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Instinkt

I.

Ein besonders krasser Fall unter vielen, wo es sich bei der Begriffsuntersuchung nicht um Verifikation einer Beobachtung, nicht um eine Definition, nicht um genauere Feststellung des Sinnes handelt, sondern allein um die Frage, ob der alte Begriff überhaupt eine Bedeutung habe oder nicht. Zwei Weltanschauungen stehen einander gegenüber und streiten über die Frage: ob das Tier Intelligenz besitze oder nur Instinkt? Ob die Motive des tierischen Handelns von denen des menschlichen nur dem Grade nach oder der Art nach verschieden seien? Man könnte die Frage noch anders und wieder anders formulieren, ohne weiter zu kommen. Auf der einen Seite stehen die Forscher, die in einem Mischmasch von Materialismus, Entwicklungslehre und Aufklärung wieder einmal den letzten Gipfel des Kulturfortschritts erblicken und die Scheidemauer zwischen Tier und Mensch, weil sie zu hoch hinaufgeführt worden war, ganz und gar niederreißen wollen. Neben ihnen und hinter ihnen stehen alle liberalen Zeitungen des Abendlandes, in denen man täglich hübsche, falsch beobachtete oder falsch erklärte Tiergeschichten lesen kann. Auf der anderen Seite stehen die frommen Leute, die in diesem Niederreißen mit Recht die bewußte oder unbewußte Absicht sehen, dem Menschen durch seine Gleichstellung mit dem Tiere die Göttlichkeit seiner unsterblichen Seele zu nehmen; ihnen kann die Scheidewand nicht hoch genug sein, damit die seelenlosen Tiere ordentlich auf der Linken, die Geister oder Seelen ihres Gottes, der Engel und der Menschen auf der Rechten bleiben. Ich habe dazu eigentlich nur eins zu sagen: Darwin, seine Lehrer und seine Schüler haben allerdings die Tierpsychologie allzusehr vermenschlicht; da aber alle Geisteswissenschaften seit uralten Zeiten die Menschenpsychologie versprachlicht haben, versprachlichen mußten, um etwas darüber denken oder sagen zu können, so wird wohl der Streit der beiden Parteien wieder auf einen Wortstreit hinauskommen. Damit könnte ich schließen; soll der Leser aber mit diesen Worten ungefähr meine Vorstellung verbinden lernen, so muß ich doch wohl einiges vorbringen, was mich auch in dieser Frage beschäftigt hat, was ich beim Lesen gelernt und überwunden habe. Ist der Leser durch den muffigen Raum meiner Werkstatt hindurchgegangen, so wollen wir zusammen froh in die freie Luft hinaustreten. Mancheiner wird es wörtlich nehmen und tadeln, wenn ich nun sage, daß ich aus Bequemlichkeit den Stand der Frage, nach einer vorläufigen Orientierung, an zwei typischen Gegnern darstellen will, an Romanes und an Erich Wasmann S. J. Der Standpunkt von Romanes versteht sich von selbst: er lehrt unter Darwins Beifall, was alle Welt seit Darwin richtig findet, weil diese moderne Lehre die Sprache aller lebenden Welt spricht und weil die gegenwärtige Sprache immer das letzte Wort hat. Pater Wasmann ist nicht in so glücklicher Lage; er hat unter allen möglichen philosophischen Standpunkten sich just den des Thomas von Aquino gewählt und redet darum, nicht immer in ganz guter Übersetzung, die Sprache, die in der Psychologie so etwa vor Rudolf von Habsburg richtig war, das letzte Wort war. »Er ist ein Jesuit«, sagen die liberalen Zeitungen und dünken sich schon recht anständig, wenn sie ihm in der Polemik nicht Erbschleicherei und Beichtstuhlunzucht vorwerfen. Und doch hat dieser kluge und fleißige Jesuitenpater in der Negation vollkommen recht, hat den ersten Teil meiner These klar und deutlich ausgesprochen: daß nämlich die Darwinisten die Tierpsychologie allzusehr vermenschlicht haben. Meinen zweiten Satz, daß die Menschenpsychologie versprachlicht werden mußte (gemäß dem Wesen des Menschen und der Psychologie) würde P. Wasmann gleichfalls zugeben, wenn er nur überlegen wollte, daß Resignation und wissenschaftliche Verzweiflung gar oft leicht in die Kirche zurück getrieben hat. Das ist ja die schwache Seite unserer Wissenschaft, daß sie immer im Unrechte ist gegenüber prinzipieller Negation, daß die Gläubigen immer im Rechte sind mit einer starken Kritik der erkenntnistheoretischen Grundlagen. Wie die Sozialdemokraten der Gesellschaftsordnung gegenüber recht haben mit ihrer Kritik und ihrer Negation, die frommen Sozialdemokraten, die an Karl Marx glauben, wie die anderen an den älteren Juden im Himmel. Noch ein Wort voraus über die Geschichte der beiden Begriffe Intelligenz und Instinkt. Intelligere heißt ungefähr: etwas merken, wahrnehmen, verstehen; das lateinische Verbum hat also einen Sinn, insoweit wir in naiv geistigem Realismus den Sprachgebrauch hinnehmen; das Adjektiv intelligens bedeutet schon einen Menschen oder ein Tier (ich will ja nicht vorgreifen), dem das Wahrnehmen und Aufmerken zur Gewohnheit, zur Eigenschaft seines Wesens geworden ist; intelligentia aber, die Bezeichnung für die Fähigkeit zu intelligieren, ist ein sehr drollig gebildetes Wort (ebenso drollig rationalitas neben ratio), das man mit Einsichtigkeit übersetzen sollte, wie man es mit Verständigkeit übersetzt hat. Intellekt wäre also immerhin noch ein quid, das man freilich nicht kennt; intelligen tia aber ist gar nur eine Quiddität. Wir wissen ja nur selten, wie tief wir noch in scholastischer Sprache stecken. Instinctus wie instigare (aufhetzen, anspornen, aufregen), von dem gleichbedeutenden instinguere, hieß die Anreizung, der Antrieb durch einen Gott, einen Dämon oder einen Befehlshaber. Als man nun im Mittelalter den Tieren instinctus naturales zuschrieb, sagte man damit nichts weiter, als daß sie natürlichen Antrieben folgen. Da nun eine Menge theologischer Streitfragen, wie Unsterblichkeit der Seele, Schuld, Gerechtigkeit der Vorsehung (was man jetzt etwa Optimismus nennt), Willensfreiheit, ja sogar Gnadenwahl nur auf Grund von Untersuchungen über Menschen- und Tierseele beredet werden konnten, so wurde diese Frage von Zeit zu Zeit Mittelpunkt der christlichen Psychologie. Unversehens wurde der instinctus, der Antrieb, zu einem terminus technicus; anstatt einer Antwort hatte man nur ein neues Wort. Der deutsche terminus technicus lautet in etwas erweiterter Verwendung Trieb. Man braucht nur die volle Lehnübersetzung von instinctus dafür zu setzen, Antrieb, und man wird gleich fühlen, daß auch dieses Wort nur eine Frage nach der Ursache ist, nicht die Antwort, nicht die Ursache selbst. Eine Frage mit dem Tone der Sehnsucht nach einer Antwort; wie so viele Worte.

II.

Es führt ein langer Wüstenweg durch das Mittelalter von den Tieranekdoten des Aristoteles und seiner Abschreiber zu der modernen Tierpsychologie, die sich erst das Problem stellen konnte, die Triebe der Tiere zu erklären. Selbstverständlich konnte die Scholastik den anthropozentrischen Standpunkt nicht verlassen, der ja bis auf unsere Tage nur von wenigen überwunden ist. Aber die Scholastik stand psychologisch eigentlich noch tiefer, weil sie im Grunde uranozentrisch war. Für diese noch so scharfsinnigen Theologen gab es keine Psychologie, höchstens Pneumatologie. Aber aus dem Nominalismus, dem Meisterstück scholastischen Denkens, entwickelte sich der Konzeptualismus, dem Selbstbeobachtung, also Psychologie, nicht mehr unmöglich war. Zur größeren Ehre Gottes und der Engel wurde die Menschenseele analysiert, zur größeren Ehre des Menschen gelegentlich auch die Tierseele. Noch später versuchte die Tierpsychologie sich selbständig zu machen. Immer wieder wirkte die Scholastik, nach der alle Disziplinen Mägde der Theologie waren. Auch die berüchtigte Lehre des Descartes, daß die Tiere Maschinen seien, schielte nach der Theologie. Ich glaube bestimmt, daß Descartes auch da wieder vorsichtig einen Kompromiß schloß zwischen seinen Überzeugungen und den Forderungen der Kirche. Ihm waren materialistische Anschauungen nicht fremd; weil er aber, ebenso wie im Falle Kopernikus, die Folgen scheute, machte er einen tiefen Schnitt zwischen dem Menschen und den anderen Tieren, ließ dem Menschen seine unsterbliche Seele und machte die Tiere zu Maschinen. Das war sein Dualismus. »C'est aussi une chose fort remarquable que, bien qu'il y ait plusieurs animaux qui témoignent plus d'industrie que nous en quelques unes de leurs actions, on voit toutefois que les mêmes n'en témoignent point du tout en beaucoup d'autres: de façon que ce qu'ils font mieux que nous ne prouve pas qu'ils ont de l'esprit, car à ce compte ils en auraient plus qu'aucun de nous, et feraient mieux en toute autre chose; mais plustôt qu'ils n'en ont point et que c'est la nature qui agit en eux selon la disposition de leurs organes: ainsi qu'on voit qu'une horloge, qui n'est composée que de roues et de ressorts, peut compter les heures et mesurer le temps plus justement que nous avec toute notre prudence« (Discours de la méthode 5). Hier haben wir schon das Uhrengleichnis, das dann (Kritik der Sprache I, 2. Aufl., 288 f.) besonders durch Geulincx und Leibniz weiter ausgeführt worden ist. (Vgl. Art.  Uhrengleichnis.) Ich gehe weiter, auch über die Frage, ob Descartes die fast hundert Jahre ältere Schrift des Spaniers Pereira (man vergleiche den Artikel Pereira bei Bayle) gekannt habe oder nicht; ein Berichterstatter wundert sich nicht wenig darüber, daß in Spanien, wo die Freiheit des Denkens noch weniger geduldet wird, als die körperliche Freiheit in der Türkei, die Behauptung aufgestellt werden konnte: »que les bêtes sont des machines«. Eine im Grunde recht törichte Schrift des päpstlichen Exlegaten Borarius, die 1547 verfaßt, aber erst 1645 herausgegeben wurde (ich besitze sie in der Heimstätter Ausgabe von 1729, die eine historisch-philosophische Dissertation »de anima brutorum« hinzufügt), und an der der schreiende Titel noch das Beste ist: »Quod animalia bruta saepe ratione utantur melius homine« – hat das zufällige Verdienst, die moderne Tierpsychologie mächtig angeregt zu haben. Rorarius hätte sein Pamphlet schreiben können, beinahe ohne je ein Tier gesehen zu haben. Nur einige Hundegeschichten (der eine Hund konnte nach vorgehaltenen Noten singen) sollen auf Beobachtung zurückgehen; sonst bringt er alle Ladenhüter aus dem antiken Anekdotenschatz vor. Plinius ist seine reichste Quelle. Nichts fehlt, nicht der Löwe des Androklus, nicht der Delphin des Arion; auch die spanische Geschichte, die Schiller in die Reime seines Handschuh gebracht hat, steht beim Rorarius, mit der Tendenz, daß die Löwen im Zwinger anständiger waren als die anspruchsvolle Hofdame. Im übrigen verteidigt Rorarius eigentlich weniger die Intelligenz der Tiere als ihre Ethik. Bosheit, perverse Lüste, ja Bestialität sei mehr bei Menschen als bei Tieren zu finden; der Menschenhaß des Rorarius hat eine persönlichere Note als seine Tierliebe. – Das törichte Buch gewann Bedeutung durch den Artikel »Rorarius« in Bayles großem und einflußreichem historisch-kritischen Wörterbuch. Der skeptische und scharfsinnige Bayle führt einen Kampf mit zwei Fronten; er wendet sich gegen die Tierpsychologie des Descartes, aber auch gegen die neu aufgekommene prästabilierte Harmonie von Leibniz. Ironisch sagt Bayle: »C'est dommage que le sentiment de Mr. Descartes soit si difficile à soutenir, et si éloigné de la vraisemblance; car il est d'ailleurs très-avantageux à la vraie foi, et c'est l'unique raison qui empêche quelques personnes de s'en départir. Il n'est point sujet aux conséquences très-dangereuses de l'opinion ordinaire.