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Gegenstand

Dieses Stück ist fast vollständig meinem Essay »die Sprache« entnommen, der als IX. Band der »Gesellschaft« (herausgegeben von Martin Buber) erschienen ist. – ist offenbar keine ganz glückliche Lehnübersetzung des alten philosophischen Ausdrucks Objekt. Heute, nach einem Leben von mehr als 150 Jahren, hat das Wort für ganz feine Ohren noch störende Nebentöne, in der Kunstsprache wie in der Gemeinsprache. Ich will das durch zwei extreme Beispiele zu beweisen suchen. In der philosophischen Sprache sind wir, worauf schon das D. W. hinweist, neuerdings wieder geneigt, uns Gegenstand durch den Begriff Objekt zu verdeutlichen oder doch wohl auch Objekt zu sagen. In der poetischen Sprache ist trotz Goethe und Schiller der Gebrauch des Wortes nicht recht nach der Natur der deutschen Sprache. Mein Ohr wird durch Gegenstand vorkantisch angemutet, wie denn auch Gottsched sich des Wortes leidenschaftlich annahm. In den berüchtigten Versen von Friederike Kempner:

»rechts am Ende, links am Ende
lauter Frühlingsgegenstände.«

ist das Wort Gegenstand von besonderer Komik. Diese leise Fremdheit des Wortes kann nach so langem Gebrauche kaum mehr aus dem Sprachgefühl stammen, das einst (noch bei Adelung) die Etymologie heraushörte und sich dagegen sträubte, jedes Ding der Wirklichkeitswelt einen Stand zu nennen. Uns ist das Wort recht geläufig geworden. Freilich, wie ich deutlich zu hören glaube, nur in zwei Bedeutungen: einmal in der Schulsprache für das Objekt der Aufmerksamkeit (Gegenstand eines Vortrages), zweitens für das Objekt im weitesten Sinne, das Ding, die Sache, aber eigentlich doch nur die Sache mit Ausschluß der organischen Dinge. Ein Veilchen nennen wir nie Gegenstand. Die Geschichte des Wortes hebt an mit dem technischen Gebrauche des griechischen Wortes ὑπο ϰειμενον. Das hieß nun seltsamerweise früher geradesoviel wie jetzt unser Gegenstand: der einer aufmerksamen Untersuchung vorliegende Gegenstand, der Gegenstand einer Untersuchung, argumentum. Aristoteles verwendet es dann häufig in der Bedeutung von dem, was zugrunde liegt. Die lateinische Lehnübersetzung des griechischen Wortes lautete im Mittelalter subjectum. Im Mittelalter. Die alten Lateiner verstanden unter subjectum, abgesehen von der ursprünglichen Bedeutung des Adj. subjectus (wovon das franz.  sujet; untertan wieder, wie unterworfen, eine Lehnübersetzung), nur den grammatischen Begriff. Augustinus bezeugt überdies ausdrücklich, daß zu seiner Zeit die lateinischen Lehnübersetzungen aus dem Griechischen hier und da weniger gebräuchlich waren, als die griechischen Worte selbst. Über die lateinischen Lehnübersetzungen herrschte Streit, über die griechischen Originalworte nicht; genau so, wie wir uns heute gegenständlich durch objektiv zu verdeutlichen glauben. Im Griechischen selbst waren die Worte οὐσια und ὑπο ϰειμενον begrifflich sehr nahe gerückt. Das erste wurde schulgerecht mit essentia übersetzt, das zweite bald ebenso schulgerecht mit subjectum, bald (von wem zuerst?) mit substantia. Augustinus fühlte da einen Unterschied heraus und wollte Gott aus feinen Gründen seines Sprachgefühls nur eine Essenz genannt wissen, nicht eine Substanz. Man sieht also, daß der mittelalterliche Sprachgebrauch ziemlich genau das subjektiv nannte, was wir jetzt objektiv nennen. Wie so oft, wie besonders