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Charakter

Charakterologie macht Ansätze dazu, eine Wissenschaft zu heißen. Eine ganz neue Disziplin, die nur selbst noch nicht weiß, ob sie sich als Individualpsychologie der Völkerpsychologie gegenüberstellen soll, oder als Typenpsychologie der Individualpsychologie. Noch ungünstiger scheint es für die neue Disziplin, daß ihr Gegenstand, der Charakter, keine Realität besitzt, daß also, wie die Psychologie ohne Psyche mit den alten Worten weiter arbeitet, auch die Charakterologie eine gleichberechtigte Wissenschaft werden will, uns aber niemals verraten wird, was denn Charakter eigentlich sei. Die äußere Wortgeschichte soll uns diesmal nicht aufhalten. Alle abendländischen Kultursprachen (nur die Slawen haben früher und später Lehnübersetzungen gemacht und einander entliehen) haben über das Lateinische hinweg das griech. Wort χαρακτηρ (das mit χαραξ, zugespitzter Pfahl, zusammenhängt) einfach übernommen, dazu den alten Bedeutungswandel: die Eingravierung (von χαρασσειν, zuspitzen, einkerben, einprägen), das Gepräge, das Kennzeichen, auch schon den charakteristischen (χαρακτηριστικος) Stil eines Schriftstellers; für die uns geläufige Bedeutung, die Summe der Wesenszüge eines Menschen, ist der Wandel in den romanischen Sprachen entscheidend geworden, wahrscheinlich durch die Theatersprache, in der frz.  caractère, ital.  carattere den Typus bezeichnete, in welchem nach uralter Praxis eine Rolle zu halten war. Die berühmten Caractères von la Bruyère, trotzdem sie eine Neubearbeitung eines griechischen Buches von des Aristoteles Schüler Theophrastos waren, schildern nur Typen oder Rollen, ich möchte sagen: Theaterfächer; haben aber die jetzige Bedeutung von Charakter sicherlich mit beeinflußt. Einen Seitenweg des romanischen Bedeutungswandels, der von dem noch jetzt geläufigen Sinne Letter, Buchstabe ausging und vielleicht parallel zu frz.  charme, ital.  incanto, deutsch: Zauber, das ursprünglich vielleicht die rot gefärbten Zauber buchstaben bedeutet haben kann, zu frz.  charoy führte (so meint Littré; Diez erwähnt die Möglichkeit einer Herkunft von caracter gar nicht), mag ich nicht betreten. Uns interessiert nur die moralische Bedeutung des Wortes. Die Charaktertypen des Theaters entwickelten sich sehr langsam zu den Individualitäten, die wir jetzt allein noch von Dramatikern und von Schauspielern dargestellt sehen mögen. Die Charaktere des vorbildlichen italienischen Theaters sind durch Jahrhunderte Masken gewesen, Theaterfiguren in traditioneller Tracht und mit starren, traditionellen Gesichtszügen, wie noch die Marionetten unseres Kasperltheaters. Molière, der vom Théâtre italien herkam, hat diese Kunstübung nur selten verlassen. Sein Geiziger hat eigentlich keinen Eigennamen; Harpagon ist einem lateinischen Schimpfworte des Plautus entlehnt (von ἁρπαξ, räuberisch), bedeutet wieder selbst einen geldgierigen Menschen. Wir empfinden es als eine erstaunliche Größe Shakespeares, daß er (nicht immer) die Typendarstellung des Theaters überwunden hat und mit genialer Zeichnung Individuen hinstellt. Und auf Shakespeare geht zurück und beruft sich die dramaturgische Tendenz unserer Zeit, lebendige Menschen auf die Bühne zu stellen, Individuen. Nur daß wir, besonders seit Otto Ludwig, diese Individualisierung der Zeichnung gern Charakterisierung nennen: wir verlangen auf der Bühne Individuen zu sehen, anstatt der alten stereotypen Masken, die Charaktere hießen, aber wir nennen das neue Drama, weil es