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Fatalismus

Als Karl Moor den Entschluß gefaßt hatte, Räuberhauptmann zu werden, feuerte er den Mut der jungen Räuberdilettanten mit folgenden Worten an: »Fürchtet euch nicht vor Tod und Gefahr, denn über uns waltet ein unbeugsames Fatum! Jeden erreicht endlich sein Tag, es sei auf dem weichen Kissen von Flaum, oder im rauhen Gewühl des Gefechts, oder auf offenem Galgen und Rad! Eins davon ist unser Schicksal!« Es ist bekannt, daß Mohamed den Mut in der Schlacht bei seinen Gläubigen durch die gleiche Vorstellung zu heben verstand: es sei einerlei, ob der Mensch sich in Gefahr begibt oder nicht, sein Ende ist ja doch vorher bestimmt. Aus vielen Stellen, in denen der Koran den Fatalismus oder das Kismet lehrt, wähle ich nur eine (III, 139): »Die lebendige Seele stirbt nicht außer der Zulassung Gottes, nach dem ewigen Buche, welches das Ziel des Lebens geordnet hat.« Der Türke, den ein solcher Glaube furchtlos macht, hat sich wohl niemals die kniffliche Frage vorgelegt, wie sich seine Willensfreiheit mit dem Glauben an das ewige Buch vertrage: das Schicksal soll völlig unabhängig sein von dem menschlichen Willen, aber der Gläubige soll dennoch seine ganze Willensstärke aufwenden, um einen günstigen Ausgang der Schlacht herbeizuführen. Man muß schon in die Blütezeit der arabischen Philosophie zurückgreifen, bis ins 12. Jahrhundert, wenn man freiern Vorstellungen über Gott und die menschliche Willensfreiheit begegnen will. Der tapfere Satz des Averroës: Deus non cognoscit singularia – verträgt sich schlecht mit dem ewigen Buch und der Prädestination. Seit dem 13. Jahrhundert wurden eigentlich philosophische Untersuchungen im Islam nicht mehr geduldet, die Theologen siegten, und heute ist der Fatalismus Dogma und Volksglaube bei den Mohamedanern. Ich wüßte nicht, wie man sich diesem Fatalismus entziehen soll, wenn man an einen allmächtigen und allwissenden Gott glaubt. Ja, der Glaube an Allwissenheit ohne Allmacht allein müßte zum Fatalismus führen. Der allmächtige Gott unterscheidet sich nämlich von dem Gotte der Deisten, von dem Gotte der natürlichen Religion nur dadurch, daß er die Kette von Ursachen und Wirkungen durch Wunder zerreißen kann; weiß er aber nur alle Ursachen und Wirkungen, so kennt er auch die Schicksale aller Menschen, sieht sie vorher, und darum allein müssen sie vorher bestimmt sein; denn Gott kann unmöglich falsch vorhergesehen haben. Das naiv kaufmännische Bild (auch in der jüdischen und in der christlichen Glaubensvorstellung) von einem großen Hauptbuche, in dem alle Schicksale verzeichnet sind, könnte höchstens auf ein schlechtes Gedächtnis Gottes schließen lassen; aber es wäre ja möglich, daß die Allwissenheit nicht mit sehr präsentem Wissen gepaart ist. Scherz beiseite. Hinter dem Begriffe des Fatalismus stecken zwei Fragen, die scharf zu unterscheiden sind: die theologische und die philosophische. Die theologische Frage hat sich darum gekümmert, ob irgendwo ein Buch oder ein Gehirn vorhanden sei, in welchem alle Schicksale aller Menschen von Ewigkeit vorhergesehen sind; wir können uns von einem solchen Menschenbuche oder einem solchen Menschengehirn keine Vorstellung mehr machen und stellen die theologische Frage nicht mehr. Wir fragen nicht mehr, wie die Vorsehung mit der menschlichen Willensfreiheit zu vereinigen sei. Wir sollten also auf die Ausdrücke verzichten, die (wie wir noch sehen werden) ein Vorsehen, ein Vorwissen mitbezeichnen. Nicht so einfach zu beantworten ist die philosophische Frage: wie