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Atom

Die Physiker vergessen bei Anwendung der Differenzialrechnung auf die kinetische Gastheorie, ferner auf das Molekulargewicht und überhaupt auf die Lehre von dem Aufbau der Elemente, daß das Atom selbst ein Grenzbegriff ist, also eine Vergleichsmöglichkeit fehlt, um über die Größenordnung der sog. Atome etwas aussagen zu können. Erkenntnistheoretisch geschulte Köpfe wie Schopenhauer und Fechner haben das immer eingesehen, weil sie nicht genug oder nicht zu sehr mathematisch dachten. Die ältern Physiker sahen da wirklich klarer als die neuern. Vollends die Sichtbarmacher der Molekularbewegung gebrauchen den Begriff der Moleküle ganz willkürlich, weil kein Grund vorhanden ist, die sichtbar gewordenen Teilchen z. B. der Brownschen Beobachtungen für unterste Atomverbindungen auszugeben. Dasselbe gilt für die Beobachtungen durch das Ultramikroskop. Die Herren haben kein Recht, auf das Neue, das sie gesehen haben und durch einen Begriff begreifen möchten, das uralte Wortgespenst Atom oder das neuere Wort Molekül anzuwenden. An solchen naturwissenschaftlichen Begriffen läßt sich noch besser als an den abstrakt philosophischen die Gespensterhaftigkeit der Wortgeschichten nachweisen. So ein Wort wandert von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert, in seiner Bedeutung ebbend und flutend, wird aber die mit ihm verbundenen Bilder im Wechsel der Zeiten nicht los. Wenn Boltzmann von Atomen redet und dabei an die kinetische Gastheorie denkt, so unterscheidet sich seine Atomistik von der der Griechen wie ein moderner Eisenbahnzug von einem antiken Karren; wie aber die Waggons unserer Eisenbahnen nicht so aussehen würden, wie sie aussehen, wenn die Formgeschichte des Karrens sich nicht in ihnen fortgesetzt hätte, so wird auch ein Boltzmann das Bild des griechischen Atoms nicht ganz los. Die Griechen hatten in ihrer bildsamen Muttersprache das Wort ἡ ἀτομος gebildet, worunter dann die Naturphilosophen das unteilbare letzte Stückchen Stoff verstanden. Die Römer nahmen das Wort herüber, mit Haut und Haar; atomus (fem.) war das Atom, atomum der Augenblick (in atomo = ἐν ἀτομ ῳ); sie übersetzten das Fremdwort aber auch durch indivisibilis, spätlat. und ungebräuchlich, sowie durch individuum, nur daß individuum, bei Cicero noch gleichbedeutend mit atomus, mit der Zeit einen Sinn bekam, der dem des Atoms stracks entgegengesetzt ist: das organische Ganze. (Für in atomo, ἐν ἀτομ ῳ, sagen wir jetzt im Moment, wo momentum, von movere, die Bewegung, die Bewegungsstrecke, die Bewegungsdauer, das Moment, den umgekehrten Bedeutungswandel durchgemacht hat; wir sagen unterscheidend: der Moment.) Auf den Gegensatz im Bedeutungswandel des griech. Wortes Atom und seiner lat. Lehnübersetzung Individuum hat schon Virchow hingewiesen in einem Vortrage von 1859: Atome und Individuen. Er meint mit einem hübschen Philologenscherze: Atom heißt ein Ding, welches weder die Hand noch der Geist anatomisch weiter zu zerlegen vermag. Und er bezeichnet auch den Unterschied, der sich herausgebildet hat, ganz treffend: »Das Atom ist die unteilbare Einheit, die man selbst in Gedanken nicht weiter zu teilen vermag; das Individuum diejenige, die man nicht weiter teilen darf; wird sie geteilt, so wird sie eben auch vernichtet.« Das Atom sei eine bloß gedachte Einheit, das Individuum die wirkliche. Es ist bekannt, daß Virchow, der Begründer der Zellularpathologie, in seinen Zellen diese wirklichen Einheiten sah und die Organismen gern als Gesellschaften betrachtete; dabei gab er sich redliche Mühe, immer wieder Fäden zu knüpfen zwischen solchen Verwegenheiten und der vom Liberalismus für humanistisch erklärten Weltanschauung der griechischen Philosophie. Nun waren aber die Griechen, von den Römern gar nicht zu reden, unsern letzten Fragen gegenüber im Stande der Unschuld oder Kindheit; ich habe das an dem immerhin imponierend großen Beispiele des Aristoteles nachzuweisen gesucht. (Vgl. Art.  