auf die alten caratteri verzichtet, Charakterdrama. Dieser Bedeutungswandel auf dem kleinen Gebiete des Theaters ist nun nicht ohne jeden Zusammenhang mit der Entwicklung der Philosophie. Wir glauben längst nicht mehr an die Herrschaft der Begriffe über die Einzeldinge, an die Realität der Universalien. Als in der Philosophie die Überzeugung durchdrang, daß ein Individuum nicht auf geheimnisvolle Weise von dem Gattungsbegriffe abhänge, da lag es sehr nahe, in der praktischen Philosophie anzuerkennen: der Mensch handelt nicht nach dem Charakter seiner näheren oder weiteren Gattung, er handelt vielmehr nach seinem individuellen Charakter. Nach seinem empirischen Charakter, sagte Kant, um den Typus-Charakter, den intelligibeln Charakter des freien und guten Menschen zu retten. Die Untersuchung des Begriffs führt mich immer wieder zu den Dramatikern zurück; so ist es kein Zufall, daß die hier geübte Kritik an den Worten Charakter, Individualität, Persönlichkeit zeitlich auf die neueste Wandlung der Theatertechnik folgt, auf Ibsens Dramaturgie, die die alten Theaterfächer nicht mehr kennt und an die alte Psychologie nicht mehr glauben läßt. Sieht man genauer zu, so ist der Charakterbegriff auf ganz anderem Gebiete schon von der Mode des Darwinismus ausgetilgt worden, der vor 50 Jahren die charakteristischen Merkmale der Arten und damit den Artbegriff aufzuheben suchte. Ich brauche nur an den ewigen Streit über den erworbenen und den angeborenen (Lehnübersetzung von aquisitus und congenitalis, ital.  congenito, frz.  inné) Charakter zu erinnern, um auf die Bedeutung des Darwinismus für unseren Begriff hinzuweisen; gibt es nämlich eine Vererbung erworbener Eigenschaften, was Darwin lehrte und erst Weismann leugnete, so gibt es nur noch erworbene Eigenschaften oder Merkmale, so gibt es keine echten Arten mehr. Die Arten sind nur noch Menschenworte, Erkenntnis- oder Klassifikationshilfen, nicht reale Unterscheidungsadjektive. Und ebenso steht es um die Charaktere, wenn man darunter, wie gewöhnlich, die (man merke die Worte) eigentümliche Natur handelnder Wesen versteht. Man blicke nach dieser glatten Definition auf den eben beschriebenen Bedeutungswandel zurück. Neu ist, wie gesagt, die Einschränkung auf handelnde Wesen, auf menschliche Charaktere; bei den Alten war Charakter das unterscheidende Merkmal überhaupt, unterscheidend aber doch nur für das menschliche Unterscheidungsvermögen, für das menschliche Denken oder das Sprachbedürfnis. Die Natur oder die Wirklichkeit kennt solche Charaktere oder unterscheidende Merkmale nicht; denn die Natur oder die Wirklichkeit schafft die Zeichnung der Schmetterlingsflügel, sieht sie aber nicht, läßt sie höchstens von Intelligenzen sehen. Die gegebene Definition ist darum auch nach guter logischer Sitte eine Häufung von Tautologien: eigentümlich, Natur und Wesen sagt im Grunde genau dasselbe aus: was uns an einer Erscheinung als besonders wichtig auffällt. An dem, was uns aufgefallen ist, was wir daran gesehen haben oder wissen, erkennen wir die Dinge wieder, belebte und unbelebte, an ihren charakteristischen Merkmalen; aber nur Kinder halten noch das Merkmal für den Realgrund des Dinges: die Zeichnung des Flügels für den Realgrund des Schmetterlinges, es wäre denn, daß z. B. das Atomgewicht des Goldes wirklich der Realgrund seiner übrigen Merkmale wäre. Ganz kindlich aber will man die neue Wissenschaft der Charakterologie darauf aufbauen, daß bei handelnden Menschen der sog. Charakter der Realgrund ihrer Lebensäußerungen