sich die Notwendigkeit alles Naturgeschehens mit der Willensfreiheit vertrage, ja auch nur mit dem Scheine einer menschlichen Willensfreiheit. Denn die Sache liegt so: wir sind einerseits durchdrungen von der Überzeugung, daß das Naturgeschehen, das menschliche Handeln mit inbegriffen, eine undurchbrechliche Kette von Ursachen und Wirkungen darstelle; wir können uns anderseits, mögen wir noch so logisch denken, von dem Gefühle nicht befreien, einen Willen zu haben, der sich bei der Vorstellung einer Handlung pro oder contra entscheiden kann. Ist unser Handeln notwendig, wie das Eintreten einer physikalischen Wirkung, dann scheint der Fatalismus (allerdings ohne Gott und ohne Buch) die einzig berechtigte Vorstellung zu sein, und der menschliche Wille mitsamt dem Scheine seiner Freiheit ist eine Illusion. Ich will zu zeigen versuchen, daß diese philosophische Frage auf einer optischen Täuschung beruht, daß der Fatalismus oder die unbedingte Notwendigkeit der Menschenschicksale ein Unbegriff ist, wenn man nicht Vorher bestimmung oder so etwas Ähnliches mitdenkt. Ich will zu zeigen versuchen, daß der Fatalismus oder der Glaube an eine göttliche Vorsehung unbewußt immer zugrunde gelegt wird, sobald wir die Notwendigkeit alles menschlichen Handelns als eine Vorherbestimmung oder nur als eine vorgestellte Notwendigkeit auffassen. Um zu verstehen, was ich sagen will, braucht man nicht anders zu denken, als wir alle denken, muß sich aber recht gründlich vom Wortaberglauben befreien, vom Glauben an eine personifizierte Naturnotwendigkeit, an einen personifizierten Willen. Wir, mein guter Leser und ich, haben die Willensfreiheit längst als eine Illusion erkannt, als eine Illusion, die biologisch wichtig ist und aufs innigste verknüpft mit der Illusion des Ichgefühls. Wollen wir uns die objektive Notwendigkeit alles Geschehens, des physikalischen wie des praktischen, unter einem einfachen Bilde vorstellen, so tun wir vielleicht gut daran, an das Fallen der Flocken bei einem Schneegestöber zu denken. Notwendig, unentrinnbar notwendig ist nach Ort und Zeit die Bildung jedes einzelnen der Milliarden von Schneekristallen, ebenso notwendig ist die Anhäufung der Flocken, ebenso notwendig der Weg jeder Flocke von der Schneewolke bis zur Erdoberfläche. Dichtigkeit und Wärme der Luftschichten, der Wind und möglicherweise noch andere Energien bestimmen den Weg. Jede Schneeflocke muß zuletzt auf den Zweig niedersinken, auf dem sie liegen bleibt. Nicht anders notwendig sind die Handlungen der Menschen, die vom Willen ausgelöst werden. Aber beim Schneegestöber wie bei den Menschenschicksalen ist diese Notwendigkeit unvorstellbar; wir haben den Begriff Notwendigkeit, aber wir wissen nicht, was das ist. Wir machen uns das deutlicher, wenn wir für ein Weilchen (oder für immer) auf den Willensbegriff verzichten, dessen Negation die Notwendigkeit gewöhnlich ist. Fassen wir unsere Wollungen als Bilder oder Entwürfe von künftigen Handlungen auf, als Entwürfe, die später ausgeführt werden können oder auch nicht, so bleibt zwar das Rätsel ungelöst, wie unser Bewußtsein oder unser Gedächtnis, das aus der Vergangenheit herkommt, die Zukunft irgendwie vorwegnehmen kann, – aber wir erkennen dann, daß es in der Kette von Ursachen und Wirkungen eines besondern Willens gar nicht bedarf. Ob unsere Bilder oder Entwürfe von der Zukunft Wirklichkeit werden oder nicht, hängt von äußern Umständen ab; und die Entwürfe selbst sind Folgen unserer ererbten und erworbenen Erinnerungen: unserer Natur, unserer Erziehung und wieder der