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Drittes Kapitel.
Das erlösende Wort

Von den Vangionen erwarteten einige, Theodor werde zur Abendkneipe kommen und interessante Geschichten von englischen Prinzessinnen und Dukes auftischen. Die meisten schenkten indes der Combination des Kalbledernen keinen Glauben, sondern erwarteten eher, ihr Corpsbruder werde mit einer reichen Erbin renommiren, welcher er den Hof mache. Auch Luigi Mallatini dachte etwas, als er nämlich Theo in der Gesellschaft des Earls und der Damen an sich vorbeifahren sah: wenn er nur den zehnten Theil des Geldes hätte, das der reiche Hamburger an einem Tage verputzen konnte! Doch wozu? Funicoli, funicola! Andiamo!

Theo hatte wirklich ganz unberechenbare Launen! Kehrt er da heiter und aufgeräumt von der Ausfahrt zurück, soupirt als Gast des Earls im »Prinzen Karl«, ist so gesprächig und liebenswürdig, daß Dr. von Sechow seinen eigenen Augen und Ohren kaum traut – und benimmt sich dann wie ein halbcivilisirter Türke.

Nach dem Essen fragt ihn nämlich die Counteß: »Dürfen wir Sie morgen um Ihre Führung bitten, wenn wir uns Heidelberg ansehen?«

Und was antwortet der Barbar? – »Mylady, ich bedaure, morgen in aller Frühe auf einen Tag nach Speier abreisen zu müssen. Uebermorgen stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

Sechow ist sprachlos, hält aber an sich. Gegen 10 Uhr bricht er mit Theo auf, um ihn noch auf seine Bude zu begleiten. Unterwegs liest er ihm die Leviten.

Theo hört ihm eine volle Viertelstunde zu und sagt dann bloß: »Gehen Sie morgen früh mit nach Speier? Der Zug fährt vor sechs.«

»Theo! Haben Sie gehört, was ich Ihnen soeben vorgepredigt habe?«

»Freilich.«

»Und Sie wollen die schöne Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lassen?«

»Welche schöne Gelegenheit?«

»Sie sehen doch, daß Sie der Miß nicht gleichgiltig sind.«

»Freilich. Deshalb will ich 48 Stunden nicht an sie denken.«

»Was ist denn das für eine neue Albernheit?«

»Ich bin bange, daß irgend ein unüberlegtes Gefühl mit meinem Verstände durchgeht. Deshalb bin ich auf der Hut. Wer dem Feuer zu nahe kommt, muß sich nicht wundern, wenn ihm heiß wird. Ich bin lieber vorsichtig und halte mir den Kopf kühl.«

»Einen chronischen Stockschnupfen verdienen Sie – – Sie Stockfisch!«

»Warum soll ich denn absolut auf den Leim gehen, Doctor?«

»Sie wittern doch überall eine Falle.«

»Thu' ich auch. Nachher, wenn inan drin sitzt, ist's zu spät.«

»Soll ich Ihnen mal was sagen, Theo? Sie interessiren sich auch für die Miß; Sie …«

»Was gibt Ihnen einen Anhalt zu dieser Behauptung?« brauste Theo auf.

»Gerade Ihre Vorsicht. Wenn Sie wirklich so kalt wären, wie Sie vorgeben, könnten Sie mit der Miß ja ruhig 12 Stunden durch Heidelberg und Umgebung spazieren …«

»Ich …

»Sie sind aber im Begriff, Ihr eigenes Herz zu entdecken.«

»Hab' ich Ihnen nicht gesagt, wie wenig ich den Weibern traue?«

»Das haben Sie. Vertrauen müssen Sie sich noch zulegen, aber verguckt haben Sie sich schon.«

»Sagen Sie und denken Sie, was Sie wollen: ich fahre morgen früh nach Speier.«

»Ganz gut; dann begleite ich den Earl und seine Familie.«

»Meinetwegen,« sagte Theo ohne jeden Anflug von Eifersucht; »merken Sie sich, Doctor, daß ich nicht ans Heiraten denke. Ich verstelle mich vor Ihnen nicht. Ich fühle, daß ich die Miß nicht liebe, und will vermeiden, daß ich es mir einbilde bloß um der thörichten Meinung willen, daß jeder junge Mann verliebt sein muß. Mein Gefühlsleben ist schon todt. Einen Freund habe ich gehabt, als ich selbst noch ein Knabe war – dem gehörte mein Herz. Sie werden sagen: Freundschaft und Liebe sind zwei ganz verschiedene Dinge …«