Griechisches Denken; Aristoteles.) Wie Kinder ihre Spielsachen in Stücke schlagen, und guter Wille darin eine Äußerung ihres Wissensdurstes gesehen hat, so kamen die Griechen, da sie mit den Begriffen der Unzählbarkeit der räumlichen Teile und denen der Größenmaße spielten, auf das Bild von den Atomen. Ob das Bild ihnen von der indischen Naturphilosophie übermittelt werden konnte oder gar übermittelt wurde, vermag ich nicht zu untersuchen. Wie Kinder und wie alle Philosophen wollten die Griechen erfahren, was hinter den Dingen stecke, das An-sich der Dinge begreifen; ihre Idealisten fanden Ideen oder Worte dahinter, ihre Materialisten ganz, ganz kleine Stückchen Stoff, die die Dinge-an-sich waren; dabei beruhigten sich Leukippos, Demokritos, Epikuros, das brachte Lucretius in seine erstaunlich schönen Hexameter. Was sonst erzählt wurde, von der Größe, der Gestalt, der Lage der Atome, von der Herstellung der Seele (und der Götter) aus den feinsten Atomen, das gehört nur zu den Äußerungen griechischer Mythenbildung und sollte aufhören, ein Inventarstück der Philosophiegeschichte zu bilden; denn auch nicht der leiseste Versuch wurde gemacht, die Wahrheit dieser Erzählungen zu beweisen oder gar das Bild Atom annäherungsweise durch Experimente zu verbessern, der Wirklichkeit ähnlicher zu machen. Diese griechische Atomistik, an welche ganz eng der vornehm-lebenskluge Sensualismus des Epikuros geknüpft war, verfiel mit der Zeit unter dem Schelten der Schulphilosophen und unter den Verdammungsworten der Kirchenväter der Infamie; infam war, ein Schwein war, wer sich einen Epikuräer zu nennen wagte. Es macht den ganzen und einzigen Ruhm von Pierre Gassendi aus, daß er, selbst ein kleiner Kirchenfürst und in allen Glaubenssachen der Kirche gehorsam, das System des Epikuros wieder auf den Plan brachte. Gassendi war kein Bahnbrecher. Mit Skeptikern befreundet, in geistigem Verkehr mit Mersenne, Hobbes, Descartes und Galilei, sprach er alleinig endlich aus, was in der Luft lag: daß die Atomistik die Welt eher erklären könnte als der Rationalismus der Aristoteliker seit damals 2000 Jahren es vermocht hatte. Er spricht es Hobbes nach, daß unser Weltbild von der Phantasie geschaffen sei, er spricht es Campanella nach, daß wir nur Qualitäten wahrnehmen, nicht Substanzen. (Was ich die adjektivische Welt nenne.) Nihil praeter qualitates a sensibus percipitur. Man sagt, das Auge sehe nicht nur eine Farbe, sondern auch einen farbigen Körper; aber eben dieses farbige Etwas ist Qualität; was wir daran Substanz nennen, schieben wir bereits der Qualität durch einen Verstandesschluß unter. Die Substanz, die substantivische Welt, bleibt uns immer verhüllt. Er glaubte, die Atomistik der Griechen wieder zu beleben, weil er in den Atomen die Substanzen zu sehen glaubte, das Ding-an-sich der Erscheinungen. Aber in Wahrheit war eine andere Welt schon zu Worte gekommen, als Gassendi den verrufenen Terminus wieder aufnahm. Bacon und Hobbes hatten in dieser Zeit, die doch der langsam werdenden Erfindung der Infinitesimalrechnung fast unmittelbar vorausging, schon darauf gedrungen, die Natur durch Erforschung ihrer kleinsten Teile zu erklären. Es lag nahe, den Begriff der Monaden einzuführen, als Rechnungsgrößen, und die Physik wie die Mathematik auf Differentialrechnung zurückzuführen. Nun war aber Gassendi unglücklicherweise vor allem Philologe (»unter den Philologen der größte Philosoph, unter den Philosophen der größte Philologe,« hat etwas boshaft Pierre Bayle von ihm gesagt), und so übernahm er aus dem Altertum den Atombegriff mit