sei, obgleich schon die Schrift sagt: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Nicht: an ihrem Charakter, an einem Merkmal sollt ihr sie erkennen. Leider hat auch die Schrift nur eine Tautologie gesagt: den handelnden Menschen sollt ihr aus seinen Handlungen erkennen. Der Charakter ist keine Realität und kann darum kein Realgrund sein. Ist nur ein Erkenntnisgrund, eigentlich eine Erkenntnishilfe für den menschlichen Ordnungssinn. Das haben Ribot und Simmel wohl gemeint; Ribot, da er den Charakter mit einer Resultierenden verglich, Simmel, da er sagte: »Das einzige, was gegeben ist, sind die einzelnen Handlungen des Menschen; gewisse innere oder in den Beziehungen zu anderen sich herausstellende Eigenschaften derselben fassen wir zu dem Begriffe des Charakters dieses Menschen zusammen; allein das ist ein allgemeiner Begriff, gezogen aus der Summe seiner Lebenselemente, aber nicht die hervorbringende Ursache dieser.« (Einleit. in d. Moralwiss. I, 268.) Ist der Begriff Charakter dergestalt atomisiert und also der neuen Wissenschaft der Charakterologie ihr Gegenstand entzogen, so muß ich doch wieder die eigene Macht der Worte anerkennen und zugeben, daß der Begriff Charakter, so schlecht er zu definieren ist, doch in seiner unklaren Metaphorik auf das menschliche Handeln einwirkt. Aber, so seltsam es klingen mag, nicht der individuelle Charakter, der keine Realität hat, ist der Realgrund manches bewußten individuellen Handelns, sondern vielmehr der Wortaberglaube an die Wirklichkeit des Charakters und an seine Unveränderlichkeit. Das hat die Sprache zuwege gebracht, indem sie die individuelle Gewohnheit oder Anlage, Entschlüsse in einer bestimmten Tendenz zu fassen, mit dem Gefühlstone von etwas Löblichem versah, so daß am Ende das Urteil »dieser Mensch hat Charakter«, d. h. »seine Handlungen haben ein Merkmal« zu einem Werturteile wurde, zu einem Lobe. Nur ein gemeiner Lump ist charakterlos. Ein verbrecherischer Schuft kann Charakter haben. Und so bildet sich beim erwachsenen Menschen, bewußt oder unbewußt, der Lebensstil heraus, in dem wirren Komplexe seiner Neigungen und Anlagen einige zu unterdrücken, andere hervorzuheben, seiner Persönlichkeit (vgl. Art.  Persönlichkeit) mehr und mehr den Charakter einer Rolle zu geben oder die Rolle eines Charakters vorzuschreiben. Auch bei handelnden Menschen ersten Ranges fehlt dieser künstlerische Hang, die eigene Nase zu formen, fast niemals völlig (Napoleon, Bismarck). Und so hat ein Wort, dessen landläufige Bedeutung uns in der Theatersprache geprägt worden ist, dazu beigetragen, Männer, die Besseres zu tun hatten, ein bißchen schauspielern zu lassen. A posse ad esse valet consequentia, in der Welt des Handelns. Die Herkunft aus dem Theaterjargon scheint sich auch darin zu verraten, daß ein grübelnder Dichter und halber Philosoph, Hebbel, der gegenwärtig für den Schöpfer des Charakterdramas gilt, in den unzähligen Bemerkungen seiner Tagebücher, die den Charakter betreffen, fast jedesmal nach der Technik des Dramatikers oder des Novellisten hinüberschielt. Hebbel, der, auch da ein Vorläufer Ibsens, die alten Rollenfächer zerschlug und komplexe Menschen anstatt der alten Typen darstellen wollte. »Eigensinn ist das wohlfeilste Surrogat für Charakter.« (Nr. 1074.) »Daß poetische Charaktere zugleich individuell und allgemein sein sollen: was ist's denn weiter, als die Aufgabe, die die Natur alle Tage und in jedem Menschen löst.