« Bayle läßt in seinen wie immer köstlichen Anmerkungen keinen Zweifel darüber, daß er, unbekümmert um den wahren Glauben, den Tieren (mit älteren und neueren Philosophen) eine Seele zuschreibt. Er sammelt Aussprüche von Eideshelfern für die Intelligenz der Tiere. Er zitiert einen Kartesianer, nach welchem eine Seele nicht nur zum Gehen, Trinken und Essen, zum Weinen, sondern auch zum stundenlangen Predigen und zu einer Advokatenrede unnötig sei; er zitiert gegen Gottes Allgüte (inbezug auf die Leiden der Tiere) den Maimonides; er beruft sich auf Isaak Vossius, nach welchem (de poëmatum cantu et viribus rythmi p. 65) die Tiere sprachbegabter sind als wir, weil sie einander ihre Gedanken schneller und vielleicht glücklicher mitteilen. Er greift endlich recht achtungsvoll Leibniz an und parodiert die prästabilierte Harmonie, indem er sie auf Julius Cäsar anwendet und so ad absurdum führen will: Il faut dire selon ce système que le corps de Jules César exerça de telle sorte sa vertu motrice, que depuis sa naissance jusqu'à sa mort il suivit un progrès continuel de changements, qui répondait dans la dernière exactitude aux changements perpétuels d'une certaine âme qu'il ne connaissait pas, et qui ne faisait aucune impression sur lui. Auch das Uhrengleichnis, das in dieser Polemik die berühmt gewordene Form erhält (Standpunkt des Parallelismus, des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie), wird kritisiert. Leibniz antwortete scharf und elegant; und Bayle brachte seine Duplik in der nächsten Auflage vor. Dann faßte Leibniz seine Meinung in einer kleinen Abhandlung zusammen, die lesenswert ist und die ich in der Übersetzung von Gottsched (Bayles Wörterbuch IV, 709) vor mir habe: »Antwort des Herrn von Leibniz, auf die Betrachtungen, Welche in dem Wörterbuche des Hrn. Bayle, in den neuern Ausgaben, in dem Artikel Rorarius, über das Lehrgebäude von der vorher bestimmten Harmonie gemachet worden.« Leibniz verwirft die »böse Lehre« der Materialisten Epikuros und Hobbes, »als wenn der Mensch ein bloßer Leib und nur ein Kunstwerk (Automat) wäre. Sie haben auch dasjenige, was die Kartesianer in Absehen auf andere Tiere gegeben, bis auf den Menschen selbst getrieben«. Leibniz sieht keinen Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Weltereignisse und der Allmacht Gottes; er erhebt sich zu der wissenschaftlichen Phantasie, die – weil ihr Urheber nicht entdeckt war – bis heute unter dem Namen der Laplaceschen Weltformel bekannt ist. »Es ist ja gar kein Zweifel, daß ein Mensch eine Maschine machen könne, welche einige Zeit durch die Stadt spazieren gehen und sich auf gewissen Ecken der Straßen allemal richtig umkehren könnte. Nun könnte ein unendlich vollkommener, obgleich eingeschränkter Verstand auch eine ungleich größere Anzahl von Hindernissen vorhersehen und vermeiden. Dieses ist so wahr, daß, wenn diese Welt nach der Meinung einiger Leute nur aus einer endlichen Zahl von Stäubchen zusammengesetzt wäre, die sich nach mechanischen Gesetzen bewegten, es gewiß einen endlichen Verstand geben könnte, der erhaben genug sein könnte, alles demonstrativisch vorauszusehen und zu begreifen, was in einer gesetzten Zeit darinnen vorgehen würde. Ein solcher Verstand würde nicht nur ein Schiff machen können, welches ganz allein nach einem gesetzten Hafen liefe, wenn er ihm gleich anfangs den Schwung, die Richtung und die gehörigen Triebfedern gäbe; sondern er würde auch einen Körper machen können, der einem Menschen gleich käme.« Der Allmacht Gottes wäre also die Herstellung von menschlichen oder tierischen Maschinen möglich, in denen prästabilierte Harmonie herrschte; in dieser Lehre wäre das Gute von Platon und das Gute von Epikuros vereinigt, die Weisheiten des größten Idealisten und des größten Materialisten. Damit hatte Leibniz (Religion beiseite) den Unterschied zwischen Tier und Mensch aufgehoben, wie er denn in seiner Monadenlehre schon den Panpsychismus Fechners und auch die unbewußten Vorstellungen Hartmanns vorweggenommen hatte. »Es ist sogar unmöglich, daß es nicht allenthalben Entelechien geben sollte.« Auf Julius Cäsar wie auf jedes niederste Tier sollen die beiden Hälften seiner Meinung Anwendung finden: daß alles in der Seele so vorgehe, als ob kein Körper vorhanden wäre; und daß alles im Körper so geschehe, als ob keine Seele da wäre. Seine Abhängigkeit von der Kirche verrät sich freilich an manchen Stellen: der Urheber der Welt habe die Automaten, z. B. das automatisch gesteuerte Schiff, zum gut gehen bestimmt; und auf Spinoza, dem Leibniz, der stärkste und fruchtbarste Geist unter allen Aneignern fremder Gedanken, 20 Jahre vorher nachgeschlichen war, wird weidlich geschimpft. Aber mit genialen Blicken eilt Leibniz, wie so oft, auch hier, seiner Zeit voraus. »Aus den gegenwärtigen Gedanken der Seele entstehen die folgenden; und man kann sagen, daß in ihr, wie sonst allenthalben, das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen schwanger sei.« Systematischer als der leidenschaftliche Systembegründer Leibniz hat sein Nachfolger Christian Wolf die Weltanschauung zusammengestellt und dadurch beherrscht, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Wissenschaft war und noch lange nachher populär blieb. Am Ende seiner Psychologia rationalis gibt er gut und nüchtern seine Tierpsychologie. Das Tier besitzt eine Seele; auch Perzeption. Die Tierseelen sind einfache Substanzen, sind nicht körperlicher Art; auch Wolf scheint schon den Verdacht gegen den versteckten Materialismus des Descartes gehabt zu haben, denn er nennt die Kartesianer, welche die Tiere für bloße Maschinen erklären, audaciores magistro suo, qui subdubitanter ea de re loquitur. Die Tierseelen erfreuen sich der Einbildungskraft und des Gedächtnisses, wobei Wolf besonders auf die Unsicherheit der Terminologie hinweist. Eine Sprache haben die Tiere nicht, trotzdem manche von ihnen Sprachwerkzeuge besitzen wie die Papageien (er erinnert sich, daß vor Jahren ein Hund gewesen sei, der viele deutsche und französische Worte aussprechen konnte; Psychologia rationalis 1740, § 759). Darum haben die Tiere auch keine Allgemeinbegriffe, kein Urteil und keine Vernunft; der Beweis wird aus der prästabilierten Harmonie geführt; und wenn die Tiere ohne Sprache oder gleichwertige Zeichen die Wahrheit erkennen könnten, so müßten ihre Seelen vollkommener sein als die menschlichen. Die Tiere haben keinen Intellekt, ihre Seelen sind irrational; sind keine Geister, weil sie keinen Intellekt und keinen freien Willen besitzen. Nur ein Analogon der Vernunft haben die Tiere, sie haben Gedächtnis, aber kein Selbstbewußtsein. »Memoriam igitur sui minime habent« (§ 766) und sind keine Personen. »Quoniam illud demum est persona, quod memoriam sui conservat, bruta personae non sunt« (§ 767). Tierseelen können nur durch Schöpfung entstehen und nur durch Vernichtung zugrunde gehen; sie sind unzerstörbar, aber nicht unsterblich; nicht unsterblich, weil sie sich nach dem Tode an ihre Lebenszeit nicht erinnern können. Es sei sehr wichtig, die echte Vorstellung von der Unsterblichkeit zu besitzen.

III.

So etwa dachten die besten Köpfe der Zeit über Tierpsychologie, so seltsam verquickten sich schon damals die Weltanschauungen der alten Kirche und der neuen Aufklärung, als ein Schüler Wolfs, der tapfere Reimarus, die Triebe der Tiere zum Gegenstande einer besonderen Untersuchung machte, durch welche das Wort Instinkt erst in den deutschen Sprachgebrauch kam. (Im Französischen findet sich instinct schon bei Montaigne: »S'il est quelque loy vraiement naturelle, c'est à dire quelque instinct qui se veoye universellement et perpétuellement empreint aux bestes et en nous« [II, 69], also eher im Sinne von Trieb; bei Shakespeare findet sich instinct aber ganz in der neuen Bedeutung; Falstaff hat sich [Henry IV., I. Teil, 2. Akt] vom Prinzen verhauen lassen, weil er den Prinzen in ihm ahnte. »I am as valliant as Hercules, but beware instinct ... instinct is a great matter; I was a coward on instinct.«) Reimarus ist der Erste, der Tierpsychologie auf Naturbeobachtung zu gründen sucht. Er bemüht sich um eine Definition des Wortes Trieb oder Instinct; das »war bisher so unbestimmt und schwebend, daß es kaum eine gewisse Bedeutung hatte« (Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe, zum Erkenntnis des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, vorgestellet von Hermann Samuel Reimarus. Ich zitiere nach der 3. Ausgabe von 1773.) Er traut dem Aristoteles nicht, »der vieles aus Hörensagen gemeiner Leute hat«, viel weniger dem Aelianus, Plinius, Cicero und Plutarchus. Er unterscheidet mechanische Triebe, Vorstellungstriebe, willkürliche Triebe; diese letzteren nenne man im engeren Verstande schlechthin Triebe, impetus, ὁρμας; und er beruft sich auf ein Wort Zeno's, bei Cicero, daß nämlich die Natur viel künstlichere Werke schaffe als die menschliche Hand, um für diese Triebe oder Instinkte das neue Wort Kunsttriebe zu erfinden (S. 13). Bis auf einen Punkt ist Reimarus kaum von einem neueren Tierbeobachter übertroffen worden; es ist erstaunlich, wie viel und wie vorurteilslos er gesehen hat. Nicht nur eine Seele gönnt er den Tieren, auch ein Analogon vom Witze will er manchen Tieren einräumen (S. 43); überhaupt entdeckt er im Menschen die Wirkung von Trieben und Instinkten. Er vergleicht die triebhaften Handlungen der Tiere mit physiologischen Veränderungen im Menschenkörper, ja auch schon mit Krankheiten, die er mit Hippokrates »auf die Genesung zielende Bewegungen der Natur« nennt (S. 5). »Wir mögen es Instinkte, Triebe, Künste, Kunstähnliches oder Kunsttriebe nennen, oder alle diese Wörter weglassen: so zeiget die Erfahrung offenbar, daß Tiere einer Art gewisse ähnliche Handlungen zu verrichten bemühet sind, welche die dienlichsten Mittel zu ihrer und ihres Geschlechts Erhaltung und Wohlfahrt enthalten; und daß sie in diesen Handlungen gleich das erstemal, wenn sie verrichtet werden, das ist zum Teil gleich nach der Geburt, eine regelmäßige Fertigkeit beweisen« (S. 96). Er weiß sogar schon, was 100 Jahre später Darwin neu entdecken mußte, daß die Instinkte variieren: »die Kunsttriebe der Tiere sind von der Natur nicht so gänzlich und in allen Stücken determiniert, daß ihnen nicht eins und anderes durch ihr eigenes Erkenntnisvermögen nach den Umständen verschiedentlich zu bestimmen übrig bleibe« (S. 172). »Die Tiere können in ihren Trieben auch zuweilen irren; wiewohl das in ihrer vollen Freiheit überaus selten geschieht« (S. 180). Die Lösung der Frage findet Reimarus in einem Schlagworte, das er für eine Erklärung hält: Determiniertheit. Determiniert ist Mensch und Tier in Leib und Seele. Das Uhrengleichnis wird herangezogen, aber gleicherweise für Mensch und Tier (S. 352). Der Begriff der Determiniertheit führt ihn in einem Anhang der 3. Auflage zu einer Polemik, die man mit Heiterkeit nachlesen mag. In den vielgelesenen »Briefen, die die neueste Literatur betreffen«, hatte ein Kritiker die Gedanken des Reimarus töricht angegriffen. Es war der immer subalterne Moses Mendelssohn, wie man jetzt weiß und wie wohl auch Reimarus wußte; denn er unterscheidet zwischen der scharfsinnigen Schreibart und dem feinen