allem, was drum und dran hing, und suchte den neuen Wein in alte Schläuche zu bringen. Den Griechen wurde mancherlei von der neuaufdämmernden Infinitesimalrechnung untergelegt und wiederum dem neuen Monadenbegriff, weil das Wort Atom sich eingestellt hatte, wie durch eine Zwangsvorstellung die Eigenschaft der Unteilbarkeit zugesprochen. Die Griechen waren zu dem Worte durch ein kindliches Spiel mit dem Begriffe der Teilbarkeit gekommen; irgend einmal mußte man mit dem Zerkleinern der Körper aufhören, in der Phantasie, und dann sagte man ἀτομος zu den ganz, ganz kleinen Stückchen. Im 17. Jahrh. war man nicht mehr so naiv. Einheiten, Monaden, einheitliche Rechnungsgrößen nur noch wurden gesucht; ihre Teilbarkeit oder Unteilbarkeit kam eigentlich gar nicht mehr in Frage; mühsam wurde die etymologische Wortbedeutung von Atom dadurch gerettet, daß man sagte: auch das Atom besteht aus unterscheidbaren Teilen, weil sie aber praktisch nicht mehr losgespalten werden können, darum dürfen wir es Atom nennen: non ut vulgo putant quod partibus careat sed quod ita solida et, ut ita dicam, dura compactaque sit, ut divisioni, sectionive et plagae nullum locum faciat, seu quod nulla vis in natura sit, quae dividere illam possit. Und weil einmal die Terminologie des Epikuros wieder eingeführt werden sollte, behielten dessen Atome auch die Eigenschaft bei, schwer zu sein. Vielleicht interessierte den Klosterpropst Gassendi die physikalische Atomistik des Epikuros gar nicht in erster Linie; vielleicht war ihm die Physik nur ein Vehikel, die verrufene Moral seines Meisters zu lehren, sie – doch wohl ein wenig heuchlerisch, da sein offiziöser Christenglaube nicht gar fest gesessen haben kann – scheinbar mit dem Katechismus in Einklang zu bringen. Auch Gassendi predigte einen vornehmen Sensualismus, der doch mit der Prinzipienlehre der Physik nichts zu tun hatte: Tranquillitas animi et indolentia corporis; status, quo melior appeti non potest. So schlichte, ja resignierte Lebensweisheit verträgt sich mit jedem Glauben. Die dogmatischen Materialisten, deren es doch auch heute noch gibt, rühmen der Atomistik des 17. Jahrhs. nach, daß unter ihrer Herrschaft, besonders seitdem Dalton die Theorie der Chemie auf sie gegründet hatte, der ungeheure Aufschwung der theoretischen Chemie und des Handels mit Chemikalien möglich wurde. Ich möchte ganz höflich einwenden, daß begabte Chemiker auch unter der Herrschaft des Phlogismus gute Entdeckungen machten, daß ganz brauchbare Kalender angefertigt wurden, während man noch allgemein die Richtigkeit des Ptolemäischen Planetensystems annahm. Man darf bei solchen Untersuchungen nicht die Kirchhoffsche Unterscheidung zwischen Erklärung und Beschreibung außer acht lassen. Das menschliche Wissen dringt nicht bis zu Erklärungen vor. Erklärungen sind immer Bilder, mehr oder weniger falsche Bilder. Das Phlogiston gab ein besonders falsches Bild vom Verbrennungsvorgang; die Ptolemäischen Epizyklen gaben ein gar nicht übles Bild des Planetenumlaufs; es wäre für die Atomistik recht günstig, wenn der Richtigkeitswert ihres Bildes so ungefähr zwischen dem des Phlogiston und dem der Epizyklen gefunden würde. Ganz anders steht es um die Beschreibung einer Naturerscheinung. Die kann, wenn der Beobachter nur methodisch oder instinktiv von jedem Erklärungsversuche absieht, unter jeder Erklärungshypothese, unter der Herrschaft jedes Bildes gut ausfallen. Und auch eine falsche Hypothese, wenn sie nur die Phantasie anregt, kann den begabten Chemiker zu immer neuen Versuchen führen, bei denen etwas gelernt wird. Die Hypothese der letzten Zusammensetzung ist beinahe so gleichgültig wie die Namen der Stoffe. Es tut nichts, daß man das merkwürdige flüssige Metall quickes Silber nannte, vivum Argentum, seine Eigenschaften