»Ja, das behaupte ich.«

»Und Sie haben recht. Ich bin aber mit der Freundschaft glücklich gewesen, und was das andere ist, verstehe ich nicht.«

Sechow merkte, daß Theo es ernst meinte. Mittlerweile standen sie vor ihrer Wohnung. Der Student schloß die Hausthüre auf, welche ein Porzellanschildchen trug: »Adam Möppel, Tapezier und Decorateur.« Im Flur stand eine brennende Lampe bereit. Theo leuchtete mit derselben voran und führte Sechow in ein elegant möblirtes Parterrezimmer. Die Fenster und eine Thüre, die auf einen Balkon ging, waren offen. Das Haus lag an der Neuenheimer Seite des Neckars. Ruhig zog der Fluß mit seinen silberglänzenden Wellen vorbei, und jenseits, hoch über der Stadt, thronte das romantische Schloß inmitten des schwarzen Waldes, selbst vom Mondlicht übergossen, welches dem röthlichen Gestein einen eigenartigen Glanz verlieh.

»Machen Sie sich's bequem, Doctor. Ich braue uns einen Punsch, eine ›Welle‹, wie wir auf Helgoland sagten.«

»Darf ich mich in Ihrer Bude etwas umsehen?«

»Gern, wenn Sie die Unordnung nicht stört. Da ist ein Brief gekommen, den mir meine Wirtin hingelegt hat. Die Handschrift meiner Mutter. Nun schauen Sie doch den Mumpitz, Doctor: ›Seiner Hochwohlgeboren Herrn stud. iur. Theodor Freiherrn von Göhring‹. Und hinten schon eine Krone – na ja, die sieben Zacken, von denen Onkel Senator sprach. Hochwohlgeboren! dummes Zeug – im zweiten Stock der Angelsächsischen Bank zu Hamburg bin ich auf ganz gewöhnliche Weise zur Welt gekommen …«

»Nun, lassen Sie den Frauen ein bißchen Eitelkeit!«

»Gerade die Eitelkeit der Frauen ist unser Verhängniß. Davon könnte meine Schwester Mathilde ein Kapitel erzählen. Doch schauen Sie – da ist mein Schlafzimmer, und hier die Tapetenthür führt in mein Heiligthum. Sie dürfen hinein als der erste Besucher, dem ich es zeige. Meine Corpsbrüder überfallen mich oft, aber von diesem Gemache wissen sie nichts. So habe ich wenigstens einen Ort, wo ich allein meinen Gedanken nachhängen kann.«

»Das ist also das Allerheiligste des Weltschmerzes?«

»Wenn Sie spotten, zeige ich Ihnen nichts.«

»Ich bin ganz artig, Theo.«

Theo öffnete und ließ seinen Besuch eintreten. Ueberrascht blieb Sechow auf der Schwelle stehen: das kleine, niedrige Gemach war ganz wie eine Schiffskabine eingerichtet. In der Mitte stand unter der Hängelampe ein einfacher Holztisch. Die Wände waren von Pappe und als Kajütenseiten ausgemalt. Au einer Wand befand sich der Bücherbord mit einigen Bänden und Journalen. Sogar ein Fernrohr lag obenauf. Ueber diesem Gestell ein kunstvoll geschnitztes Segelschiff mit Namen: »Theodor und Hans, Helgoland.« In einer Ecke hingen Seemannskleider, in einer andern lag ein Fischernetz. Ein halbes Dutzend Aquarelle, alles Marinestücke, schmückten die Wandflächen.

Der Student gab dem erstaunten Doctor einen Holzstuhl. Dann schloß er die Thüre nach seinem Schlafzimmer, machte Licht und zündete eine Spiritusmaschine an, um Wasser zu kochen. Die Dogge lag unter dem Tische; dort schien ihr gewöhnlicher Platz zu sein.