Geschmack der Literaturkritik, die doch einst Lessing übernommen hatte, und den übrigen (S. 401). Reimarus geht über Leibniz und Wolf hinaus und unterscheidet Stufen der Determination; solche Stufen durch Abstraktion zu verwischen, sei nicht die beste Methode (S. 413). Er ist nicht gar weit von der Vorstellung, daß selbst der freie Wille des Menschen, »die unbestimmteste Kraft, welche wir in der Welt kennen«, ferner die Vernunft und so manche Bewegungskräfte unserer Gliedmaßen determiniert seien (S. 419). Stufen der Determiniertheit führen von den leblosen Körpern bis zum Menschen; alles ist specifice determiniert (S. 423). Der Mensch wählt sein Handwerk nach Erwägung der Umstände; so unbestimmt kann die Willkür oder die Neigung der Tiere unmöglich sein (S. 425). Reimarus wirft dem guten Mendelssohn (S. 447), den er sonst mit fast anmutiger Höflichkeit behandelt, Verdrehung der ausgesprochenen Meinung vor; es wäre billig gewesen, dem Manne, der in allen Naturwissenschaften hilflos, in der Philosophie von Wolf völlig abhängig erscheint, Unverstand vorzuwerfen als einen mildernden Umstand. Der eine Punkt, auf dem Reimarus starr ist und so verhindert, über die Sprache seiner Zeit hinauszukommen, ist sein Deismus, sein Glaube an den physiko-theologischen Beweis. Der Mann, dessen Verhältnis zu Wolf mit Recht gleichgestellt worden ist dem Verhältnis von Strauß zu Hegel, der Wolfenbütteler Fragmentist, der mit ruhigem Radikalismus die schärfste Kritik des Christentums zu schreiben, wenn auch nicht zu veröffentlichen wagte, der die Apostel mit Voltaireschem unhistorischem Scharfsinn zu Betrügern machte, der als Bibelkritiker nicht kleiner als Spinoza und größer als Strauß war, spricht wie ein Prediger von der Weisheit und Güte des Schöpfers; er beruft sich auf Schriften, deren Titel uns heute parodistisch anmuten: Ichthyotheologie, Testaciotheologie, Insectotheologie. Vernunft und Wille sind determiniert, aber von Gott. »Wer kann von den ursprünglichen Determinationen der ersten körperlichen Naturkräfte weiteren Grund aus einer anderen, ich weiß nicht welcher Natur begehren?« (S. 456.) Reimarus ist nicht weit davon, einen weisen Zusammenhang der Welt mit der gütigsten Absicht des Schöpfers, also die beste aller Welten verwirklicht zu sehen und darauf die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion zu gründen. Gott ist ein Liebhaber des Lebens. »Wir sehen in diesem Teile der Natur ihres großen Stifters unendliche Vollkommenheiten auf eine ausnehmend überführende und reizende Weise: einen Liebhaber des Lebens, der als die erste Quelle des Lebens alle übrigen möglichen Arten der Lebendigen aus ihrem Nichts hervorziehen wollen, welche noch ihres Daseins froh werden und irgendeine Stufe der Lust und Glückseligkeit genießen konnten« (S. 372). Die Tiere sind ϑεοδιδαϰτοι, nicht αὐτοδιδαϰτοι; ein jedes hat soviel Vermögen und Geschicklichkeit, als ihm bei den Bedürfnissen seiner Lebensart zu seiner Wohlfahrt nötig ist; diese Regel können wir aus der allgemeinen Haushaltung des Schöpfers im Tierreiche voraussetzen (S. 382). Bis auf diesen Punkt ist Reimarus ein freier Kopf; er vernichtet definitiv die kartesianische Lehre, die so grob zwischen Tier und Mensch unterscheidet, und verlacht nicht übel (S. 281) die nachgeborenen Thomisten, die Schlüsse ziehen aus unseren Kenntnissen von den Seelen der Engel. Er faßt vor Hemsterhuis Ich lasse es dahingestellt, ob Lessings Einfall, daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können, schon vor der nähern Bekanntschaft mit Hemsterhuis durch Reimarus geweckt werden konnte. den kühnen Gedanken: »es kann sein, daß gewisse Tiere eine Art der Empfindung haben, davon wir Menschen gar nichts wissen und keinen Begriff haben ... es kömmt nur auf Werkzeuge [Organe] an, welche den Eindruck zu empfangen fähig sind« (S. 304); »vielleicht ist der Wanderinstinkt der Zugvögel (er hat dafür einmal, S. 451, das wunderschöne Wort Zugweh nach dem damals neuen Heimweh) ein besonderer, uns ganz unbekannter Sinn«. Ganz verwegen erscheint Reimarus, wenn er einmal (S. 339) die Instinkte der Tiere mit den menschlichen Bewegungsgründen der Moral, mit der Wahl von gut und böse, zu vergleichen scheint; vorsichtig oder gläubig fügt er aber hinzu, daß der Mensch sich selbst verschiedentlich determinieren könne. Und gegen Mendelssohn schwingt sich Reimarus (S. 491) einmal gar zu der sprachkritischen Skepsis der alten Nominalisten auf. »Das Subjectum eines Satzes darf doch darum nicht eben eine Substanz sein, weil die Aussage oder das Prädikatum eine Bestimmung desselben enthält. Oder sind Subjectum und Substantia eins?« So nahe stand vor 150 Jahren der tapfere Deist an der Schwelle des Gedankens, daß die Psychologie durch Versprachlichung wertlos werden müsse; schlimm genug, daß die Fachmänner der Philosophiegeschichte den Mann kaum beachtet haben, der freier als alle Wolfianer schon vor der Überschätzung des Subjekts und vor der Verwechslung zwischen Begriff und Ursache gewarnt hatte. Vermenschlichung der Tierpsychologie freilich, der andere Fehler, lag gar sehr in der Tendenz der Schrift, die nach dem Geschmacke der Zeit eine Rettung war, die Rettung der Tierseele. Es wäre ganz interessant, das halbvergessene Buch mit einer vielgenannten Tierpsychologie unserer Tage zu vergleichen, die überall von Haeckel ausgeht, aber doch glücklicherweise frei ist von der ärgsten Wort- und Systemmacherei Haeckels. Ich meine G. H. Schneiders Darstellung »Der tierische Wille«. Selbstverständlich wird der Begriff Entwicklung auch da zum Lösungsworte für alle Welträtsel gemacht. Wie es eine Stufenreihe von Gliederformen gibt oder geben soll, so gibt es auch Stufenreihen der Intelligenz und des Willens. Dem Materialisten und Atheisten kommt nicht einen Augenblick lang ein Zweifel, kommt nicht der Gedanke, nicht laut und nicht leise, daß die Axiome seiner Tierpsychologie Worte sind, also Versprachlichungen der Menschenpsychologie. Daß der Wille, den wir auf seiner höchsten Stufe so genau als den freien Willen des Menschen zu kennen glauben, im Grunde nur ein Schein ist, der Schein eines freien Willens, eine Begleiterscheinung menschlicher Handlungen im menschlichen Bewußtsein, das selbst wieder ein Schein ist, eine Selbsttäuschung des Gedächtnisses; daß wir eben daran die psychisch begleiteten Bewegungen von den bloß physiologischen unterscheiden; daß alle bloß physiologischen Bewegungen eindeutig bestimmt sind, die von psychischen Erscheinungen begleiteten mehrdeutig eine Wahl zuzulassen scheinen; und daß wir die von psychischen Erscheinungen begleiteten Bewegungen irgendwie mit dem Willensbegriff logisch auseinandersetzen müssen, weil das Wort Wille zur Terminologie der Menschenpsychologie gehört. Und ganz nahe an dieses versprachlichte Scheinwissen vom Willen grenzt der andere Begriff der Schneiderschen und überhaupt der neuen Instinktlehre: der Zweck. Der Zweck ist das Ziel des Willens und der Wille ist im menschlichen Bewußtsein. Was mag da ein Ziel sein, das nicht im Bewußtsein ist? Samiel hilft: das Unbewußte. Allgemein sei jetzt die Definition angenommen: Instinkt ist zweckmäßiges Handeln ohne Bewußtsein des Zwecks. Ein Handeln, das sein Ziel erreicht, ohne das Ziel zu kennen. Ich weiß wirklich nicht, wie man bei der sprachlichen Vorstellung eines Zweckes ohne eine Intelligenz und ohne einen Willen weiter denken kann, ohne eine übermenschliche Intelligenz, ohne einen menschlichen Willen, ohne einen Gott also. Es wäre denn, daß man sich entschlösse, den Zweckbegriff über Bord zu werfen, wozu freilich sprachloses Versenken in die Natur eher fähig wäre, als Denken, als Sprechen. Soll ich auszudrücken versuchen, was Ausdrückung nicht verträgt? Der Instinkt aller Instinkte ist Selbsterhaltung, Selbsterhaltung durch Selbsterhaltung und durch Arterhaltung, durch Nahrungstrieb und durch Geschlechtstrieb. Muß man diese tiefsten Triebe nun durchaus Zwecke nennen? Zwecke der Natur oder eines Schöpfers? Da: ein Wasseratom, eine Lichtvibration. Es ist da und bleibt solange als möglich. Ich sehe den Zweck nicht, so lange ich nicht Menschensprache rede. Nur die tote Natur ist noch nicht ganz versprachlicht worden, weil die Menschensprache sie tot nennt. Entwicklungsgläubig hält sich die Richtung Schneiders frei von solchen Ketzereien. Und auch der Vermenschlichung der Tierseele verfällt er wenig, weil allen Darwinisten mehr daran gelegen ist, die Menschenseele zu vertieren, zu animalisieren, wenn's besser gefällt. Das ist aber wirklich und buchstäblich nur eine Frage des Standpunktes: ob man die Reihe von oben oder von unten überblickt, was man so oben und unten nennt. Für die Menschensprache ist der Mensch oben. Und der alte Buffon behält recht: qu'on admire toujours d'autant plus qu'on observe davantage et qu'on raisonne moins. Die mehr räsonnierenden Tierpsychologen haben alle auf das Tier hinuntergesehen; Tierbeobachter, die keine Systeme spannen, haben oft staunend zu den Leistungen der Tierinstinkte hinaufgesehen. Vermenschlichung lag beidemal zugrunde, lag eigentlich schon in dem Wunsche, zu vergleichen. Die Vergleichung ist das πρωτον ψε υδος menschlicher Systemsucht. Wir sind ein wenig weit in die Geschichte der Tierpsychologie hineingeraten, um den alten Gegensatz der Weltanschauungen mit Beispielen zu belegen, von denen die eine allezeit inneres Leben von außen erklären, die andere den Plan eines Schöpfers immer erblicken wollte bei der für notwendig gehaltenen Unterscheidung des moralischen Menschen und des amoralischen Tieres. Wir werden auf diesen Gegensatz zurückkommen müssen. Aber in die neueste Geschichte des ewigen Streites spielt außer dem Gegensatz der beiden gleich wortabergläubischen Weltanschauungen noch eine andere Stimmung hinein, die von der neueren Tierpsychologie gefördert worden ist, und die nun (man denke nicht an Wechselwirkung) auf die Tierpsychologie zurückwirkt: die Anerkennung der Tiere als gleichberechtigte Mitkreaturen. Man achte auf den Bedeutungswandel des Wortes Kreatur. Alle Verteidiger der gequälten Tierwelt berufen sich, wieder wortabergläubisch, auf die angebliche Gleichheit von Tier- und Menschenseele, also auf Psychologie und daneben – dem lieblosen Alten Testamente gegenüber – auf Buddha und wohl auch auf buddhistischen Aberglauben; in Wahrheit mag die Begründung erst hinterher gekommen sein, in Wahrheit entwickelte sich die immer wachsende Stimmung der Tierliebe aus zwei Gedankenreihen, die sonst wenig miteinander zu tun hätten; einer logischen und einer gemütlichen Gedankenreihe: das Prinzip der Gleichheit, das vor hundert und einigen Jahren zuerst Anerkennung von Menschenrechten für den dritten Stand, später für die ärmsten Volksgenossen verlangte, und dann, konsequent in der Theorie, auch einen viehischen Australneger als Bruder umarmte, glaubte immer noch konsequent zu sein, wenn es die Kreaturrechte zunächst der Haustiere und dann aller Tiere predigte; ganz anders als dieses unnatürliche Gleichheitsprinzip wirkte, mächtiger und mächtiger, die ganz neue Überzeugung, daß der Mensch mit zur Natur gehöre, daß für die Natur der redende Mensch nicht wertvoller sei als irgendein anderes Naturgeschöpf, daß der homo sapiens eher homo insipiens heißen müsse, wenn er sich aus der Natur ausnehmen wollte.

IV.