bei Aristoteles, wurde auch hier offenbar Metaphysik von Grammatik beeinflußt. Subjektiv war, was zum Subjekte gehörte; Subjekt bezeichnete bald das, wovon etwas prädiziert wurde, also sehr oft einen konkreten Gegenstand, bald das Wesentliche des Gegenstandes, die οὐσια, das ὑπο ϰειμενον. Objektiv war dagegen, nach der damaligen Psychologie und dem lateinischen Wortlaut, was an den Vorstellungen von ihrem Vorsteller verursacht war, was wir also heute subjektiv nennen. Erst an der Wende des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vollzieht sich der Umtausch der beiden Begriffe langsam, und zwar just in Deutschland. Objektiv und real werden fast gleichbedeutend. Und in der Sprache Kants ist das scholastische subjectum bereits so völlig verloren gegangen, daß er es an der Stelle nicht verwendet, wo es einzig an seiner Stelle gewesen wäre. Die Welt ist objektiv geworden. Doch unter dieser objektiven Welt der Gegenstände liegt noch etwas, eben das ὑπο ϰειμενον, das subjectum. Und das nennt Kant das Ding-an-sich, den Gegenstand an sich. Hätte Kant die alten scholastischen Ausdrücke beibehalten können, sein Ding-an-sich das Subjekt-an-sich nennen können, dem großen Manne wäre der tiefste Fehler seines Systems erspart geblieben, daß nämlich erst von der menschlichen Vernunft verursacht werde, was alle Vorstellungen des Menschen verursacht: die Ausdehnung des Kausalitätsbegriffs auf das Ding-an-sich. Oder vielmehr: Kant wäre dann in Gefahr gewesen, in die geistreiche Konsequenz seines Schülers Fichte zu verfallen. Aus der Vertauschung der beiden Begriffe subjektiv und objektiv kam aber auch die Schwierigkeit, ein gutes deutsches Wort für die Sache zu erfinden. Die älteren Lehnübersetzungen hatten ja subjectum vor sich, die neueren Objekt. Objekt wird buchstäblich mit Gegenwurf oder Widerwurf (Eckhart), Subjekt mit Unterwurf wiedergegeben. Daneben findet sich bei Eckhart schon stehende oder selbstehende Wesen für Substanzen. Von diesen Lehnübersetzungsversuchen hat sich ein einziger, halb veraltet, bis in unsere Tage gerettet: Vorwurf. Wir verstehen noch, wenn wir bei Lessing oder Schiller Vorwurf im Sinne von Gegenstand, Objekt einer Abhandlung, einer Schilderung lesen. Gegenwurf aber, in der Sprache der Mystiker und Theologen durch Jahrhunderte ein ganz geläufiges Wort, ist der heutigen Gemeinsprache völlig unverständlich geworden. So unverständlich, daß man es leicht mißverstehen kann, wo man es bei älteren Schriftstellern (noch bei Hagedorn) findet. Wirklich veraltete das Wort gerade um die Zeit, da die Vertauschung der Begriffe subjektiv und objektiv in Deutschland erfolgte. Man nahm es allmählich, wieder ein Fall von gelehrter Volksetymologie, als Übersetzung von objection (anstatt von objet), von ἀντι ϰειμενον anstatt von ὑπο ϰειμενον, und weil da die Worte Einwurf oder Widerspruch schon zur Verfügung standen, so mußte das Wort Gegenwurf sterben. In die Übergangszeit fällt der Bedeutungswandel des Wortes Gegenstand, nicht die Neuschöpfung des Wortes. In dem Sinne nämlich von Widerstand oder Gegensatz (es ist ein Entgegenstehen) wird es seit dem sechzehnten Jahrhundert gebraucht. So noch von Haller, der den Gegenstand von Gründlichkeit und Tugend am Ende seines Lebens in einen Gegensatz umänderte. Auch im Sinne der astronomischen Opposition wurde sehr gut Gegenstand gesagt. Doch wäre auch dieses