Stumm beobachtete Sechow seinen jungen Freund. Derselbe warf seinen Stürmer und das Burschenband von sich, holte Rum, Eier und Zucker aus einem Kasten unter dem Büchergestell, zog dann einen zweiten Stuhl an den Tisch und setzte sich dem Doctor gegenüber. Während das Wasser anfing zu summen, konnte man wirklich meinen, in der Kajüte eines Segelschiffes zu sitzen.

»Nun,« fragte Theo nach einer Weile, »wie finden Sie es hier an Bord?«

»Die Illusion ist fast vollständig. Wer hat denn die Bilder gemalt?«

»Ich.«

»Sind Sie denn auch Maler?«

»Weiß nicht. Mallatini sagt, sie seien nicht übel.«

»Ist er hier drinnen gewesen?«

»Nein, nur die Aquarelle hat er gesehen.«

»Und wer hat die ganze Decoration fertig gestellt?«

»Ich.«

»Hm! – Und das Schiff da drüben?«

»Ist noch ein Geschenk von Hans.«

»Und was machen Sie hier gewöhnlich?«

»Dichte, denke, lese – kurz, hier bin ich weder Corpsier noch Baron noch der protzige Geck, sondern Mensch.«

»Hm, Romantiker, trotz Ihres Hartmann.«

»Ich lebe der Erinnerung.«

»Was ich davon halte, will ich Ihnen später sagen. Jedenfalls sind Sie ein stilvolles Unicum, Theo. Nun, Sie wissen, ich meine es gut mit Ihnen. Sie dürfen sich heute Abend einmal ganz aussprechen – Sie haben es nöthig.«

Theo sah nach dem Grog und kam erst wieder an den Tisch, als er zwei Gläser gefüllt hatte. Sechow begann, nachdem er langsam gekostet: »Sie schrieben mir damals von Hans, lieber Theo. Wollen Sie mir nicht mal die ganze Geschichte genau erzählen?«

»Einmal muß es geschehen, denn Sie haben ein Recht darauf. Hören Sie also! Sie erinnern sich, daß wir seiner Zeit plötzlich von Helgoland abreisten …«

»Auf die Nachricht vom Tode Ihres Schwagers Stormarn.«

»Ganz recht. Die mysteriöse Geschichte sollen Sie später erfahren. Zuerst von Hans. Ich hatte vor, in den Michaelisferien wieder nach Helgoland zu gehen, mußte aber von meinem Plane abstehen, da ich nach Papas Willen absolut bei der Verlobung meiner Cousine Olga Göhring mit Georg Brewer zugegen sein sollte.«

»Ist das ein Sohn von Albrecht Brewer und Georgine?«

»Jawohl. Nach der Verlobung mußte ich stramm studiren, um mich für das Abiturientenexamen vorzubereiten. Ich correspondirte inzwischen mit Hans und hoffte, ihn Weihnachten einige Tage in Hamburg zu haben, da er Anfang December mit Sir Terence die Insel verlassen sollte. Der Gouverneur wollte das Fest in Hamburg feiern und dann, wenn ich nicht irre, an die Riviera gehen.«