Das logische Gleichheitsprinzip wird vielleicht grell illustriert, wenn ich daran erinnere, daß der unergründliche Shakespeare, als er seinem Shylock die Worte in den Mund legte: »Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen usw.«, seinen infamen Wucherer vielleicht nur verhöhnen wollte wie an anderen Stellen, und daß diese Worte heute von philosemitischen Schauspielern zur äußersten liberalen Wirkung gebracht werden, und daß nun 300 Jahre später ein Apologist der Tiere unter dem Beifall der Zeitgenossen die Stelle paraphrasieren könnte: »Hat ein Hund nicht Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? ... gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer wie ein Mensch? ... wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?« Die andere, logisch unbegründete, instinktive, grundlos im Naturweben untergehende Liebe zur Tierwelt dürfte in ihrem Wesen mit dem zusammentreffen, was ich sprachkritisch über das Dilemma Instinkt oder Intelligenz zu sagen habe. Denn die schwärmerischen Tierfreunde vermenschlichen allerdings noch mehr als die Darwinisten die sog. Tierseele; aber ihre mystische Versenkung in das Leben von Tier und Pflanze wird sie bereiter machen, auch den anderen, korrigierenden Satz zu verstehen: daß auch die Menschenpsychologie außerhalb der Natur steht, daß sie mit Menschensprache aus der Natur heraustreten, den Menschen aus der Natur ausnehmen wollte. Pater Wasmann hat sich nun die theologische Aufgabe gestellt, gegen die Darwinisten den Nachweis zu führen, daß die Tiere keine Intelligenz besitzen. Es war für seine Partei ein Glück – Instinkt oder Überlegung? –, daß er von sehr gründlichen und sehr gerühmten Studien über das Seelenleben der Ameisen herkam. Wir wissen herzlich wenig über das Seelenleben der uns befreundeten, klügsten Tiere; wir wissen nicht, ob die Anhänglichkeit unseres intimen Hundes (menschlich ausgedrückt) Sklavensinn, Egoismus, Liebe oder Religion ist, von dem Seelenleben der Ameisen wissen wir um so viel weniger, als sogar ihr Sinnenleben himmelweit von dem unseren entfernt sein dürfte. Wir haben keine Ahnung davon, ob die Ameisen auch nur vergleichsweise so sehen, Neuere Versuche haben mit voller Sicherheit gezeigt, daß Hühner und andere Tagvögel blind sind für den kurzwelligen Teil des Prismas. Ganz junge und auch alte Hühner (die beim Aufpicken doch allein durch den Gesichtssinn geleitet werden) picken, auch ausgehungert, in einem verdunkelten Raume beim Scheine eines Spektrums nur die Körner auf, auf die rotes bis gelbes Licht fällt; blaues Licht schon sehen sie so wenig, wie wir das ultraviolette; auf der langwelligen Seite scheint ihre Sehgrenze mit der des Menschen zusammenzutreffen. Solche Vögel mögen die Außenwelt sehen wie wir durch ein orangefarbiges Glas. Und die Augen der Hühner sind doch ähnlich gebaut wie die unseren. Insekten haben Fazettenaugen. Ameisen gar vielfach nur elementare Ocellen, und man will Arbeiterameisen ohne nachweisbare Augen beobachtet haben. Wir wissen nicht, ob das Sehen der Insekten dem menschlichen Sehen gleich, ähnlich oder unähnlich ist. Wir wissen nichts, ein unbeschreiblich Nichts von Sinnen der Tiere, die etwa über oder unter unseren fünf Sinnen vorhanden sein mögen. Da gibt es z. B. Insekten, Tiefseefische, aber auch Schlangensterne, die bei gewissen Erregungen aktiv Lichterscheinungen hervorbringen, also höchstwahrscheinlich die leuchtenden Sekrete ihrer Artgenossen auch wahrnehmen. Hilflos tastend ordnen wir diese Tatsachen in das Sexualleben der Tiere ein. Möglicherweise mit Recht. Den psychischen Vorgang des Wahrnehmens solcher Lichterscheinungen mögen wir mit menschlichem Sehen vergleichen: mit dem Wohlgefallen an der Schönheit des Geschlechtsanderen, mit den Hochzeitskleidern. Aber für den psychischen Vorgang, der den Trieb der Lichterzeugung doch wohl begleitet, haben wir in uns nicht die entfernteste Vergleichsmöglichkeit. so hören, so tasten wie wir. Der uralte Satz, daß nichts im Verstande sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war, drückt es eigentlich schon aus: daß keine Vergleichsmöglichkeit besteht zwischen dem Seelenleben des Menschen und dem der Ameisen, die ganz gewiß nicht unsere Sinne haben, die aber dafür vielleicht Sinneseindrücke besitzen (z. B. vom ultravioletten Licht), die uns mangeln. Ich will diese Unvergleichbarkeit der Ameisenseele und der Menschenseele an einer Hypothese aufzeigen, die unter den Ameisengelehrten sehr verbreitet ist. Man sagt: die Ameisen haben eine Sprache ausgebildet; sie sprechen miteinander, indem die eine Ameise die andere mit den Fühlern betrommelt. Ganz gut möglich. Ich möchte nicht einmal einwenden, daß die innere Verbindung von Gehörzentrum und Sprachbildungszentrum, wie sie beim Menschen mit gutem Grunde angenommen wird, bei der Ameisensprache wegfiele; denn auch das Sprachbild des Menschen ist zuletzt eine Bewegungsvorstellung, wie das Gehörbild eine Bewegungsübersetzung ist; und das Bauchhirn der Ameise kann ebenso leicht eine innere Verbindung zwischen aktiver und passiver Trommelei herstellen, wie das Rückenhirn des Menschen die zwischen unseren aktiven und passiven Bewegungsbildern. Da wir aber nicht einmal wissen, ob die Ameisen irgendwelche Sinnesorgane besitzen, die mit den menschlichen vergleichbar sind, da die einzige vorhandene Sprache (in unserer Sprache) die Menschensprache ist, da wir in unserer Menschensprache nur die Zeichen für unsere Sinneseindrücke niedergelegt haben, wäre es auch dann noch eine kühne Metapher, aus der nichts zu erschließen wäre, das Trommeln der Ameisen eine Sprache zu nennen, auch dann noch, wenn wir Beweise dafür hätten, daß dieses Trommeln Mitteilung zum Zwecke habe. Man vergesse nicht, daß das Tastreden der dreisinnigen, wie die Zeichensprache der Taubstummen, Übersetzung einer sonstwie gelernten Menschensprache ist. H. Lorm, der das Unglück hatte, ganz taub und fast ganz blind zu werden, unterhielt sich recht geläufig über alle Angelegenheiten des Tages, der Ewigkeit und seines Ruhms, indem er selbst sprach und die Antwort durch ein Fingertrommeln in seine hohlen Hände empfing. Da war aber nur unsere deutsche Landessprache, wie sonst in Schrift- oder sichtbare Fingerzeichen, in fühlbare Zeichen übersetzt worden. Noch einmal: es war ein Glück für seine Partei, daß P. Wasmann die Frage an den Äußerungen der Ameisen studierte und so recht bequem zu dem folgenden logischen Schlusse kommen konnte: Das Seelenleben der Ameisen ist nicht menschliche Intelligenz; alle Tiere haben ein gleiches Seelenleben; also besitzt kein Tier menschliche Intelligenz. Und weil das Eskamotieren des Beiworts menschlich fast gar nicht auffällt, so kann der Schlußsatz auch lauten: kein Tier besitzt Intelligenz. P. Wasmann ist zu geschickt, um sich auf einem so groben Fehlschlusse ertappen zu lassen; aber sein Streben, den Zusammenhang zwischen Mensch und Tier zu zerreißen, verführt ihn, gegen den wissenschaftlichen Sprachgebrauch, ja sogar gegen seinen Meister, den heiligen Thomas von Aquino, die Intelligenz falsch zu definieren, zu eng. Thomas unterscheidet ganz gut zwischen der diskursiven Vernunft und dem intuitiven Intellekt (Verstand im Sinne Schopenhauers): intellectus cognoscit simplici intuitu, ratio vero discurrendo de uno in aliud. Wasmann definiert die Intelligenz ausschließlich als die »Fähigkeit, die Beziehungen der Begriffe zueinander zu erkennen, und daraus Schlüsse zu ziehen.« Und bald darauf schränkt er den Satz noch enger ein, da er im Handumdrehen von »formellen Schlüssen« redet. Wenn Intelligenz ohne formelle Schlüsse nicht vorhanden ist, dann dürfte auf tausend Menschen noch nicht einer intelligent heißen, weil doch zum Ziehen formeller Schlüsse Kenntnis und Anerkenntnis der Logik gehört, dann war die Menschheit vor Aristoteles nicht intelligent, wie alle vor Jesus Christus gestorbenen Menschen nach dem Sprachgebrauche strenger Thomisten nicht selig heißen können, dann sind auch ein paar immerhin scharfsinnige Köpfe nicht intelligent gewesen (Kant z. B.), die aus ihrer Verachtung der formellen Schlüsse kein Hehl gemacht haben. Aber in der ersten Definition, da Wasmann die Beziehungen der Begriffe und Schlüsse unterstrichen hat, hat sich ganz unbemerkt auch noch das Wort eingeschlichen, das allein genügte, um nachher alles behaupten zu können, was Wasmann behaupten will, das Wort Begriffe. Gehört das Operieren mit Begriffen zum Wesen der Intelligenz, so gibt es darnach kein intelligentes Tier, mag man nun irgend an Worte oder an logische Begriffe denken; denn die Tiere haben weder Menschenlogik noch Menschensprache. Wasmann weiß recht gut, wie wichtig dieser Punkt für sein Beweisgebäude ist. Er wirft Forel vor, die Worte gebraucht zu haben: les insectes raisonnent, und übersetzt raisonner mit Vernunftschlüsse ziehen. Und weil es doch offenbar ist und er's auch gar nicht leugnet, daß diese Insekten klug sind, zweckmäßige Handlungen ausführen (ich vermeide das Wort des Streites), weil diese Insekten doch irgendwie etwas in sich vorgehen fühlen, was Forels raisonner entspricht, so gebraucht Wasmann dafür den verzweifelten Ausdruck materielle Schlüsse. Auf dieses hölzerne Eisen läuft Wasmanns psychologische Terminologie eigentlich immer hinaus, im Recht gegen die gläubigen Darwinisten, aber siegreich nur mit sophistischen Gründen. Wenn der Hund jeden Hasen aufjagt, also nach Menschenbegriffen eine allgemeine Vorstellung vom Hasen besitzen muß, so sagt Wasmann, das sei in einem uneigentlichen Sinne zu verstehen, »insofern nämlich die individuellen Züge unklar und unbestimmt hervortreten« (S. 64), das sei ein judicium materiale, aber beileibe keine Abstraktion, nämlich keine menschliche, keine sprachliche. Daß die Tiere keine Sprache haben (Wasmann macht nicht die Einschränkung: keine menschliche Sprache), das könnte zu dem formellen Schlusse führen: Tiere sind nicht Menschen. Was doch wohl nicht erst zu beweisen war. Wasmann widerspricht sich ein wenig (das hat wirklich nichts zu sagen), wenn er den Tieren doch wieder (S. 69) ein geringes Abstraktionsvermögen nicht abspricht; sie mögen z. B. die Abstraktionen erster Ordnung, grün oder rot, bilden können, nicht aber die Abstraktion zweiter Ordnung: Farbe. Wenn nur – beiläufig bemerkt – diese Abstraktion zweiter Ordnung anderswo in der Wirklichkeitswelt vorhanden wäre, als in der menschlichen Sprache. Ich wette darauf, daß die Sonne und die Seifenblase – ich will nicht scherzen – also meinetwegen die Ätherwelle, die doch das Gedächtnis und die Ordnung der einzelnen Farbenlänge besitzt, besitzen muß, die Abstraktion zweiter Ordnung Farbe nicht hat. Alles hat die Ätherwelle, Gedächtnis und Ordnung, nur den Begriff nicht. Weil nun Wasmann eigentlich nur um des Sprachmangels willen den Tieren jede Spur von Intelligenz nehmen will, darum gelangt er zu dem orakelhaften Spruche (S. 71): »nicht die Sprache ist die Ursache der hohen menschlichen Intelligenz, sondern die hohe menschliche Intelligenz ist die Ursache der Sprache.