so ist, wie du sagst, so gleicht es fast einem Wunder!«

»Und ist doch gar kein Wunder, sondern nur die kluge, sorgfältige Ausnutzung eines einfachen Naturgesetzes.«

»Da können wir doch von dort aus, wo du jetzt bist, die Verhandlungen der Indianer belauschen!«

»Ja. Vom Anfang bis zum Ende! In aller Gemächlichkeit und Sicherheit!«

»Jetzt begreife ich, wozu uns deine Pfiffigkeit nutzen kann. Deine Entdeckung bringt uns den Feinden gegenüber stark in Vorteil.«

»Schön! Aber machen wir trotzdem einmal eine Probe auf die Stärke oder Schwäche des Tons und auf den Punkt, wo man sein muß, um kein Wort zu verfehlen!«

Auch diese Probe gelang sehr gut. Nur was geflüstert wurde, war nicht zu verstehn; es klang wie ein Hauch, der keine Worte hat. Und wenn man laut rief, so rollte es fast wie Donner. Man konnte darüber erschrecken. Dabei ging die Deutlichkeit um einen geringen Teil verloren. Aber alles, was zwischen diesem Flüstern und diesem Donnern lag, klang genau so, als ob man sich mit dem Sprecher an ein und demselben Ort befände.

Schließlich machte meine vorsichtige Frau den Vorschlag, unsre Stellungen einmal zu vertauschen.

»Du kommst hierher nach meiner Insel, und ich komme nach der deinen«, sagte sie. »Dabei kreuzen sich doch unsre Wege. Du aber legst irgend etwas, was ich dir jetzt sage, ins Häuschen hinein, damit ich mich überzeuge, daß du dich jetzt wirklich dort befindest.«

»So glaubst du immer noch, ich scherze?«

»Ich verstehe von eurer Schallehre und euern Naturgesetzen so wenig, daß ich mich gern auch noch auf eine andre Weise von der Richtigkeit dieser merkwürdigen Erscheinung überzeugen möchte.«

»So sag, was soll ich herlegen? Meine Uhr, mein Messer?«

»Nein, etwas Poetisches! Einen Liebesbrief!«

»Oho! An wen?«

»An mich natürlich. Es ist ja keine andre da. Nimm also ein Blatt aus deinem Merkbuch und schreibe darauf, was ich dir jetzt angebe!«

»Gut! Das Blatt ist da, der Bleistift auch. Nun sprich!«

Sie sagte folgendes an:

»Mein teures Herzle! Ich liebe Dich und bin glücklich, mit Dir ein echtes Wildwest-Abenteuer zu erleben.«

Ich legte den Zettel ins Häuschen, stieg von meiner Insel hinunter und ging nach der andern. Sobald wir uns unterwegs begegnet waren, beeilte ich mich, so schnell wie möglich nach der andern Insel zu gelangen. Oben verhielt ich mich sehr still und lauschte. Da hörte ich sie kommen. Sie sprachen miteinander. Meine Frau ging sofort nach dem Steinhäuschen. Ich hörte sie sagen:

»Wahrhaftig! Da liegt das Blatt!« Sie las es und fuhr dann fort: »Genau so, wie ich es angab. Es kann also kein Zweifel mehr sein –«

»So gehn wir jetzt, um nach unserm Lager zurückzukehren«, unterbrach ich sie. »Ich komme nicht erst zu euch, sondern wir treffen uns am Wasser, draußen vor dem Kessel.«

Als ich dort ankam, waren sie trotz des kürzern Wegs noch nicht da. Es dauerte noch einige Zeit, bevor sie sich einstellten.

»Wir mußten dich warten lassen«, entschuldigte sich meine Frau. »Es galt doch, es dir so bequem wie möglich zu machen.«

»Was?«

»Deinen Lauscherposten, das Häuschen, worin du dich voraussichtlich stundenlang oder gar noch länger aufhalten wirst. Es mußte erst gereinigt werden. Dann haben wir trocknes Laub hineingeschafft, damit du es dir so behaglich machen kannst, wie die Verhältnisse es gestatten. Steigen wir jetzt nach oben?«

»Ja. Aber nur wir zwei. Der Junge Adler mag hierbleiben und auf Dick Hammerdull warten, der mit ihm gemeinsam den Bär holen soll. So brauchen wir Pitt Holbers nicht erst. Für einen ist das Tier zu schwer.«

Der Apatsche war einverstanden. Er legte sich ins Moos, um den alten Westmann zu erwarten; wir beiden andern aber machten uns auf den Weg nach dem Lagerplatz.

Dort erfuhren wir, daß Hammerdull uns vom Anfang bis zum Ende beobachtet hatte. Auch den Schuß hatte er gehört. Nun freute er sich darüber, daß er einem Bären gegolten hatte, und machte sich schleunigst mit zwei Maultieren auf, ihn zu holen.

»Mister Shatterhand«, sagte er, und in seinen Augen zuckte es hell, »es war ein großes Glück, daß Ihr kamt. Jetzt ist das Leben wieder so, wie es sein soll!«


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