konnte man dennoch beobachten. Worin aber die Atomistik seit Gassendi der Chemie wirklich zu Hilfe kam, das war: die steigende Möglichkeit, die Rechnung und endlich auch die höhere Analysis den Untersuchungen chemischer Verwandlungen zugrunde zu legen. Dieses Atom war aber – wie gesagt – gar nicht mehr das kleine Stückchen Stoff der Griechen, sondern eine Art Monade, nicht meßbar, eine Rechnungsgröße, ein Grenzbegriff, der wie das Differential der Mathematiker aus dem Resultate der Rechnung wieder eliminiert werden muß, wenn das Resultat einen Sinn haben soll. Während aber die Physik, insbesondere die Chemie, unter der Anregung atomistischer Vorstellungen sofort Fortschritte machte, wandelte sich die Verstellung vom Atom abermals, ohne daß das alte Wort fallen gelassen worden wäre. Gassendi hatte als erster bei den Körperchen, aus welchen die Dinge bestehen, zwischen Atomen und Molekülen unterschieden; da die Moleküle untereinander ungleich sind, bleibt nur übrig, die Atome als gleich anzusprechen. Es mußte sofort die Frage entstehen, durch welche geheimnisvolle Kraft diese gleichen Atome dazu gebracht werden, sich zu den verschiedenen Molekülen zu ordnen. Schon Gassendi selbst hat einen Wink gegeben, in der Ordnung ohne weiteres den Grund zu suchen. Die Buchstaben A und N können je nach ihrer Anordnung die Silben an oder na bilden; die Buchstaben N und Z sind gar nur der Lage nach verschieden; aus N wird Z, wenn man es umlegt. Der mitlebende und mitstrebende Forscher Robert Boyle, der dem albernen Gerede von den vier Elementen des Aristoteles ein Ende machte und unsern jetzigen provisorischen Begriff vom Elemente aufstellte, hat Gassendis Atomistik in seine Weltanschauung aufgenommen, dazu die wichtigsten scholastischen Begriffe von den Qualitäten und Formen so lange umgedeutet, bis sie auf die neue Atomistik paßten. Auf solche Vorstellungen war die neue Chemie begründet, die ja bekanntlich Erfolge zu verzeichnen hatte, von denen sich Altertum und Mittelalter nichts träumen ließen; praktische Erfolge. Diese neue Chemie nennt sich mit Stolz atomistisch; sehen wir zu, was von dem alten Atombegriff in ihr übriggeblieben ist. Wir haben erfahren, daß schon Gassendi Sophismen zu Hilfe nehmen mußte, um den Namen Atom als den der unteilbaren letzten Stückchen beibehalten zu dürfen. Mehr und mehr wurde im 18. und 19. Jahrhundert das Atom zu einer bloßen Rechnungsgröße. Nun aber handelt die Chemie von den Verwandlungen der Stoffe; die Rechnungsgröße der Verwandlungen war aber inzwischen das Molekül geworden, das aus irgendwie geordneten Atomen bestand. Die Chemie hatte immer nur mit veränderlichen Molekülen zu tun, die Chemie war also gar nicht atomistisch; nur die Rechnungsgröße der intensiv unteilbaren Elemente nannte man noch Atome (die alten Atome waren extensiv unteilbar gewesen), und diese Atome wurden ein Begriff der theoretischen Physik. Nur die Unveränderlichkeit dieser Elementaratome erinnerte noch ungenau an die Starrheit der Atome der Griechen und schien die Beibehaltung des Wortes zu entschuldigen. Was aber in den letzten Dezennien über diese Atome ausgemacht worden ist, das reißt die letzten Fäden entzwei zwischen der gegenwärtigen und der alten Atomistik. Die Atome unserer theoretischen Physik sind ja weder unteilbar noch unwandelbar. Wenn die neue Vorstellung von den radioaktiven Elementen richtig ist, so explodieren die Atome dieser Körper und verwandeln sich dabei in Atome höherer Ordnung eines neuen Elements. Der Wunsch der Theoretiker, die uralte Wortbedeutung auch nach solchen Entdeckungen noch zu retten, hat dazu geführt, neue Unterscheidungen zwischen Molekularumwandlungen und Atomumwandlungen aufzustellen: das Atom soll nicht durch äußere Einflüsse, sondern nur durch innere Vorgänge gespalten