« Wäre es denn nicht möglich, daß Sprache und Intelligenz mit mikroskopischen Schritten einander wechselweise gefördert haben? Daß wir eben nur sprachlich bald Sprache, bald Intelligenz nennen, was eines ist? Daß, was von beiden das Frühere war, so wenig zu entscheiden ist, wie beim Ei und der Henne? P. Regnaud hat trotzdem ganz recht, wenn er sagt: nihil in dictu, quod non antea fuerit in intellectu. Aber auch dieser Satz läßt sich umkehren. Und wieder wird vergessen in dictu humano und in intellectu humano zu sagen. Lubbocks Pudel, der eine mit food beschriebene Tafel brachte, wenn er fressen, eine mit out beschriebene, wenn er ausgehen wollte, besaß trotzdem nicht menschliche Sprache; wohl aber eine Hundesprache; nicht daß englische Menschenworte auf den Tafeln standen, war das Merkwürdige an dem Pudel, sondern daß er mit dem Heranschleppen verschiedener Tafeln Verschiedenes ausdrücken wollte. Wasmann dreht sich eifrig im Kreise, um den Tieren jede Anlage, jede Möglichkeit einer intelligenten Entwicklung abzusprechen; gegen den allgemeinen Sprachgebrauch. Da nun gar gerade die Ameisen durch Staatenbildung und Sprache dem Menschen, menschlich gesprochen, ähnlicher sind als alle Tiere, die man die höheren nennt, so bleibt dem Ameisenforscher Wasmann nichts übrig als sprachphilosophische Rückständigkeit, sobald er der Ameisensprache Intelligenz nicht zugestehen will. Die Ameisensprache bestehe nicht aus Zeichen, die durch individuelle Beobachtungen hervorgebracht seien; »die Tiersprache beruht nie und nimmer auf intelligenter Überlegung« (S. 81); nur daß man seit etwa 150 Jahren allgemein lehrt, auch die Menschensprache beruhe nicht auf Überlegung, weder auf individueller noch auf intelligenter. Wasmann vergißt sich so weit, dem Hunde vorzuwerfen, daß er zwar die Ähnlichkeit zweier Empfindungen grün bemerke, nicht aber über diese Ähnlichkeit reflektiere. Ob wohl allen Menschen, welche über sinnfällige Begriffe nicht reflektieren, die göttliche Gabe der Intelligenz abgesprochen werden soll? Wasmann kennt die Pläne des Schöpfers so gut, daß er noch tiefer in die Verschiedenheit der Zwecke von tierischem Instinkt und menschlicher Intelligenz eingedrungen ist. Der liebe Gott habe den Tieren durch subjektiv angenehme Sinneseindrücke empfohlen, was dem Individuum oder der Art objektiv nützlich sei; umgekehrt stehe es mit den subjektiv unangenehmen Sinneseindrücken; dem Menschen dagegen solle die Sinneswahrnehmung als Schlüssel für die geistige Erkenntnis dienen (S. 98). Solle. »Der Mensch vermag sich durch seine Intelligenz und seinen freien Willen von dem subjektiven Eindrucke zu emanzipieren, er vermag sich über denselben durch sein geistiges Wesen hinwegzusetzen.« Ein Heiliger vielleicht. Der sündige Durchschnittsmensch kann sich nicht entbrechen, rot rot, süß süß, warm warm, schön schön zu nennen. Ich glaube nicht ungerecht gewesen zu sein gegen den Pater Wasmann. Ich sympathisiere gern mit seinem Kampfe gegen die Materialisten und gegen die sentimentalen Tierfreunde, die mit tönenden Theorien und mit kindlichen Anekdoten jeden Unterschied zwischen Tierseele und Menschenseele wegwischen wollen. Aber es geht nicht an, in diesem Kampfe zu ignorieren, was bessere Philosophen als Haeckel und Forel kritisch der Psychologie geschenkt haben. Wasmann wagt die Worte (S. 28): »die scholastische Philosophie hat, indem sie das ganze Seelenleben des Tieres auf das sinnliche Instinktleben zurückführte, ohne Zweifel das Richtige getroffen.« Er glaubt (abgesehen von kleinen Richtigstellungen), daß die neuere Tierpsychologie auf Reimarus zurückgehe. Er scheint nichts zu wissen (und auch Wundt weiß nichts) von dem alten Rorarius und hat Reimarus, den Deisten, fast absichtlich mißverstanden. Wasmann kennt die neuen Beobachtungen und hat sie vermehrt; aber für ihre Deutung hat er nur die Terminologie des hl. Thomas. »Die Äußerungen des tierischen Seelenlebens gehen nicht über den Bereich des sensitiven Lebens hinaus ... so verlangt es die kritische Psychologie« (S. 58); mit Verlaub, so verlangt es die Psychologie des hl. Thomas. Wasmann kennt nicht oder verkehrt ins Gegenteil Lockes klassische Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften (S. 65). Wasmann hat schließlich den Mut, im Jahre 1899 seinen gottlosen Gegnern zuzurufen: »durch die geistige Seele wird der Mensch zum Ebenbilde des Höchsten, des unerschaffenen Geistes, zum Ebenbilde Gottes, seines Schöpfers« (S. 120). Das geht wirklich nicht an, wenn die Sprecher beider Weltanschauungen nicht aneinander vorüberreden wollen, wie wenn ein deutscher Matrose mit einem chinesischen Kuli zankt. Ich fühle es stärker als Mancher, daß der landläufige Darwinismus nicht das letzte Wort gesprochen hat, daß natürliche Zuchtwahl, Vererbung und Anpassung die neuesten Selbsttäuschungen der menschheitlichen Wissenssehnsucht sind; aber diese Worte gehören doch mit ihrem unklaren Inhalt in unsern Sprachvorrat, die Worte des hl. Thomas gehören in unsern Sprachvorrat nicht mehr. Für unsere Wissenssehnsucht ist der Regress auf den lieben Gott so geschmacklos, wie die Figur des allwissenden Sherlock Holmes, der auch immer nur herausfindet, was sein entsetzlicher Autor, der gräßliche Liebling unserer Theaterpächter und unseres Pöbels, ihm vorher in die allwissende Seele gelegt hat. Ich kann die Organisation der katholischen Kirche bewundern, in der das Lebenswerk eines Pater Wasmann ein kleines Glied ist; die Organisation wäre noch bewundernswerter, wenn sie den Mut besäße, ihre gelehrten Glieder frei zu machen von der Summa des hl. Thomas. Und die katholische Kirche besäße den Mut, wenn der Glaube heute noch so lebendig wäre wie im 13. Jahrhundert, da sie nichts dagegen hatte, daß Albertus Magnus und Thomas von Aquino die ziemlich tausend Jahre alten Dogmen mit dem neuerwachten Aristoteles zu einem neuen Systeme vereinigten. Nur einiger Wunderglaube brauchte preisgegeben zu werden – esoterisch, nicht einmal für den Pöbel – und die neueste Scholastik (Atomismus, Materialismus, ja sogar die sprachkritisch so anfechtbaren Dogmen von der Erhaltung der Energie) ließe sich von einem neuen Thomas ganz vortrefflich mit der Organisation der katholischen Kirche verschweißen. Dann ließe sich von gelehrten Jesuiten mancherlei lernen, für die Erkenntnistheorie, was der anders blinde Monismus nicht ahnt. Aber es geht nicht an, sich in allen diesen Fragen auf den heiligen Thomas zu berufen, der nur Theologe war, der (darin viel schwächer als sein Lehrer Albertus) kein Organ für Naturwissenschaft und Mathematik besaß. Ihm ist der Glaube an die sogenannte Offenbarung wissenschaftlich irgend einer Erfahrungstatsache gleichwertig; der Inhalt des Glaubens müsse aus der Theologie ebenso entlehnt werden, wie etwa die Grundsätze der Musik aus der Mathematik. Nun ist jedoch Thomas auch als Theologe für unsern Geschmack rückständig, wenn man ihn mit Albertus vergleicht; der, von den bald nach ihm auftretenden Mystikern nicht zu reden, hat viel von der innigen Poesie Platons nachgefühlt; Thomas, an Verstandesschärfe einem Aristoteles mindestens ebenbürtig, ist nüchtern, antimystisch, ist rationalistisch bis auf die Knochen. Sein System ist eher ein Katechismus als ein lebendiger Glaube. Es widersteht mir, mit den Liberalen an einem Strange zu ziehen und den alten Doctor angelicus dem Gespötte mit preiszugeben. Da aber eine päpstliche Enzyklika vom Jahre 1880 den Befehl erlassen hat: »Sanctus Thomas Aquinas doctor princeps eiusque philosophia perfecte instauranda«, – so soll doch mit einigen Worten daran erinnert werden, wessen dieser Engelgelehrte fähig war. Er kennt die Substanz der Engel, ihre Hierarchie, weiß, daß ihre Zahl groß ist, daß sie körperliche Gestalt annehmen können, daß sie ihren Ort verändern können (wobei stetige und unstetige Bewegung unterschieden wird), daß die Engel intelligent sind, aber ohne Sinneswahrnehmung, daß die höhern Engel auch höhere Vorstellungen haben, daß sie von sich selbst und voneinander, auch von Gott, Kenntnis erlangen, daß in Angelis sit cognitio matutina et vespertina, quia in verbo res est matutina, in seipsis vespertina, daß sie einen Willen haben, aber einen von ihrer Intelligenz unterschiedenen, daß sie Gott mehr lieben als sich selbst, daß sie im Besitze einer innern und doch mitteilbaren Sprache sind, daß ein niedrer Engel zu einem höhern sprechen kann, quia omnis illuminatio Angeli est locutio, daß sie sich mit Gott unterhalten können, aber nur um zu preisen oder zu lernen, nicht um etwas zu offenbaren; an unsere drahtlose Telegraphie mag man erinnert werden bei den Sätzen: räumliche Entfernung mache für die Gespräche der Engel nichts aus, aber ein Zwiegespräch von Engeln werde von den andern nicht vernommen, weil eine besondere Disposition (im Willen des Redenden allerdings) dazu gehöre. Und auf diesen Doctor angelicus beruft sich ein Tierpsychologe unserer Zeit. Mag Anstoß nehmen wer will daran, daß ich die alten Gläubigen nicht verstehen kann, noch weniger aber unsere selbstsichern neuen Ungläubigen. Noch steht es so wie zur Zeit des Fragmentenstreites (den Reimarus, der erste moderne Tierpsychologe, entfesselt hatte), da Lessing am 2. Februar 1774 an seinen Bruder Karl die herrlichen Worte schrieb, die ich mir so gern (mutatis mutandis) in Lessings Geiste zu eigen machen möchte: »Laß mir aber doch nur meine eigene Art ... Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen: ich will es nur nicht eher weggegossen wissen, als bis ich weiß, woher reineres zu nehmen; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man dann auch das Kind hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsere neumodische Theologie [wir würden dafür monistische Philosophie setzen müssen], gegen die Orthodoxen, als Mistjauche gegen unreines Wasser? »Mit der Orthodoxie war man, Gott sei dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen [doch erst seit Wolf], hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andre zu hindern. Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen ... Darin sind wir einig, daß unser altes Religionssystem falsch ist; aber das möchte ich nicht mit Dir sagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß ich das alte verteidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm der Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, sondern er will es mit gänzlichem Ruin meines Hauses stützen und unterbauen. Das soll er bleiben lassen, oder ich werde mich seines einstürzenden Hauses so annehmen als meines eigenen.« Und doch haben sich alle auf Lessing berufen: die Strauß nicht nur, auch die Büchner und die Haeckel.

V.