Wort, ebenso wie Gegenschein und Widerschein, gestorben, wenn es nicht dadurch, daß Christian Wolf es in seiner Schulsprache für Objekt gebrauchte, eine Auferstehung gehabt hätte. Ich kann es nicht aus Quellen belegen, aber Gegenstand muß einmal die mechanische Lehnübersetzung von einem Worte obstantia gewesen sein. Obstantia muß einmal der geläufigere Schulausdruck gewesen sein, in dem ungefähr die Bedeutungen von substantia, von Subjekt und Objekt zusammenflossen. In dem Sinne, wie obstantia durch Gegenstand wiedergegeben wurde, würden wir heute verständlicher Gegenwirkung sagen. So wurde Gegenstand ein technischer Ausdruck der Erkenntnistheorie, ging durch populäre Schriften in die Gemeinsprache über und wurde da zu einem überflüssigen und immer noch falsch tönenden Synonym von Ding oder Sache. Verzeichnet wird die Lehnübersetzung Gegenstand zuerst von Stieler (1691), gebildet war das Wort wahrscheinlich in der Fruchtbringenden Gesellschaft worden; aber noch Thomasius will es nur zögernd zulassen. In der deutschen Gemeinsprache sind die Worte Ding und Sache weit lebendiger und fruchtbarer geworden als Gegenstand. Redensarten wie ein liebes Ding (für Mädchen), Dinger (mit verändertem Plural) für Kleinigkeiten oder mach keine Sachen haben sich aus Gegenstand nicht entwickelt. Dennoch darf man annehmen, daß sowohl Ding als Sache ihre gegenwärtige Bedeutung durch bewußte oder unbewußte Lehnübersetzung erworben haben. Das mittellateinische causa ( cause und chose) liegt zugrunde. Bei Ding muß dieser Gebrauch schon in sehr alte Zeit zurückgehen; Grimm nimmt die juristische Bedeutung litigium für die ursprüngliche. Bei Sache liegt die alte Bedeutung Rechtshandel (lis) noch klarer zutage, auch wenn man die bedenkliche Etymologie ganz beiseite läßt. (Sogar die Gleichung Dingsda und chose ist Lehnübersetzung.) Merkwürdig, daß auch chose wie Gegenstand (nach Littré) nur tout ce qui est inanimé bezeichnet. Springen wir in den gegenwärtigen Gebrauch dieser Begriffe hinein, so läßt sich die letzte Frage der Erkenntnistheorie wieder scheinbar scholastisch (tiefster Spekulation wird von Banausen gar oft der Vorwurf der Scholastik gemacht werden) auf die Form bringen: werden die Objekte von uns Subjekten erzeugt? (Eigentlich richtig nur in der Einzahl: von mir, dem einzigen Subjekt.) Oder werden wir Subjekte von den Objekten erzeugt? Sprachkritik allein durchschaut das Spiel dieser Antinomie. Sprachkritik allein faßt unsere Sinne als Zufallssinne und sieht die absolute Notwendigkeit, mit der uns die Objekte zu unseren Vorstellungen von ihnen zwingen, als eine historische Notwendigkeit, also wie alle Historie als einen Zufall. Verwechseln wir diese objektive Notwendigkeit mit objektiver Gesetzmäßigkeit, so verfallen wir dem naiven Realismus der Büchner und Haeckel. Ahnen wir die Unvorstellbarkeit der Objekte und halten wir dabei unsere armen fünf Sinne für die vortrefflichen Werkzeuge einer vortrefflichen Vernunft, so verfallen wir dem theologischen oder am Ende spiritistischen Realismus des skeptischen Idealisten Berkeley. Der sagt: »The ideas imprinted on the senses by the author of nature are called real things.«(Princ. 