werden können; als ob man etwas darüber wüßte. Dazu kommt, daß die neuerdings fest angenommene Periodizität der Elemente, ferner die Kompliziertheit der Spektren einiger Metallatome darauf schließen läßt, daß unsere provisorische Elementenreihe nicht mehr lange wird aufrecht erhalten werden können, daß man einmal Atome des einen Elements aus Atomen des andern zusammensetzen wird. Bliebe noch die Kleinheit der Atome. Sie sind freilich immer kleiner geworden, je schärfer die Mikroskope wurden. Aber mit der unendlichen Kleinheit ist es nichts mehr, seitdem die theoretische Physik gewagt hat, die positive Größe eines Wasserstoffatoms zu berechnen. Auch wenn der berechnete Wert ( 1/10 21 eines Milligramms), also ein Milligramm dividiert durch eine Zahl, die man mit 22 Ziffern schreiben müßte, nicht genau stimmen sollte. Der gewonnene Wert ist vielleicht nicht einmal nach der Größenordnung richtig; aber die Berechnungsmöglichkeit beweist, daß die neue Physik im Atom nicht mehr ein Differential sieht, sondern einen Körper. Damit scheint mir die Formatomistik Gassendis und Boyles aufgegeben; und von einer Rückkehr zu den Vorstellungen der Griechen wird man wohl nicht im Ernste reden wollen. Was wußten die Griechen davon, daß der Sonnentau noch auf ⅛ Millionstel eines Milligramms Sauerstoff reagiert, manche Bakterien auf noch geringere Mengen, die sich schon der oben angegebenen Größenordnung eines Atoms nähern? Was wußten sie von Probien, den ersten Produkten einer Urzeugung, von Wesen, die man sich (nach Nägäli und Strasburger) in Atomengröße vorzustellen hat. Der Versuch, diese reale Größe von Atomen zu berechnen, führt mich endlich darauf, was das Atom eigentlich sei, wenn man nur an die psychologische Entstehung des Begriffes denkt. Ich glaube: eine Verwechslung zwischen Raum und Stoff, eine Verwechslung zwischen den gedachten kleinsten Teilen des Raums und den undenkbaren letzten Teilen des Stoffs. Daß der Raumbegriff sich erst an der Körperwelt entwickeln konnte, ist ja so gut wie anerkannt. Raum und Körper werden vom naiven Realismus immer verwechselt. Die naiven Griechen nun hatten Phantasie genug, das Continuum des Raumes in ihrer Phantasie weiter und weiter zu teilen, bis das Teilen – wieder in der Phantasie – ein Ende nahm, um zur Ruhe zu kommen. Es war kinderleicht, diese Teilung des Raums auf die Körper zu übertragen. Leicht, aber falsch, weil wir nicht wissen, ob ganz winzige Stückchen Stoff sich ebenso verhalten wie große Stücke. Atome sind für Menschenorgane nicht mehr wirksam; aber auch die für Menschenorgane noch sichtbaren sogenannten Sonnenstäubchen sind für das Erdenorgan, das Gravitationsfeld, nicht mehr so wirksam, wie es ein Apfel noch ist; es scheint, daß der Stoff z. B. bei Ölhäuten in der Dicke von weniger als 100 μμ nicht mehr die gleichen Eigenschaften habe wie das Öl in größeren Quantitäten. Das falsche Atom-Bild der Griechen wurde doppelt korrigiert, als die Infinitesimalrechnung ihren Kalkül auf das Atom anwandte: erstens mußte das Experiment immer zeigen, ob die Anwendung des Grenzbegriffs auf den Stoff möglich war, und zweitens brauchte das Differential des Raums nach der neuen Vorstellung kein Ausruhen mehr; es konnte ins Unendliche weitergeteilt werden, der Begriff ἀτομος war überflüssig geworden. Aber auch noch die neueste theoretische Physik ist die Verwechslung zwischen Raum und Substanz nicht ganz losgeworden, erst recht nicht. Der unendliche Raum zwischen den Fixsternen, den man so lange ein Vakuum genannt hatte, weil er keine nachweisbaren bekannten Stoffe enthielt, mußte als eine Substanz aufgefaßt werden, als sich Wirkungen dieses Vakuums auf das Thermometer und die photographische Platte nicht mehr ableugnen ließen. Es gehört nicht hierher, daß dem Substanzbegriff bei