Von solcher Gesinnung mag es kommen, daß ich einiges übrig habe für Wasmann, der nur konsequent ist in seiner Unterwerfung unter den Gottesglauben; alle mystischen Ausdeutungen der Instinkte, von Cartesius bis E. v. Hartmann, auch manche Definitionen von Kant und Schopenhauer nehmen Rücksicht auf christlichen Glauben oder doch auf christliche Sprache. Wenn Sprachgebrauch noch Rücksicht genannt werden kann. Ganz rücksichtslos, freilich in seiner vorsichtig tastenden Weise, ist erst Darwin. Voraussetzungsloses Wissen kann er natürlich auch nicht bieten, doch aber möglichst voraussetzungsloses Suchen. Es ist immer eine Freude, von den systematischen, deutschen Darwinisten zu ihm selbst zurückzukehren. Die wissen so entsetzlich viel von dem Anfang aller Dinge. Darwin (Entst. d. Arten, Reclam S. 328) beginnt: »Ich will hier vorausschicken, daß ich nichts mit dem Ursprung der Geisteskräfte, noch mit dem Leben selbst zu schaffen habe«, auch will er nicht versuchen, den Instinkt zu definieren; die Merkmale der bekannten Definitionen sind niemals allgemein. »Doch jedermann weiß, was gemeint ist.« Darwin ist ein Monomane, wie alle Befreier der Menschheit Monomanen waren; seinen einen Gedanken, daß der Wunderbau der Organismen ohne göttliche Zwecke durch Vererbung und Anpassung zu erklären wäre, wendet er auch auf die Instinkte an. »Mehret euch, verändert euch, die Starken seien dem Leben geweiht, die Schwachen dem Tode.« So beschließt er, fast wörtlich gleich, die Darstellung in seinem Hauptwerk und in dem Stück Manuskript, das Romanes aus seinem Nachlaß veröffentlicht hat. So hat Darwin mit unendlichem Fleiße Beweise dafür zusammengetragen, daß Instinkte variieren wie Arten. Die kleinsten Variationen sind da nicht zu unterschätzen gegenüber dem alten Gerede von der Unfehlbarkeit der Instinkte; ein Magnet verwechselt nie Eisenblech mit metallisch glänzendem Papier. Allerdings könnte man fragen: was variiert da in Wirklichkeit, wenn man vom Menschenbegriffe Instinkt aussagen muß, daß der Begriff der absoluten Unveränderlichkeit nicht auf ihn passe. Auch für diese Frage hat Darwin vorgesorgt, da er schon die morphologische Variation mit der funktionellen vergleicht. Wenn der Schmetterling einen andern Nahrungsinstinkt hat als die Raupe, wenn das Menschenkind, nach der Geburt, sein Blut anders erneuert als im Mutterleibe, so liegt der Grund doch offenbar in einer Änderung des Organismus oder der Umgebung. Aber die antwortsüchtigen Menschen haben nur zu lange sich bei Darwins Antwort beruhigt. Was mein Instinkt dem einen Gedanken Darwins immer entgegenhalten mußte, das steht wie der Entwicklung der Arten so auch der Entwicklung der Instinkte durch Vererbung und Anpassung im Wege. In unzähligen Fällen war der Art erst die letzte, die gegenwärtige Form nützlich, wären ihr die ersten Übergangsformen fatal gewesen. Der Vogel, der nicht mehr kriechen, aber noch nicht ordentlich fliegen konnte usw. usw., mußte zugrunde gehen. Die Raupenart, die der Puppe noch kein ordentliches Gespinnst bereiten konnte, mußte zugrunde gehen. Just nach Darwins Lehre. Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten zu lösen. Ich beneide die Darwinisten, die die wunderbarsten Instinkte, die nämlich nur einmal im Leben, vor jeder Erfahrung, geübt werden, mit runder Handbewegung aus Vererbung erklären. Nie ist das Wort Vererbung sinnloser angewandt worden. Die Herren helfen sich mit der morphologischen Analogie. Der einmalige Instinkt sei ebenso leicht zu erklären wie z. B. der provisorische Kiefer bei der Puppe von Phryganea, der zum Öffnen des seidenen Gehäuses benutzt und dann abgeworfen wird. Ebenso, gewiß. Ebenso schwer nämlich. Und was Vererbung und Anpassung betrifft, so hat Wundt (Vorles. über die Menschen- und Tierseele, 4. Aufl. S. 465) schon klar das Nötige gesagt: »es ist, wie ich denke, einleuchtend, daß es sich hierbei nicht um eigentliche Erklärungsgründe, sondern nur um allgemeine Begriffe handeln kann, deren jeder eine Menge noch zu lösender Probleme in sich schließt.« Trotz seiner ketzerischen Ansichten über die Vererbung erworbener Eigenschaften, steht auch Weismann zu Darwin, gegen Lamarck. Mindestens eine große Zahl von Instinkten seien auf Selektionsprozesse zurückzuführen. (Vorl. üb. Deszendth., 2. Aufl. I. 118 f.) »Nur dadurch, daß die Raubwespe alle diese verwickelten Handlungen so präzis ausführt, als ob sie wüßte, warum sie es tut, vermag die Art sich unter den Lebenden zu erhalten« (S. 117). Ich lese einen wohlbekannten Gedanken in dieses als ob hinein. Nicht nur die Tiere, auch die Menschen handeln, als ob sie intelligent wären. Die Arten sind unveränderlich, als ob sie konstant wären. Aber sie variieren im kleinen, als ob Vererbung und Anpassung stattfänden. Und auch die Instinkte erleiden leise Änderungen, als ob ... Die Schüler und Ministranten Darwins sind einander darin gleich, daß sie keinen neuen Gedanken beizubringen haben, vielmehr Darwins Lehre nur in die Breite treiben, die Deutschen durch Systematik, die Engländer mehr durch Sammlerei. Typisch für den englischen Darwinismus ist Romanes in seinem geistig armen, wenn auch an Anekdoten reichen Buche »Die geistige Entwicklung im Tierreich«. Der ist kein Monomane. Es macht ihm gar nichts, den Nachweis zu führen, »daß sinn- und nutzlose Gewohnheiten vererbt und für Rassen geradezu charakteristisch und zu zwecklosen Instinkten werden« (205). Es macht ihm gar nichts, die Vererbung automatischer Handlungen und bewußter Gewohnheiten mit der Vererbung von Instinkten zusammenzuwerfen und sogar die Vererbung der Handschrift (leider mit Berufung auf Darwin) für einen Instinkt zu erklären. Dann sind auch der besondere Gang, die besondere Zeichensprache, ja auch die besondere Haarfarbe eines Volksstammes lauter Instinkte. Was aber besondere Beachtung verdient, was noch viel deutlicher als es Pater Wasmann erkannt hat, Vermenschlichung der Tierpsychologie ist, das ist die bei Romanes besonders verletzende Menscheneitelkeit, die einzelnen Tierklassen nach der Stufenleiter zu bewerten, in die sie menschliche Systeme geordnet haben. Es scheint Romanes unmöglich, »daß ein zoologisch so tief stehendes Tier jemals bewußterweise das und das erwogen haben könnte« (207). Die Vorstellung, Tiere müßten in bewußter Weise erwägen, fällt mit Wasmanns idealer Forderung formeller Schlüsse zusammen; aber der Ausdruck »zoologisch so tief stehend«, und ähnliches, ist nicht diskutierbar, ist ein Zirkelschluß, findet sich bei Wasmann denn doch nicht. Auch da ist Wundt völlig im Rechte, wenn er (S. 383), da doch das Zweckmäßige schließlich nur aus einer zwecksetzenden Intelligenz hervorgehen kann, und die Tiere diese Intelligenz nicht besitzen, den alten physiko-theologischen Beweis für das Dasein – nicht im Ernste – Gottes für den einzigen Ausweg hält. Wundts Vorzüge beruhen hier wie auch sonst auf einer gewissen begrifflichen Sauberkeit. Seine Vorlesungen »Über die Menschen- und Tierseele«, die mir in 4. Auflage vorliegen, sind im Laufe von mehr als 40 Jahren in wichtigen Grundsätzen geradezu auf den Kopf gestellt, worauf auch schon Wasmann hingewiesen hat. Und merkwürdigerweise ist die begriffliche Sauberkeit beim Wechsel der Begriffe unverändert geblieben. Vorzüglich ist (S. 469 ff.) die Übersicht der verschiedenen Hypothesen über den tierischen Instinkt. Sehr erfreulich (S. 387) ist die spät hervortretende Behauptung, daß das Bewußtsein »nur ein Ausdruck für das Beisammensein der seelischen Erlebnisse selbst ist, nichts was außerhalb der letzteren und unabhängig von ihnen besteht ... wir haben nur insofern ein Recht, das Bewußtsein von den seelischen Vorgängen zu scheiden, als wir damit eben jenes Beisammensein durch die zwischen den einzelnen Vorgängen stattfindenden Verbindungen ausdrücken wollen. Zu diesen Verbindungen gehören nun vor allem die Erinnerungsvorgänge. Daß ein Tier Gedächtnis, aber kein Bewußtsein besitze, ist also gewissermaßen eine contradictio in adjecto.« Aber Wundt ist und bleibt mit seinen gründlichen Büchern, denen durchaus philosophische Leidenschaft fehlt, ein Kompilator, und wenn man ihn für seine Sammlungen von Menschen- und Tiergeschichten, von guten Beispielen zur formalen Logik, von marktfähigen Systemen der Ethik und Metaphysik mit dem fast legendarisch großen Kompilator Aristoteles verglichen hat, habeat sibi. Den gröbsten Fehler aller Tierpsychologie, ihre Vermenschlichung, hat er geradezu zum Grundsatz erhoben. »Die erste dieser Regeln (über die psychischen Lebensäußerungen der Tiere) lautet, daß wir überall von bekannten Tatsachen des menschlichen Bewußtseins auszugehen haben« (S.472). Diese Regel ist wirklich gut, wenn man nämlich Wert darauf legt, mit Fachausdrücken der Menschenpsychologie über Tiere zu reden. Weil wir nämlich keine anderen Fachausdrücke haben. Weil – trotz jahrelanger Mühen der Psychophysik – alle Psychologie auf Selbstbeobachtung beruht, also Menschenpsychologie ist. Die falsche Grundregel wird für Wundt verhängnisvoll. Die Frage nach dem Seelenleben der Tiere erklärt er ganz gut (S. 373) als eine Frage »nach dem Wesen und der Bedeutung derjenigen Handlungen der Tiere, die wir ... wegen ihrer Ähnlichkeit mit unseren eigenen psychischen Lebensäußerungen auf seelische Vorgänge zurückführen.« Dann aber (S. 468) führt er für Handlungen das Wort Bewegungen ein und wirft (S. 473) wieder Bewegungen und Handlungen durcheinander. So konnte es kommen, daß Wundt ganze Kapitel über die Instinkte bei Menschen und Tieren geschrieben hat, ohne sich über den Instinktbegriff klar zu werden. Gewiß kann eine saubere Logik Handlung und Bewegung so definieren, daß Handlungen in den Umfang des Begriffs Bewegung fallen. Gewiß kann der Instinktbegriff so definiert werden, daß Gehen und Stehen, Essen und Trinken, Atmen und Verdauen, daß alle Leistungen der einst sog. animalischen und vegetativen Seelen unter den Begriff Instinkt mühsam gefaßt werden können. Aber so kommt man nicht weiter. Wenn die Tiere nur die Instinkte der Fortbewegung, der Nahrungsaufnahme usw. besäßen, dann hätte die menschliche Sprache den Begriff Instinkt niemals gebildet. Es mag töricht sein, sich über so alltägliche Wunder nicht zu wundern; aber so töricht ist einmal der Mensch. Die Frage, die in dem Worte Instinkt steckt, drückt ein Staunen aus über solche tierische Bewegungen, die psychische Motive haben, die beim Menschen auf eine hohe Intelligenz hindeuten würden, auf eine Intelligenz, zu welcher die sonstigen Äußerungen dieser Tiere – nach menschlichem Maß gemessen – in keinem Verhältnisse stehen. Er mußte erst die Unbegreiflichkeiten und Unverhältnismäßigkeiten des Nestbaus, der Insektenmetamorphose, des Bienen- und Ameisenstaates, des Vogelzuges betrachtet haben, bevor sein Staunen sich zu dem vorläufigen Begriff Instinkt verdichtete. Eine Antwort war damit nicht gefunden. Und es war nur eine neue Ausflucht, wenn dieses Verlegenheitswort auf die Unbegreiflichkeiten in den willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen des Menschenleibes angewandt wurde. Da mag man erfahren, wie sich die Vertauschung der Begriffe Handlung und Bewegung rächen kann. Die Bewegung des Vogels, sein Flug, mag morphologisch und physikalisch noch so große Schwierigkeiten bieten, sie ist nicht Instinkt, sie ist keine psychische Frage; die Wanderung der Zugvögel erscheint uns psychisch, heißt ein Instinkt, weil wir eine zweckverwandte Handlung in ihr sehen. So ist Wundt über Darwin nicht hinausgekommen, wenn er auch gelegentlich (486 f.) säuberlich die Intelligenzfrage zu eliminieren sucht und die Instinkte