»So hatte Hans die Stelle schon angenommen?«

»Noch nicht. Er schrieb, er werde es thun, wenn ich ihm dazu rathe. Nun hören Sie weiter. In den ersten Tagen des December kommt ein Brief von ihm, er könne die gedachte Stelle nicht annehmen, da er plötzlich krank geworden sei und das Bett hüten müsse. Kurze Zeit darauf schreibt mir ein anderer Helgoländer: ›Hans hat die Schwindsucht, und sein Zustand ist bedenklich. Kommen Sie, wenn Sie können.‹ Nun war damals gerade das Mittel von Professor Koch entdeckt. Alle Welt glaubte an die Vernichtung der Tuberculose durch die Wissenschaft. Ich bat meinen Papa, in den Weihnachtsferien nach Helgoland fahren zu dürfen, um meinen Freund zu holen und ihn zu Koch nach Berlin oder wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus zu bringen. Papa lehnte es ab mit den Worten: ›Ich habe für andere Leute zu sorgen als für solche Schifferjungen.‹ Ich stellte ihm vor, daß Hans mein Lebensretter sei. ›Dafür habe man ihm jahrelang Unterstützung gewährt.‹ Ich flehte und jammerte, zumal ich vernahm, daß der Kranke selbst von dem Tuberculin gehört hatte und etwas davon hoffte. Aber es half nichts. Mir wurde sogar streng verboten, nach Helgoland zu reisen. ›Der Theo‹, erklärte mein Vater einmal, ›hat einen entschiedenen Zug nach unten.‹ Wahrscheinlich dachte man damals schon an den reußischen Freiherrn. Nun gut. Was konnte ich thun? Ich sandte alle Ersparnisse von meinem Taschengelde nach Helgoland, schrieb an den dortigen Arzt, er solle sehen, sich das Heilserum zu verschaffen, und auch sonst alles für Hans thun, was sein Zustand erfordere. Hans selbst war beständig im Bette und mußte feine Briefe dictiren. Ende Februar erhielt ich noch einige Zeilen von seiner Hand, mit Bleistift geschrieben: ›Mein Bruder Theo! Bald wird der liebe Gott mich von meinem Leiden erlösen. Wirst Du noch kommen, um Abschied von mir zu nehmen? Sonst habe Dank für Deine Liebe und Freundschaft! Einmal wirst Du mir folgen: Bruder, den mir Gott gegeben, geh mit mir ins ewige Leben. Aber Gott schütze Dich und gebe Dir Glück und Freude, bis Du auch so weit bist. Jetzt und immer Dein Bruder Hans.‹ Sie sehen, Doctor, ich kann die Worte auswendig. Ich hatte einen furchtbaren Auftritt mit Papa, weil ich durchaus an das Krankenbett des Freundes eilen wollte. Aber mein Examen drängte, und Papa wollte von der ›weinerlichen Geschichte‹ nichts mehr hören. Ich vergaß sogar die meinem Vater geschuldete kindliche Ehrfurcht, und es kam zu Auseinandersetzungen, deren ich mich jetzt schäme, die aber wegen meiner damaligen Verzweiflung entschuldbar – oder doch erklärlich sind. Zwei Monate wurde sogar mein Taschengeld suspendirt, so daß ich nichts, rein gar nichts für den sterbenden Freund zu thun vermochte. Endlich, Anfang April, kam die Katastrophe. Lassen Sie mich den Schluß ganz kurz erzählen, Doctor! Ein Telegramm, das die Anzeige von Hans' Tode enthielt, fiel Papa in die Hände und wurde mir gar nicht mitgetheilt. Warum nicht, ist mir nicht ganz klar – vermuthlich, weil mein Examen gerade vor der Thüre stand. Trotz meiner Aufregung kam ich glänzend durch. Zwei Tage später kommt ein Brief von Hans' Schwester, den Papa nicht erwischt. Hans liegt bereits unter dem kühlen Rasen. Nachdem er den Blutsturz bekommen, sind seine letzten Worte: ›O wenn Theo das wüßte! Er wäre gewiß bei mir.‹ In den Armen der Schwester stirbt er. Wie gesagt – das Begräbniß, alles ist vorbei, als die Kunde mich erreicht. O Doctor, es ist furchtbar! Warum hat mir das Schicksal den Freund genommen? warum unter solchen Umständen? O daß ich leben muß!«

Theos Haupt sank auf den Tisch, und seine Thränen flossen reichlich. Sechow ließ ihn ruhig sich ausweinen und legte nach einer Weile die Hand auf die Schulter des schluchzenden jungen Mannes: »Ich danke Ihnen für den Bericht, Theo. Glauben Sie mir, ich verstehe Sie. Ihrer Thränen brauchen Sie sich nicht zu schämen; denn auch dem Manne steht es wohl an, wenn er zeigt, daß Treue in seinem Herzen wohnt und daß die Liebe stärker ist als der Tod. Wollen Sie mir nun erlauben, daß ich Ihnen ganz offen sage, was ich von diesen Fügungen denke? Wollen Sie versichert sein, daß ich Ihnen in keiner Weise wehe thun möchte, auch wenn ich aufrichtig, sehr aufrichtig spreche?«

»Reden Sie, Doctor!« erwiderte Theo, indem er den Kopf wieder hob und seine traurigen, feuchten Augen auf Sechow richtete. »Ich weiß, daß Sie es ehrlich meinen.«

