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Abstraktion

Cicero hat in einem seiner Briefe (an Atticus VI, 1), die er mit griechischen Modeworten spickte und würzte wie unsere Urgroßväter ihre Briefe mit französischen, den Scherz gemacht: sein Vorgänger quum provinciam curavit ἐξ ἀφαιρεσεως, sanguinem miserit, quidquid potuit detraxerit, habe das Land in einen blutleeren Zustand gebracht, den Cicero nur durch roborierende, aufpäppelnde Mittel heilen konnte. Das Wort ἀφαιρεσις, das Cicero da mit detractio übersetzt, und das Aristoteles, der immerhin sein Griechisch als seine Muttersprache redete, abstrakt metaphorisch für die logische Beraubung der wirklichen Anschauungen, also für die Bildung von Begriffen gebraucht, wird erst sehr spät, von Boëthius durch die neue Lehnübersetzung abstractio (von abstrahere, fortschleppen, rauben) zu dem technischen Ausdruck, den unsere Schüler heute noch lernen müssen und, weil sie ihn gelernt haben, zu verstehen glauben. Bis in die Gesellschaftsspiele unserer höheren Jugend ist die Beschäftigung mit diesem Terminus eingedrungen. Die jungen Leute sollen ein Wort erraten durch Fragen, auf die nie anders als mit ja oder nein geantwortet werden darf. Und keine Verlegenheit ist bei diesem Spiele häufiger als die: die Frage zu beantworten, ob das aufgegebene Wort konkret oder abstrakt sei. (Konkret ist eine nachbarliche Lehnübersetzung von συμφυσις = προσϑεσις.) Meine Spielgenossen konnten sich oft nicht einigen: ist Engel, Farbe konkret oder abstrakt? Schopenhauer, der in Deutschland wohl zuerst die feinen Untersuchungen der Engländer über diese Frage weiterführte, erkannte den psychologischen Charakter des ganzen Vorgangs sehr gut und sah auch, daß zwischen konkreten und abstrakten Begriffen nur ein Gradunterschied bestehe. Auch die sog. konkreten Begriffe sind immer noch abstrakt und keineswegs anschauliche Vorstellungen: Man könnte die concreta treffend das Erdgeschoß, die abstracta die oberen Stockwerke des Gebäudes der Reflexion nennen, »wenn es nicht ein etwas zu bildliches und dadurch ins Scherzhafte fallendes Gleichnis wäre.« Ich will mich mit der wirklich unfruchtbaren sprachphilosophischen Unterscheidung nicht weiter beschäftigen; aber die Aufmerksamkeit lenken möchte ich darauf, daß wirklich konkret nur die Wirklichkeit selber ist, daß abstrakt völlig gleichbedeutend ist mit begrifflich, daß ein Begriff (für die Sprachkritik vom Wort nicht besser zu unterscheiden als Denken vom Sprechen), daß also ein Wort oder ein Begriff darum niemals eigentlich konkret sein kann. Und weil die begriffliche, abstrakte, aus Worten bestehende Sprache ihrem Wesen nach gezwungen ist, die Wirklichkeiten zu berauben, von Sinneseindrücken der unmittelbaren Anschauung zu abstrahieren oder abzusehen, daraus allein wird es schon verständlich, daß die menschliche Sprache ein untaugliches Werkzeug zur Erkenntnis der Wirklichkeit ist. Auch in den Naturwissenschaften, selbst den exaktesten, wird immer von irgend etwas abstrahiert, was dann bestenfalls durch nachträgliche Korrektur in Rechnung gebracht werden kann. Die Geometrie nennt Linien eindimensional, und abstrahiert von der Dicke der wirklichen Linie; die Physik abstrahiert vom Eigengewicht des Hebels; die Physiologie abstrahiert bei ihren Kalorienmessungen von der Arbeitsleistung, die mit Wärmeverlust verbunden ist; die Logik abstrahiert davon, daß das Denken rein logisch, ohne eine letzte Verbindung mit der Anschauung gar nicht vor sich geht. Die ganze stolze Entwicklung unserer Naturbeherrschung durch Maschinen wäre durch rein sprachliches oder abstraktes Wissen nicht möglich gewesen, wäre nicht möglich gewesen, wenn die glücklichen Erfinder sich nicht gehütet hätten, bloß zu abstrahieren, wenn sie nicht viel mehr immer wieder das Irrationale, eben die wirkliche Natur, das Rationale hätten korrigieren lassen. Es versteht sich von selbst, daß Hegel das wahre Verhältnis umzukehren suchte und Natur und Geist gleicherweise konkret fand: »das abstrahierende Denken ist nicht als bloßes Auf-die-Seite-stellen des sinnlichen Stoffes zu betrachten, welcher dadurch in seiner Realität keinen Eintrag leidet, sondern es ist vielmehr das Aufheben und die Reduktion desselben als bloße Erscheinung auf das Wesentliche, welches nur im Begriff sich manifestiert«. Das Wirkliche ist also vernünftig. Kant hat in seiner Logik einseitig richtig den sprachlichen Ausdruck zu verbessern gesucht: »Wir müssen nicht sagen etwas abstrahieren (abstrahere aliquid) sondern von etwas abstrahieren (abstrahere ab aliquo). Abstrakte Begriffe sollte man daher abstrahierende (conceptus abstrahentes) nennen«. Ganz richtig von Begriffen wie Mensch, Pferd, also von allen eigentlich konkreten Gattungsbegriffen, bei denen weiter und weiter hinauf vom Individuellen abstrahiert wird; nicht richtig für Begriffe wie Farbigkeit, Tugend usw., die keine Gattungsbegriffe sind. Verstehe ich unter Verstand (mit Schopenhauer etwa) die Orientierung oder meinetwegen das Orientierungsvermögen in der Wirklichkeitswelt, wo denn die Tiere sehr viel Verstand haben, verstehe ich unter Vernunft die Orientierung in der Begriffswelt oder der Sprache, wo denn die Tiere sehr wenig Vernunft haben, so kann ich sagen, daß der Verstand allein die konkrete Welt kennt ( begreift erinnert zu sehr an Begriff oder Wort), daß die Vernunft allein in Abstraktionen zu Hause ist, und daß darum auch die höchste Vernunft sich in der Welt nicht auskennen würde, ließe sie sich nicht glücklicherweise instinktiv vom Verstande leiten. Instinkte sind niemals abstrakt, niemals begrifflich. (Vgl. Art.  Instinkt.)

 


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