unter das Dach des Voluntarismus bringt. Sehr gut hat Wundt darauf hingewiesen, daß nicht nur in den komplizierten Äußerungen des wählenden Willens und der schließenden Intelligenz etwas Psychisches vorhanden ist, sondern auch schon in viel einfacheren Formen von Willen und Intelligenz; nur daß auch ihm der Gedanke nicht kommt, daß es einzig und allein Sache des Sprachgebrauchs ist, meinetwegen des wissenschaftlichen, d. h. des jeweilig definierten Sprachgebrauchs, wie weit man die Begriffe Seele, Wille, Intelligenz ausdehnen will. Auch die allgemeinen Begriffe der Psychologie haben ihre Ausdehnungskoeffizienten, die aber nicht in der Natur begründet sind, sondern mit der Schulmeinung wechseln. Den Ausdehnungskoeffizienten für Instinkt hat Wundt von Herbert Spencer hergenommen, der ja schon vor Darwin und – ich möchte sagen – kontinentaler als Darwin die Lehre von der Entwicklung aufgestellt und mit fast deutscher Systematik auch auf das innere Leben der Organismen angewandt hat. So klar, daß die Fehler um so klarer in die Augen springen, hat Spencer den Instinkt in die Reihe psychischer Erscheinungen hineingestellt: Reflexe, Instinkte, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedächtnis, Vernunft, Wille. So daß der tierische Instinkt in der Mitte steht zwischen unbewußten Reflexbewegungen und zweckdienlichen Reflexionen des Bewußtseins. Ich hatte mich einst verführen lassen, durch den Gleichklang, eine innere Verbindung herstellen zu wollen zwischen Reflex und Reflexion. So kann man sich vom Zufall der Wortgeschichte verlocken lassen. In Wahrheit ist es ein Zufall der Wortgeschichte und dann ein Zufall der neueren Psychologiegeschichte, was die beiden Begriffe so nahe aneinandergerückt hat. Im Lateinischen sind die Bedeutungen von reflexus und reflexio kaum voneinander zu scheiden. Beugung, Umkehrung kann man übersetzen: Umkehrung der Sonne auf ihrer Bahn, Zurückbeugung des Nackens. Dazu in der Rhetorik das Wort reflexio für Umkehrung des gegnerischen Satzes; und das war eine genaue Lehnübersetzung von ἀνα ϰλασις; das Verbum ἀνα ϰλαειν, zurückbeugen, wird schon im Altertum sowohl für die rhetorische Figur, als für die Brechung des Lichtes gebraucht. (Wir gebrauchen die deutsche Lehnübersetzung Beugung jetzt für eine andere Lichterscheinung.) Nun scheint mir sicher, daß Reflex von der optischen, Reflexion von der psychologischen Bedeutung herkommt. Wir können das am besten am Französischen verfolgen, und ein Satz von Condillac scheint zu zeigen, daß réflexion zu seiner Zeit noch neu war: »L'attention ainsi conduite est comme une lumière qui réfléchit d'un corps sur un autre pour les éclairer tous deux, et je l'appelle réflexion.« (Traité des sensat. Extr. rais., p. 38.) Das Verbum réfléchir heißt auch zunächst renvoyer en arrière z. B. vom Echo, vom Licht, sodann intransitiv rejaillir z. B. von der Wärme; spät erst gewinnt es die figürliche Bedeutung von penser; es geht jedenfalls auf das lateinische figürliche reflectere animum zurück, das in der Scholastik zu reflecti wurde, erhalten in se réfléchir. So gewann auch das Substantiv réflexion neben dem alten Sinne der Brechung den eines acte de l'esprit qui réfléchit; réflexions aus dem Geiste des Mittelalters heraus: Betrachtungen, insbesondere fromme Betrachtungen. Und so fremd war das Wort noch zur Zeit Molière's, daß er sich in seinen Précieuses darüber lustig machen konnte: attachez un peu sur ces gants la réflexion de votre odorat. Das Wort Reflex aber geht direkt auf Lichtbrechung zurück. Réflet ist im Sinne von reflektiertem Licht und reflektierter Farbe in der Ateliersprache geläufig, als Reflex zu uns aus Frankreich gekommen, dort aber im Dictionnaire de l'académie erst 1718 gebucht und zwar in der Schreibung reflex oder reflès, also wohl aus dem italienischen reflesso. Die metaphorische Anwendung des scharf umkehrenden Lichts auf die so gut wie mechanischen Reflexbewegungen geschah erst in England, dann in Deutschland; die Franzosen sagen dafür actions réflexes. Wenn man's so liest, möcht's leidlich scheinen. Und mit weit abstrakterer Phantasie als Darwin hat Spencer die Stufenreihe dieser psychischen Erscheinungen wirklich wie eine Leiter emporgezimmert. Nur daß gerade die Lehre vom Instinkte sich der reihenweisen Anordnung nicht fügen will. Ich möchte nur auf einen Punkt hinweisen. Spencer lehrt selbst, daß die psychischen Erscheinungen nur ein Teil der allgemeinen Lebenserscheinungen seien, daß die Entwicklung der Psyche nichts anderes heiße als die Entwicklung der Anpassungen; die Anpassungen müssen nun in der Stufenreihe der Organismen bis zum Menschen hinauf immer ungleichartiger und verwickelter werden und sich über immer weitere Gebiete in Raum und Zeit erstrecken. Da meine ich nun, daß der tierische Instinkt Raum und Zeit nicht sicherer, aber wunderbarer überwunden hat als der menschliche Verstand. Die Raupe, die für die Puppe und den Schmetterling sorgt, ohne eine persönliche Erfahrung aus der Vergangenheit, der Zugvogel, der ungeheuere Räume überfliegt, ohne persönliche Erfahrung aus der Vergangenheit, übertrifft in diesen Punkten die menschliche Intelligenz, die immer nur auf den Krücken der Analogieschlüsse aus vergangenen Erfahrungen sich nach Orten von einiger Entfernung, sich nach dem nächsten Jahre hinzutasten vermag. Wären z. B. alle technischen Tabellen vernichtet, in denen die technischen Erfahrungen aufbewahrt werden, so würde es den Ingenieuren recht schwer fallen, Eisenbahnen, Brücken und Tunnels zu bauen. Spencer bemerkt in seiner Ordnungsliebe nicht, daß der Instinkt eine psychische Erscheinung sui generis ist, ein Gipfel seiner Art und kein Übergang; wie denn die Prediger der Entwicklungslehre alle nicht bemerken wollen, daß z. B. die einzelnen Sinnesorgane der niederen Tiere Gipfel ihrer Art sind und nicht Übergänge zu den Sinnesorganen des Menschen. Aber Spencers Ordnungsliebe hat ihn doch wieder Brücken schlagen lassen, wo andere keine Verbindung gesehen haben. Er sucht einen Weg vom Instinkt zum Gedächtnis. Instinkt sei ein Produkt nicht der individuellen, sondern der Gattungs-Erfahrung. Ein komplizierter Instinkt knüpft an Erscheinungen an, die so wenig häufig und so kompliziert sind, daß die gemachten Erfahrungen nicht mehr zu fest aneinander gereihten Handlungen führen. Wird nun die Aufeinanderfolge der begleitenden psychischen Zustände unvollkommen automatisch, so muß das Gedächtnis helfen, wo der Instinkt versagt. Spencer sieht an dieser Stelle nicht, daß ja auch die Gattungserfahrung, die dem Instinkte vorausgehen muß, ohne ein Gedächtnis nicht denkbar ist, sieht nicht, daß also irgendein Gedächtnis am Anfang wie am Ende der Entwicklung steht; aber wir wollen es ihm nicht vergessen, daß er denn doch lehrt (Prinzipien der Psychologie, deutsch von Vetter, I 465), daß, während der Instinkt auf der einen Seite als eine Art von organisiertem Gedächtnis betrachtet werden kann, das Gedächtnis anderseits sich als eine Art von beginnendem Instinkt auffassen läßt. Geholfen ist uns aber mit solchen Begriffsvertauschungen nicht. Wir haben keine andere Psychologie als die Menschenpsychologie; und in dieser sind wir uns – scheinbar vielleicht – des Gedächtnisses als einer Voraussetzung bewußt, um uns Zwecke setzen zu können; und Instinkt nennen wir an den Tieren Handlungen, deren Zwecke sie sich, nach Menschenbegriffen, nicht gesetzt haben können.

VI.

Wir haben bei diesem Überblick über die meist nachgeschriebenen Tierpsychologen vielleicht doch eins gelernt: daß in der Vermenschlichung der Tierseele und in dem Kampfe gegen diese Vermenschlichung eine arge Konfusion herrscht wegen des wirren Gebrauchs, der da und dort mit dem Begriffe Instinkt getrieben wird. Die Gemeinsprache denkt bei Instinkten eigentlich nur an die unerklärlichen, unverhältnismäßig zweckdienlichen Handlungen der Tiere, die man seit Reimarus einige Zeit recht gut Kunsttriebe nannte, bis das Wort (unter englischem Einfluß?) durch Instinkt verdrängt wurde. In der Gemeinsprache wird dann der Begriff Instinkt seit etwa 100 Jahren allerdings auch gern für schlecht definierte menschliche Neigungen und Abneigungen gesetzt; in der Wissenschaft aber ist es wohl immer religiöses oder psychologisches Vorurteil, wenn der Instinktbegriff so ausgedehnt wird, daß entweder alle tierischen Handlungen durch Instinkte erklärt oder menschliche Gewohnheitshandlungen für Instinkte ausgegeben werden. Da kann ich es mir nicht versagen, zwei köstliche Aphorismen Lichtenbergs anzuführen. »Die Vorurteile sind sozusagen die Kunsttriebe der Menschen. Sie tun dadurch vieles, das ihnen zu schwer werden würde bis zum Entschluß durchzudenken, ohne alle Mühe« (Vermischte Schriften 1853, I. 186). Und noch tiefer dringend (78): »Für den Geist des Menschen ist nicht minder gesorgt, als für den Leib der Tiere; was hier Trieb und Kunsttrieb heißt, ist dort gesunder Menschenverstand ... Das Tier ist für sich immer Subjekt, der Mensch ist sich auch Objekt.« Man beachte es wohl, daß die alten Streitigkeiten um die Intelligenz der Tiere ausgefochten wurden, ohne den Instinktbegriff zu bemühen. Ich finde das Wort Instinkt nicht in Descartes Versuch, die Tiere zu Maschinen zu machen, ich finde es auch nicht in Wolfs kurzer Darstellung der Tierpsychologie, die sehr verständig zwischen Tier- und Menschenverstand unterscheidet. Das Wort Gradunterschied möchte ich nicht gebraucht wissen; es gibt keine Skala oder Reihe von der Amöbe bis zu Newton oder Kant. Phantasie, Gedächtnis, vor allem aber Feinheit der Sinne bilden von den Protisten bis zum Menschen keine stetig aufsteigende Reihe. Unsere Hunde sind so intelligent, daß sie spielen, lügen, also auch stehlen können. Daß die Tiere die menschliche Begriffssprache nicht haben, ist wahr; wie weit aber die tierische Semantik geht, der Zeichengebrauch für die eigene Erinnerung und für gegenseitige Mitteilung, darüber wissen wir wieder so gut wie nichts. Was man im menschlichen Handeln Instinkt zu nennen angefangen hat, das hat mit den Kunsttrieben der Tiere nichts zu schaffen. Man müßte schon die Versprachlichung der Menschenpsychologie durchschaut haben, um mit Lichtenberg über den menschlichen Stolz auf Menschenintelligenz lachen zu können. Was z. B. Wundt als menschliche Instinkte anführt, das ist entweder Einübung (wie der Klavierspieler ein eingelerntes Stück herunterspielen kann, während er an etwas anderes denkt), oder es gehört unter den weiteren Begriff der Triebe, wie Nahrungstrieb und Geschlechtstrieb. Da es außer diesen beiden noch ein drittes Motiv menschlicher Handlungen gibt, die Eitelkeit nämlich, so stehe ich nicht an, die Eitelkeit den sozialen Trieben einzureihen. Solche Instinkte wie die, welche allein zur Aufstellung des Begriffs geführt haben, besitzt der Mensch nicht. Und solche Fähigkeiten, wie man sie als Instinkte der Menschen ausgeben möchte (Verdauen, Atmen, Zeugen, Fruchtaustragen), haben die Tiere neben dem, was man nun eben ihre Instinkte nennt. Sehen wir ab von der Gewißheit, daß manche vielbewunderte Kunstform tierischer Leistungen einfach notwendig ist wie die sechseckige Form der Bienenzellen, die Form des Vogeleis und des Cocons (wie wohl auch die Handschrift, die von Romanes wegen ihrer Erblichkeit zu den sekundären Instinkten gerechnet wird), sehen wir ab von der Möglichkeit, daß das Webermeisterstück der Spinnen z. B. doch durch eine Intelligenz sui generis zu begreifen wäre, so bleibt doch bei echten Instinkten ein für Menschenpsychologie unauflöslicher Rest: diese Kunsttriebe dienen einem künftigen Zwecke, der unmöglich im