»Ihr liebster Freund ist Ihnen genommen, und Sie hoffen ihm dereinst in einem bessern Leben wieder zu begegnen. Sie sind ein Mann, Theo, und müssen sich in das Unabänderliche fügen. Sie sollen Hans nicht vergessen, aber Ihren Schmerz veredeln, ihn fruchtbar machen. Sie sehen mich erstaunt an? Gut, ich will mich deutlich erklären. Lassen Sie mich, ehe Sie mir antworten, alles sagen, was ich auf dem Herzen habe. Zunächst haben Sie in Ihrem reifern Knabenalter ein Glück genossen, das in der modernen Welt nicht gar vielen zu theil wird. Sie schlossen mit Ihrem jungen Lebensretter eine reine, ideale, starkmüthige Freundschaft, die Sie geradezu als etwas Heiliges betrachteten. Nicht wahr, diese Freundschaft hat Sie davor bewahrt, früh an jenen niedrigen sinnlichen Genüssen, jenen materiellen Interessen, jenen Excessen, Liebeleien – ja, lassen Sie es mich sagen – jenen Ausschweifungen Vergnügen zu finden, die unter der Jugend, besonders der reichen Jugend Ihrer Vaterstadt oft schon im Knabenalter zur Tagesordnung gehören? Ich weiß von Ihrem Vater, daß Sie gern und fleißig studirten. Ob Sie, der Sie einer religiös liberalen Familie angehören, ohne Hans Ihre Ideale hätten bewahren können, scheint mir höchst fraglich. Ich sehe es geradezu als eine Fügung der Vorsehung an, daß Sie diese Freundschaft schließen durften. Sonst hätte Ihre frühreife, klare Erkenntniß der gesellschaftlichen Eitelkeit und Thorheit dazu dienen können. Sie entweder zu einem geldstolzen, nur auf Reichthum und Genüsse bedachten Materialisten zu machen, oder Sie thatsächlich der Menschheit zu entfremden, während Sie sich jetzt nur einbilden, Pessimist zu sein. Jawohl, hören Sie nur weiter, Theo! Als Freund eines armen, aber intelligenten und sittenreinen Knaben oder Jünglings hatten Sie das Glück, Kämpfe für Ihre Ueberzeugung und die Wahrheit zu bestehen. Da Sie von Religion nicht viel hörten, war es noch das beste, daß Sie denen gegenüber, die von Hans nichts wissen wollten, für eine edle Freundschaft mit Herz und Hand einzustehen hatten. Daß auch eine Portion Romantik mit hineinspielte, die für den Geschmack mancher ein wenig zu weit ging, ist ganz heilsam gewesen – eben weil Sie sonst ein echter, rechter Hamburger Materialist geworden wären, der alle finanziellen, socialen, culinarischen Anstrengungen befördert und zugleich verachtet – verachtet, wenn er ein heller Kopf ist wie Sie. Also in Summa, lieber Freund: Hans war nicht nur Ihr Lebensretter – er ist auch für Sie ein Leitstern des Idealismus gewesen. Es war gut, daß er arm war; gut, daß er klug und doch auch ein Romantiker war, sonst hätte er Sie als gebildeten Menschen nicht fesseln können. Das schönste an ihm war, daß die Sittsamkeit ihm aus den Augen und von der Stirne leuchtete. Hoffen wir, daß der gute und schöne Jüngling bei Gott weilt. Es ist kein Grund zum Weinen, Theo – betrachten Sie den Verstorbenen als ein liebes Vorbild. Wenn Stunden kommen, in denen der niedere Mensch den höhern knechten möchte, dann rufen Sie sich das lichte Bild des Freundes ins Gedächtniß zurück! Es ist gut, daß Gott ihn hinwegnahm, daß er ihn in seiner Jünglingsunschuld hinwegnahm; denn – Sie mögen es mir glauben oder nicht – Ihre Freundschaft hätte, sobald Sie ins Leben traten, entweder vergehen müssen, oder sie wäre nicht das geblieben, was sie bis zu Hans' Tode war. Ich sah mit Furcht und Zittern voraus, was kommen würde. Ich kenne die Welt und das Leben. Es ist Ihre Pflicht, Gott zu danken, daß er die Lösung in die Hände genommen hat. Wie wunderbar die Vorsehung uns Menschen leitet, dafür will ich Ihnen später noch einen Beleg aus meinem eigenen Leben bringen. Sie werden erstaunt sein. Heute aber nur von Hans! Reißen Sie sich jetzt aus Ihren fruchtlosen, Ihren Willen lähmenden Grübeleien heraus! Jawohl, lieber Freund! Sie handeln jetzt nicht im Sinne Ihres Freundes Hans, und das will ich Ihnen beweisen; dann ist meine lange Predigt auch zu Ende.

