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Gegenwart

Ich hätte für eine Wortgeschichte nur das D. W. auszuschreiben, den Artikel Gegenwart aus dem unvergleichlich besten Bande des Wörterbuchs. Man hat in historischer Zeit und bis heute die Entstehung des Wortes nicht erklären können, und daraus sind wohl viele unorganische alte Formen zu erklären. In seiner ältesten Gestalt scheint das Wort nur eine Verstärkung von gegen gewesen zu sein: was gegenüber steht; der Gegenwart wie der Widerwart (in diesem Sinne widerwärtig noch bei Goethe), das dem Sprachgefühl an Widerpart anzuklingen schien, bedeutete den Gegner. Für praesentia finden sich in alter Zeit die merkwürdigen Formen Gegenwurt (falsche Analogie nach Gegenwurf = Objekt?), Gegenwürt, endlich Gegenwärtigkeit und erst im 17. Jahrhunderte unser Gegenwart, das seltsamerweise zuerst im Rechtsleben aufgekommen zu sein scheint. Gegenwart und Beisein werden gewichtig miteinander verknüpft und Gegenwart scheint eine aktivere Beziehung zu bezeichnen, als das bloße Beisein; in so feierlicher Weise wird besonders von der Gegenwart des Richters, des Fürsten, des Gottes geredet. Eine Nachwirkung dieses Gebrauchs, der uns noch bei Goethe und Schiller mitunter den eigentlichen Sinn eines Satzes verfehlen läßt, ist in der Definition gebucht, die Adelung von dem Begriffe gibt: »Der Zustand, da man durch seine eigene Substanz ohne moralische Mittel Ursachen, ja ohne alle Werkzeuge an einem Orte wirken kann, die Anwesenheit.« Zweierlei ist an diesen schulmeisterlichen Worten sehr beachtenswert: daß Gegenwart vor nicht viel mehr als hundert Jahren zunächst noch gar nicht als Zeitbegriff empfunden wurde, und daß man bei Gegenwart noch unmittelbar an eine Wirksamkeit, an eine Wirksamkeit im Raume dachte. Beide Vorstellungen scheinen dem Sprachgebrauche der Gegenwart, für die das Wort ganz besonders ein grammatischer Zeitbegriff geworden ist, zu widersprechen; und dennoch lassen sich beide Vorstellungen sehr gut mit den Tendenzen der gegenwärtigen Psychologie vereinigen. Der Bedeutungswandel von der räumlich wirksamen Anwesenheit zum bloßen Zeitbegriff vollzog sich wohl so, daß das Adjektiv gegenwärtig, das schon früh zu einer Übersetzung von lat.  praesens ( jetzig) verwandt worden war, nun auch wie im Lateinischen mit dem Zeitbegriff verbunden wurde: in gegenwärtiger Zeit, in Gegenwart = in praesenti sc. tempore. Es fällt uns schwer, uns in eine Zeit zurückzuversetzen, in welcher die Gegenwart, d. h. die bedeutungsvolle Anwesenheit, nur bildlich auf die Zeit angewandt wurde. Es fällt uns schwer, weil wir ganz vulgär just mit der Gegenwart den Begriff der uns bekanntesten Zeitstrecke zu verbinden pflegen. Wir stellen uns das so vor, als ob von den drei Teilen der Zeit die unendliche Vergangenheit verblaßt und unwirklich nur in unserer Erinnerung lebte, die unendliche Zukunft nur in unserer Phantasie, die leibhaftige Gegenwart aber greifbar die eben erlebte Zeit wäre, wenn auch vielleicht nur der gegenwärtige Augenblick. Daß die Gegenwart also ein relativer Begriff sei, das wird jedermann zugeben; wir denken bei Gegenwart je nach dem Zusammenhange der Rede bald an die letzten Jahrhunderte, bald an die letzten Jahrzehnte, an die letzten Tage, an die letzten Minuten, an den letzten Augenblick. Und wir müssen schon darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir da immer von einer verflossenen Zeit geredet haben, also nicht mehr von der Gegenwart. Ein Pedant könnte verlangen, daß solche Sätze nicht durch das Präsens, sondern durch das Präteritum ausgedrückt würden. »In der Gegenwart, d. h. seit einigen hundert Jahren, hat es bei den Kulturvölkern keine Sklaven gegeben.« Die Anwendung des Gegenwartbegriffs auf verflossene Zeitstrecken ist ein ganz ungenauer Sprachgebrauch. Streng genommen, ist die Gegenwart keine Zeitstrecke, sondern nur der gegenwärtige Moment, der freilich, da ich ihn denke, schon wieder verflossen ist. Die Gegenwart ist ein unvorstellbarer Grenzbegriff. So unvorstellbar, daß wir ihn, der ganz sicher keine Zeitstrecke ist, nur als eine Zeitstrecke vorstellen können. Das meinten die Engländer, da sie (der Ausdruck findet sich zuerst bei Clay) von einer scheinbaren Gegenwart (specious present) sprachen; das meinte James, da er die Gegenwart lieber mit einem breiten Sattelsitz (saddleback) als mit einer Messerschneide verglichen wissen wollte (»Psychologie« S. 280). Er hätte sein Bild von dem fringe, dem Saume, der allen unsern Begriffen anhaftet, sehr gut auf die Gegenwart übertragen können. Wir können uns die Gegenwart gar nicht anders vorstellen als indem wir ein Stückchen Vergangenheit mit vorstellen. Wenn Zeit Dauer ist, so ist Gegenwart gar kein Teil der Zeit, so ist Zeit nur in der Erinnerung oder in der vorgestellten Vergangenheit. (Vgl. Art.  Zeit.) Sagen wir aber, daß es Wirklichkeit nur in einer Gegenwart gebe, so fassen wir allerdings, wie ich glaube, die Gegenwart beinahe zeitlos, im alten Sinne der räumlichen Koexistenz. Diese Auffassung der Wirklichkeit als einer zeitlosen Gegenwart scheint mir recht gut mit der Philosophie von Bergson zu stimmen, der die Gegenwart das nennt, was den Menschen interessiert, was ihm lebendig ist, kurz das, was ihn zur Tätigkeit anreizt. (Materie und Gedächtnis S. 139.) Da scheint mir die Gegenwart wieder zum Umstand, zur Umgebung geworden zu sein; das alte Wort Gegenwurt und sein Anklang an Gegenwurf (Objekt) fällt mir wieder ein. Wir sagen so: man lebt nur in der Gegenwart; man lebt aber nur, weil man ein Handelnder ist; und man handelt aus der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft. So blicken wir in jedem Momente nach vorn und nach rückwärts in die unendliche Zeit, leben aber dennoch zeitlos, weil wir handeln.

 


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