dieser Ausdehnung wieder einmal Gewalt angetan werden mußte. Das alte Vakuum wurde mit etwas gefüllt, dem man den uralten mythologischen Namen Äther beilegte. Der Weltäther machte im Großen den Raum zu einem Gegenstande der Physik und wurde im unendlich Kleinen der Mörtel, mit dessen Hilfe aus den physikalischen Atomen die chemischen Moleküle sich aufbauten. Da hatte man ein einfaches Weltbild: es gab nichts mehr als Atome und Weltäther. Da man sich aber im Geiste der Zeit auch vom Äther ein mechanisches Modell machen mußte, so zerlegte man innerhalb der Phantasie auch den Äther in Atome, wodurch das Weltbild für die Menschensprache noch einheitlicher wurde. Nur daß dabei auch noch die letzte Qualität des alten Atoms, die Schwere, mit der die theoretische Physik so erfolgreich gearbeitet hatte (Atomgewicht), verloren ging; denn der Weltäther und seine Atome waren und blieben unwägbar. (Vgl. Art.  Äther.) Nach dieser hoffentlich überzeugenden Untersuchung der psychologischen Entstehung und der historischen Wandlung des Atombegriffs kann es nicht wundern, wenn wir erfahren, daß die ersten Physiker unserer Zeit ihn nur mit schlechtem Gewissen gebrauchen oder ihn gar mit skeptischem Lächeln ablehnen. W. Thomson-Kelvin sagt unter dem Beifalle von Helmholtz: »Die Annahme von Atomen kann keine Eigenschaft der Körper erklären, die man nicht vorher den Atomen selbst beigelegt hat.« Und Helmholtz warnt davor, die hypothetischen Atome mit den kontinuierlichen und gleichartigen Volumelementen zu verwechseln. (Rede zum Gedächtnis an Gustav Magnus.) Ernst Mach sagt: »Mögen die Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von Tatsachen darzustellen; die Naturforscher, welche Newtons Regeln des Philosophierens sich zu Herzen genommen haben, werden diese Theorien nur als provisorische Hilfsmittel gelten lassen und einen Ersatz durch eine natürlichere Anschauung anstreben.« (Mechanik 3, 482.) Boltzmann, der geniale Schüler Machs, hat in einer schwer zugänglichen Abhandlung »Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft« (Populäre Schriften S. 141) sich gegen die Energetik gewandt und die Auffassung der Atome als materieller Punkte und der Kräfte als der Funktionen ihrer Entfernung selbst nur provisorisch gelten lassen, in der Schlußbemerkung jedoch mit fast tragischer Verzweiflung oder mit Humor vorgeschlagen, diese Elementarkörperchen z. B. Etwase zu nennen. Weiter kann die docta ignorantia in der wissenschaftlichen Resignation nicht mehr gehen. Ich bemerke noch, daß der Spezialist für Geschichte der Atomistik, Kurt Lasswitz, in seinem geistreichen Buche »Atomistik und Kritizismus« zwar den Nachweis geführt hat, daß die kinetische Atomistik notwendig aus den Prinzipien des Kritizismus der Neu-Kantianer hervorgehe; er hat aber nicht nachgewiesen, daß diese Prinzipien richtig seien, und scheint mir überdies die Phänomenalität der konkreten Atome mit der abstrakten Vorstellung von ihnen verwechselt zu haben. Das Atom gehört zu den Begriffen, mit deren Hilfe der arme Menschengeist versucht, sich von den letzten Fragen durch Zurückschieben zu befreien. Den Griechen gelang das beinahe, weil sie in ihrer erkenntnistheoretischen Unschuld kein Arg darin sahen, während dieses Zurückschiebens beim Worte unteilbar plötzlich Halt zu machen und auszuruhen. Wir können mit gutem Gewissen nicht einmal bei den unwägbaren Atomen des Weltäthers ausruhen. Für uns hätte das alte Wortgespenst Atom nur dann einen beruhigenden Sinn, wenn wir sagen könnten, was die Substanz oder die Materie ist; aber über die Substanz oder die Materie können wir nichts aussagen, bevor wir wissen, was das Atom ist. Als ob wir verpflichtet wären, nach dem Sinne alter leerer Worte zu fragen.

 


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