33.) Der sprachlichen Ordnung, um nicht zu sagen Lösung der Antinomie sind am nächsten gekommen der Sprachforscher Steinthal und der bis zu Sprachkritik witzige Physiker Lichtenberg. Steinthal meint einmal: Ein Objekt begreifen, ein Ding anschauen sei der Bedeutung nach eine ähnliche Wortverbindung wie einen Brief schreiben, ein Haus bauen. Ich würde eine Grube graben, einen Bau bauen, ein Spiel spielen für noch bessere Beispiele halten. Man vergleiche, was ich (Krit. d. Sprache III 59 f.) über die Unwirklichkeit der Verben der Arbeit gelehrt habe. Da haben wir ja wieder das intentionale Objekt der Scholastiker, die Absicht, welche erst die unzähligen Differentiale einer Handlung integriert, je nach der Richtung der Aufmerksamkeit zu einem Objekt (Substantiv) oder zu einer Tätigkeit des Subjekts (Verbum). Die ewig tautologische Sprache ist willig, solche Sätze zu bilden: ich grabe eine Grube, ich sehe eine Farbe, und in diesen Abgrund hat Lichtenberg schon hineingeleuchtet mit einigen seiner blitzartigen Bemerkungen. »Was ist außen? Was sind Gegenstände praeter nos? Was will die Präposition praeter sagen? Es ist eine bloß menschliche Erfindung ... Äußere Gegenstände zu erkennen ist ein Widerspruch; es ist dem Menschen unmöglich, aus sich herauszugehen ... Man sollte sagen praeter nos, aber dem praeter substituieren wir die Präposition extra, die etwas ganz anderes ist ... Ist es nicht sonderbar, daß der Mensch absolut etwas zweimal haben will, wo er an einem genug hätte und notwendig genug haben muß, weil es von unseren Vorstellungen zu den Ursachen keine Brücke gibt?« Weiter braucht auch der Sprachkritiker nicht zu gehen. Die Sprache ist es, die die Welt in den Beobachter und in dessen Gegenstand zerfällt: in Dinge an und für sich und in Dinge für mich. Die Welt aber ist nicht zweimal da. Die Welt ist nur einmal da. Ich bin nichts, wenn ich nicht ein Gegenstand bin. Aber ich habe keinen Gegenstand. Der Gegenstand ist nichts, wenn er nicht in mir ist. Der Gegenstand ist nicht außer mir. Der Gegenstand, scheinbar das Handgreiflichste auf der Welt, ist mit Recht die Lehnübersetzung eines schwierigen philosophischen Begriffs, Gegenstand ist unbegriffen, das Objekt ist subjektiv. Mit sehr behaglichem Lächeln entdecke ich aber, daß der Sprachgebrauch der letzten 100 Jahre – ahnungslos freilich – die sprachkritische Resignation dieses Begriffes Gegenstand vorweggenommen hat. Für das Wesentliche, das dem forschenden Subjekt objektiv gegenübersteht, gegensteht, für das eigentliche ὑπο ϰειμενον oder die οὐσια, die essentia, hat man so lange eine Antwort gesucht, bis man hilflos die Antwort in dem Worte Frage fand. Schiller würde heute wohl gewiß anstatt der Menschheit große Gegenstände sagen der Menschheit große Fragen (zweimal im Prolog des Wallenstein). Schlegel würde den Satz »wahrhaft groß sein, heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen« (not to stir without great argument) heute etwa übersetzen müssen »nur dann sich regen, wenn eine große Frage ruft«. Und das D. W. kennt bereits diese Bedeutung von Frage. In Band IV 1,1 (noch von J. Grimm und Hildebrand bearbeitet) heißt es, unter Zitierung des berühmten That is the question: »Frage, das, worauf es ankommt, das Wesentliche«; und ferner bei den Zusammensetzungen wie Lebensfrage usw.: von Gegenständen, welche die allgemeine Aufmerksamkeit beschäftigen. Am Ende des mühsamen Weges finden wir, wie so oft, anstatt einer Antwort nur eine Frage. Hier gar anstatt einer Definition von Gegenstand das Wort Frage.

 


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