« (2260.) »Falstaff ist ein komischer Charakter. Warum? Weil er ein Bewußtsein seiner Unabhängigkeit von den Natureinflüssen hat, denen er sich hingibt.« (2730.) »Jeder Charakter ist ein Irrtum.« (4717.) »Dein Charakter ist das Wort, das du der ganzen Welt gibst. Wirst du also deinem Charakter ungetreu, so brichst du der ganzen Welt dein Wort.« (5225.) Aber auch: »Es stählt den Charakter mehr jemand totzuschlagen, als ihm die Hühneraugen zu schneiden.« (6329.) Sublimes und schwitzender Witz durcheinander. Bei Gelegenheit eines Sehnsuchtsseufzers nach guten Shakespeare-Studien (2414, aus dem Jahre 1841): »Im dramatischen Katechismus, wie ihn die kritischen Jungen auswendig lernen, stehen bis auf den heutigen Tag Artikel, die zu vertilgen ein größeres Verdienst sein möchte, als neue Dramen zu schaffen. Welche Dummheiten z. B. werden fortwährend über Charaktere, über ihre Treue, ihre Übereinstimmung mit der Geschichte usw. abgeleiert.« Aber »der nächste Nachbar des echten Dichters« (das von Hebbel auf Lessing geprägte Wort paßt auf Hebbel selbst noch besser als auf Lessing) war doch Menschenkenner genug, um, was eben von der Macht des Wortes Charakter gesagt ist, auf Werturteile überhaupt auszudehnen: »wie groß die Macht der Worte ist, wird selten recht bedacht. Ich bin überzeugt, ein Mensch kann dadurch schlecht werden, daß man ihn schlecht nennt. Und wie viele mögen sich nur deswegen auf dem rechten Pfade erhalten, weil die ganze Welt sagt, daß sie ihn wandeln. Ein Verdammungsgrund mehr gegen die Verleumdung.« (997.) So gelangt Hebbel durch seine dramaturgischen Grübeleien zu der gleichen Auffassung von der Macht der Worte, wie ich durch meine sprachkritischen Grübeleien. Ich glaube fast, der individuelle Charakter ist ein Mittel der öffentlichen Meinung, das Individuum nach ihrem dummen Willen zu lenken; wie der verliehene Charakter ein Mittel ist, Charaktere zu brechen; frei ist nur, wem diese beiden Charaktere gleichgültig sind, der den Galeotto in beiderlei Gestalt verachtet. Unter Verleihung eines Charakters versteht man etwa die Gnadenäußerung des Fürsten, der einem Beamten einen leeren Titel ohne dazu gehöriges Amt verleiht. Wenn z. B. einem Lehrer der Charakter eines Professors verliehen wird, d. h. ihm ausdrücklich erlaubt wird, eine Rolle zu spielen, eine Maske zu tragen, so mag man an die Herkunft des Wortes Charakter aus der Komödie erinnert werden. Aber auch der Ersatz des Wortes durch das beliebte Persönlichkeit mahnt wieder, wenn auch anders, an die Theaterwelt; man weiß, daß persona (Etymologie und Geschichte des Wortes unter dem Art.  Persönlichkeit) ursprünglich eine Theatermaske bezeichnete, dann genau das, was der frz. Theaterausdruck caractère besagen wollte. Es wird der neuen Charakterologie schwer fallen, das vieldeutige Wort zum festen Mittelpunkte einer moralischen Gedankenwelt zu machen. Sie mag ja mit scheinbarem Radikalismus darauf ausgehen, die alte kategorische Moral dadurch zu ersetzen, daß sie den Sollbegriff ausschaltet und das Handeln des Menschen von seinem Charakter allein bestimmt sein läßt. Sehr schön. Individualismus. Der Mensch handle, wie er will, wenn er nur die Nase seines Charakters im Gesichte behält; doch in diesem wenn er nur scheint mir der alte Sollbegriff wieder versteckt zu sein: der Mensch soll gar nichts mehr, nur Charakter soll er haben. Eine Individualität soll er sein, eine Persönlichkeit. Ist er's nicht, so wird er getadelt; wie er früher getadelt worden ist, wenn er sich von persönlichen Motiven leiten ließ.

 


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