»Am Nachmittage jenes Tages, an dem Sie abgereist waren von Helgoland, ging ich allein auf dem Oberlande spazieren. Nicht weit von der Nordspitze, ungefähr wo die schmale Stelle hinter der sogen. Sapskuhle ist, traf ich Hans. ›Nun,‹ fragte ich, ›find Sie traurig, daß Theo fort ist?‹ – ›Ja, Herr Doctor,‹ sagte der Jüngling, ›denn ich glaube, wir sehen uns nicht wieder. Aber‹ – nun hören Sie, Theo! – ›aber ich bitte den lieben Gott, daß Theo ein glücklicher und berühmter Mann werden möge, auf den alle stolz sind, die ihn kennen.‹ Damit ging er still weiter. Nun? Da strahlen Ihre Augen unter Thränen, Theo! Habe ich das Pflästerchen gefunden? Wollen Sie dem Doctor Lexikon – nein, wollen Sie dem Andenken Ihres Freundes zulieb von jetzt an einmal nachdenken, ob Sie bisher den rechten Weg gegangen sind? und ob Sie vielleicht in Zukunft manches anders anpacken wollen? Nun?«

Theo saß schon lange nicht mehr. Während der letzten Worte Sechows hatte er von einem verdeckten Bilde, das der Doctor vorher nicht bemerkt, das schwarze Tuch abgenommen. Nun stellte er das Aquarell auf den Tisch. Es war ein sonderbares Sujet: zwei Jünglinge – Sechow erkannte sie sofort – saßen auf einer von den Wogen umschäumten Klippe, wie auf einem Felsenthron. Sie hielten sich umfaßt und schauten hinaus auf die See. Fern am Horizonte ging die Sonne blutigroth unter und warf ihre Purpurstrahlen über das mäßig bewegte Meer.

Unter dem Bilde standen die Worte:

»Zwei Prinzen aus der Träume Reich,
So lieb einander und so gleich!«

Sechow schaute Theodor fragend an, nachdem er die Scene stumm betrachtet hatte. Der Student sagte lächelnd: »Der Märchenzauber ist dahin, Doctor. Sie haben ihn zerstört, oder vielmehr, Sie haben ihn richtig gelöst, fürs Leben gedeutet. Ich danke Ihnen, mein wahrer, aufrichtiger Freund! Nun kommen Sie, wir wollen in mein Wohnzimmer gehen – oder lieber uns auf den Balkon setzen.«

»Gut, Theo. Sie sind ein Mann. Sie haben mir nichts zu danken. Aber sagen Sie, haben Sie das Bild auch gemacht?«

»Jawohl.«

»Hören Sie, ich zweifle doch, ob Sie zum Juristen bestimmt sind. Vielleicht steckt ein Dichter oder Maler in Ihnen.«

Theo fiel dem Doctor um den Hals: »Der Gedanke geht mir schon fast zwei Jahre im Kopfe herum! Sie sprechen ihn aus wie ein erlösendes Wort. Freilich deutete mir schon Mallatini an, ich sollte umsatteln, da ich sicher Talent und Beobachtungsgabe besitze …«

»Hab' ich mir lange gedacht, daß Ihr Charakter nicht für das Studium der Pandekten, der Proceßordnungen und des Criminalrechts paßt. Aber das muß ruhig überlegt werden.«

»Kommen Sie auf meinen Balkon. Der Grog ist kalt und schal geworden. Ich habe ein paar Flaschen Markgräfler liegen. Oder sind Sie müde?«

»Nicht ein bißchen, Theo. Und wenn Sie erlauben, erzähle ich Ihnen auch etwas aus meinem Leben, um den Bericht zu vervollständigen, den ich Ihnen bei unserer ersten intimeren Unterhaltung auf Helgoland gab. Vertrauen verdient Vertrauen.«

»Gut! Komm, Buddha, wach auf!«



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