äußern Umstände unseres Lebenslaufes. Nachträglich dürfen wir sagen, daß alles Geschehen notwendig gewesen sei; vorher ist kein Auge da, die Notwendigkeit zu sehen, weder ein göttliches noch ein menschliches Auge. Die Vergangenheit hatte kein Auge für die Gegenwart, die Gegenwart hat kein Auge für die Zukunft. Wir dürfen ruhig mit dem Panpsychismus jedem einzelnen Schneekristall etwas wie eine menschliche Seele und einen menschlichen Willen zuschreiben; am Fall der Flocken wird dadurch nichts geändert. Wie am Verlaufe der Menschenschicksale dadurch nichts geändert wird, daß wir die Illusion der Willensfreiheit haben. Was muß, geschieht. Wer deshalb glaubte, sein eigenes Leben für vorherbestimmt halten zu müssen, der wäre ebenso töricht wie eine Schneeflocke, die ihren Weg abändern wollte, weil ein Menschenwort sie mit einem Willen begabte. Wir personifizieren die Notwendigkeit, wir leihen ihr ein Menschenauge, wenn wir von der Zukunft etwas anderes aussagen wollen, als daß sie kommen wird. Der Glaube an eine Vorherbestimmtheit des Geschehens ist nicht minder kindlich, als der Glaube an eine Vorsehung und an deren Hauptbuch. Der theologische Fatalismus ist nicht unsinniger als der philosophische. Der Glaube an die Notwendigkeit ist so richtig, entspricht so sehr einer erkenntnistheoretischen Wahrheit, als Menschen nur irgend Wahrheit finden können; wenn wir uns aber diese Notwendigkeit vorstellen, unter dem Bilde einer Vorherbestimmtheit vorstellen, dann unterliegen wir, wie gesagt, einer optischen Täuschung, einer doppelten optischen Täuschung: wir stellen uns ein Auge vor, das die Kette von Ursache und Wirkung sieht; und wir bilden uns ein, daß die Zukunft gewußt werden könne. Die Gegenwart ist in unsern Sinnen; die Vergangenheit allein ist in unserem Wissen; oder in unserem Gesehenhaben; die Zukunft ist nirgends, bevor sie Gegenwart geworden ist. Aber so anthropomorphisch sind wir, daß wir uns nicht einmal den richtigen Begriff der Notwendigkeit ohne fälschende Personifikationen vorstellen können. Wir schaffen den Begriff nach unserem Ebenbilde und leihen ihm ein Auge, das sieht. Wir sprechen von einer Vorsehung. Und wenn wir die Kette von Ursachen und Wirkungen nicht kennen oder nicht sehen wollen, dann sprechen wir von einem Zufall, und personifizieren ihn wieder, wenn wir ihn einen blinden Zufall nennen. Alle die verschiedenen Ausdrücke für den Schicksalsbegriff sind an eine Personifikation geknüpft. Fatum kommt wahrscheinlich von fari, sagen, und setzt ein sprachbegabtes Wesen voraus, das sagen kann, was sein Auge gesehen; destin, destinée von lat.  destinare, bestimmen, setzt einen Willen voraus; Geschick, Schickung, Schicksal mag eine Lehnübersetzung sein aus einer Zeit, da schicken noch soviel bedeutete wie destinare, zurechtmachen, anordnen. (Das Wort schicken haben wir erst seit dem 12. Jahrhundert; im Sinne von senden ist es noch viel jünger, heißt ursprünglich: für den Versand zurechtmachen.) Die Zusammenhänge zwischen Destination, Determination und Bestimmung sind historisch durchaus nicht aufgeklärt. (Vgl. Art.  Bestimmung.) Weniger kühn und anthropomorphisch ist das Bild der Griechen für den Schicksalsbegriff: ε ἱμαρμενη, aus der Poetensprache hergenommen, bedeutet den Anteil, der einem zugefallen ist, etwa durch das Los; und ich möchte vermuten, daß das türkische Kismet (eigentlich Anteil) eine alte arabische Lehnübersetzung des griechischen Wortes ist, trotzdem die Verteilerin genau kasimet lauten müßte.

 


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