individuellen Bewußtsein oder im individuellen Gedächtnis des Tieres vorhanden sein kann. Im unbewußten Zweck allein liegt das Rätsel. Was sonst beim Staunen über die Instinkte mitspricht, das ist menschlich, sprachlich, beschränkt: die Kleinheit der Tiere und die Kleinheit ihres Gehirns, die mikroskopische Feinheit der Teile u. dgl. mehr. Will der Mensch sich ganz durchdringen mit dem Staunen über das Wunder der echten Instinkte, so stelle er sich einmal vor, die Auferstehung der Toten wäre beglaubigt und für die Auferstehung wäre es zweckdienlich, daß Knochen und Verwesungsprodukte nebst einigen Kleiderresten in einem Sarge beisammen blieben; dann wäre allerdings die Bestattungsart der heutigen Abendländer ein fast ebenso wunderbarer Instinkt wie der der Raupen, die sorgfältig die Wohnung für den eigenen Puppenzustand vorbereiten, damit nachher die Imago auffliegen könne. Die echten Instinkte, für die allein der Begriff gebraucht zu werden pflegt, sind eines Tieres Handlungen, die mit der relativen Sicherheit von Reflexbewegungen auf einen Wahrnehmungsreiz hin in fester Reihenfolge ausgeführt werden und einem biologischen Zweck dienen, von dem das Tierindividuum keine Vorstellung haben kann. Das wäre eine ziemlich einwandfreie Definition. Und wenn ich nun resigniert sagen muß, daß dem Staunen, dem liebevollen Staunen über diese Äußerungen der Tiere eine Erklärung versagt ist, so darf ich auch meine eigene, ganz von selbst gekommene Definition Begriff für Begriff aufdröseln, um erkennen zu lassen, warum wir mit unserer armen Menschenpsychologie an das organische Leben nicht herankönnen. Die Instinkte sind Handlungen – aber ich habe gelehrt, daß es Handlungen, daß es Verben in der Wirklichkeitswelt nicht gibt, daß selbst so einfache Handlungen wie graben und gehen unzählige Differentialbewegungen unter einer Zweckvorstellung verbinden. Diese sog. Handlungen werden ausgeführt in einer Reihenfolge – aber wir wissen nicht, ob die Zeit für alle Tiere dasselbe ist, wie für die Menschen; auf einen Wahrnehmungsreiz hin – aber wir wissen nicht, ob für alle Tiere der Reiz einer Wahrnehmung sich vom Reiz einer Empfindung unterscheidet, ja nicht einmal, ob das Seelenleben aller Tiere über den Reiz hinausgeht; mit der Sicherheit – die Sicherheit ist auch bei Reflexbewegungen relativ; mit der Sicherheit von Reflexbewegungen – aber für die Reflexe fehlt dem Menschen jede psychologische Beobachtung, weshalb sie just psychologisch heißen; die Handlungen dienen einem biologischen (ich will nicht wieder unterbrechen) Zwecke – wir kennen auf der weiten Welt keine anderen Zwecke als die bewußten Ziele eines durch Erfahrungen auf die Zukunft gerichteten menschlichen Willens; von dem das Tierindividuum – wir wissen nicht, ob das Tierindividuum von seiner Art ebenso stark oder so schwach geschieden ist wie das Menschenindividuum von seiner Art; keine Vorstellung haben kann – und wie diese aus Erinnerung entsteht, das ist das letzte Rätsel, in das sich des Menschen intellektuelle Fähigkeiten auflösen. In der Sprache der Psychologie, nicht aber in unserem wirklichen Wissen von uns, haben wir Bewußtsein und Unbewußtes, Wollen und Wissen, sensorische und motorische Bahnen. Und da wollen wir aufhören, über den Seidenwurm zu staunen? (Vgl. Art.  psychologisch.) Wir sollen nicht aufhören. Das Wort Instinkt ist eingeführt worden, um dieser Art von Naturstaunen ein Ziel zu setzen. Ein vergebliches Mühen. Wir unterscheiden die Instinkte, die für die Zukunft der Insektenart vorsorgen, von den Instinkten des Fressens und der Begattung, die uns an der Gegenwart zu haften scheinen. Vergebens. Immer ist die Gegenwart schwanger mit der Zukunft, und gibt es unter den wirkenden Ursachen auch Endursachen, so sind sie wirksam auch beim Fressen und bei der Begattung. Wir unterscheiden Art- und Gradunterschiede. Vergebens. Der Darwinismus hat den Arten kein Ende gemacht und der alte Dogmatismus konnte die leisen Übergänge nicht übersehen. Wir unterscheiden zwischen der Zweckmäßigkeit der tierischen Handlungen und der Zweckmäßigkeit der tierischen Gestalt. Vergebens. Die Entstehung des Nahrungskanals im Embryo ist ebenso wunderbar wie die Ablage des Eis auf das Ei des künftigen Wirtinsektes. Und wenn man seit 50 Jahren geglaubt hat, die Wunder der Morphologie durch die Schlagworte Vererbung und Anpassung erklären zu können, so lebte man in einer epidemischen Selbsttäuschung. Reimarus (S. 96 f.) hat es uns schon für die Instinkte gelehrt, was auch für die neuen Schlagworte gilt (trotzdem er sich der Worte annimmt): »es geht dem Worte Trieb oder Instinkt fast nicht anders, als es dem Worte Natur gegangen ist, welches vormals viele gleichfalls zu einem leeren Tone machen wollten ... aber alle Wörter, und deren Erklärungen, fassen nicht zugleich eine Ursache, oder das Entstehen und die Art der Möglichkeit in sich. Darum sind es aber nicht gleich leere Töne, die an sich selbst gar nichts bedeuteten; sondern sie werden es nur zufällig, durch den Mißbrauch, wenn einer damit eine Ursache anzudeuten vermeinet.« Anpassung und Vererbung mögen mehr oder weniger gut beobachtet sein; es ist ein Mißbrauch, wenn einer damit eine Ursache anzudeuten vermeinet. Man hat die Instinkte den Trieben untergeordnet; wir gebrauchen das Wort Trieb in dreifachem Sinne: es kann die von Menschen klassifizierte Bemühung eines unklaren Willens, einer Zielstrebigkeit besagen; es kann die hypostasierte Ursache dieser Äußerungen, also irgendeine Macht oberhalb des Willens und der Intelligenz ausdrücken; es kann sogar drittens das Erzeugnis benennen, wie den Jahrestrieb der Pflanzen; wer aber damit eine Ursache anzudeuten vermeinte, der hätte die Sprache mißbraucht. So handelt aber immer Psychologie. Aus ratio wird rationalitas, aus intellectus wird intelligentia. Immer ein Stockwerk höher im Gebäude aus haltloser Luft. Wer die Sprache der Scholastiker kennt, die jeweilig ebenso tief und scharf war wie die beste Sprache heutiger Wissenschaftlichkeit, der wird verstehen, wenn ich nun sage: wir wollten die Instinkte erklären und fanden als Ursache des instinctus instinctus, einen hypostasierten instinctus instinguens, wie einst eine natura naturans die natura naturata erklären sollte. Wer die ganze Ohnmacht der menschlichen Sprache erkannt hat, der sieht keinen Unterschied mehr zwischen den beiden einander bestreitenden Weltanschauungen. Ob glücklichere Menschen dem Staunen, das ihr bester Besitz hätte sein können, dadurch entgehen, daß sie zum Schöpfer Himmels und der Erden flüchten, ob unglücklichere Menschen vor dem Staunen, dessen Freude sie nicht ertragen können, zum Reiche Darwins fliehen, es ist da und dort das gleiche Sich-verstecken im asylum ignorantiae, im menschlichen Wort. Der Magus Hamann, der doch Stirner und Ibsen nicht gekannt hat, sagte doch schon, bald nach der Zeit des Reimarus (in seinen Fragmenten einer apokryph. Sibylle), daß der Instinkt etwas Gespenstähnliches sei. Und wenn ich hinzufüge, daß der gegenwärtige Instinkt, schwanger mit der Zukunft, die Leiche der Vergangenheit auf dem Rücken trägt, die Gespensterleiche seiner Artvergangenheit, treibe ich nicht selbst Mißbrauch mit der Sprache, weil ich einen Augenblick die Leiche abgeworfen zu haben glaube, die mich grinsend weiter würgt? Noch einmal und zum letztenmal: wir können mit der Sprache an das Innenleben, an das psychologische, noch weniger heran als an die äußere Natur, weil wir die Tierpsychologie vermenschlicht haben, vermenschlichen mußten, weil wir die Menschenpsychologie versprachlicht haben, versprachlichen mußten. Kleinkram ist da das bißchen mehr oder weniger Intelligenz, das wir in die Tierinstinkte hineinlegen; Kleinkram alle die sorgsamen Untersuchungen über das Verhältnis von Intelligenz und Gehirnstruktur. In keinem Augenblicke des alltäglichsten wie des genialsten Denkens kann der Mensch über die Selbstbeobachtung hinauskommen, die das armselige Um und Auf unserer Psychologie ist. Wir klassifizieren das und jenes unter den Begriff Reflexe, auch die Instinkte haben wir so untergebracht; aber in uns finden wir nichts als eitel Reflexionen. Wir haben vom Bewußtsein das Unbewußte benannt und abgetrennt; aber in unserem Bewußtsein haben wir nichts als eitel Bewußtsein, und wenn ich die Formel angenommen und durchgeführt habe, daß Bewußtsein eine Selbsttäuschung ist, im Grunde nur das Flußbett Gedächtnis ist, so finde ich auch das Gedächtnis nicht in meinem Einzigen, in meinem Bewußtsein. Der Kristall, der den einzig möglichen Winkel seiner Form bildet und die Biene, die immer den regelmäßigen Winkel ihrer Zellenform findet, beide müssen Gedächtnis haben. Haben sie beide Bewußtsein, menschliches Bewußtsein? Ein Analogon, sagen wir mit wohlweisem Kopfnicken. Und niemand lacht. Und weil wir für die Selbstbeobachtung, auch für die intimste, nur das Mittel der Sprache haben, der Menschensprache, darum ist alle Psychologie vermenschensprachlicht. Unser letztes Staunen vor den tierischen Instinkten hat den gleichen Grund wie das alte Staunen vor der Zweckmäßigkeit der Morphologie, das wir uns so frech abgewöhnt haben. Überall, wo Zweckmäßigkeit ist, ist Fürsorge für die Zukunft, Voraussicht, ein Analogon der Vorsehung. In der Vorstellung der Voraussicht steckt menschliches Wollen, menschliches Wissen, menschliche Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft; es kann andere Verknüpfungen, sogar andere Nervenbahnen geben als die menschlichen. Und wenn wir die Nervenbahnen der Pflanzen und der Amöben einmal unter dem Mikroskop erblicken würden, wir wüßten sie nicht zu beschreiben. Wir wissen sie nicht, weil wir sie nicht gesehen haben. Wir sehen nur, was wir wissen. Halten wir wenigstens am Staunen fest. Es gibt soviel zwischen Himmel und Erde, dessen Ursächlichkeit wir gottlos annehmen, ohne die Ursachen fassen zu können, oder gar in eine Formel fassen zu können. Meteorologie und Physiognomie, Vererbung der Handschrift, Vererbung von Warzen. Unserer Zeit ist die Ursächlichkeit das Rezeptwort gegen das Staunen, das unsere Zeit für eine Krankheit hält, da es doch die Gesundheit ist. Ich möchte meine Ausführungen über den Scheinbegriff Instinkt nicht schließen, ohne – fast feierlich – ein Wort Goethes anzuführen, das man in dem letzten Briefe finden kann, den Goethe geschrieben hat, am 17. März 1832, und das seltsam genug an die Vollendung von Goethes Hauptgeschäft, an die Beendigung des Faust, mit letzter Greisenweisheit anknüpft. Wilhelm v. Humboldt hatte erfreulich teilnehmend auf Herausgabe des zweiten Teils gedrungen, den Goethe versiegelt zurücklassen wollte; und hatte wie ein Professor der Ästhetik um Antwort auf die Frage gebeten, ob Goethe immer so bewußt produziert habe, wie jetzt bei dem Abschluß des Faust. (Pniower: Goethes Faust S. 272 f.). Goethe lehnt es ab, seinen Freunden »diese sehr ernsten Scherze« auch bei Lebzeiten mitzuteilen. Und beantwortet die Frage nach seiner Produktion: »Hier treten nun die mannigfaltigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und Unbewußten; denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll: Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gerne brauche.« Und schon vorher: »Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu belehren.« Und die letzten bewußt geformten Worte Goethes, am Schlusse dieses letzten Briefes, lauten: »Ohngeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich diese Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag.« Ich möchte nichts unterstreichen, nichts deuten.

 


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