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Siebentes Kapitel.
Der Meergreis

Das eigentliche Dünenfrühstück war vorüber. Da schlug der Seebär vor, draußen in den Sandhügeln eine windgeschützte Kuhle aufzusuchen und dort mit der ganzen Gesellschaft noch eine Stunde in zwangloser Geselligkeit zuzubringen. Unter allgemeinem Beifall brach man aus dem Pavillon auf; der Lagerplatz war schnell gefunden und wurde von den Herren mit Decken und Shawls gemüthlich hergerichtet. Auch die Champagnerkübel folgten nach. So herrschte in der von hohen Sandhügeln und Dünenhasen geschützten Mulde bald eine höchst animirte Stimmung.

Im geeigneten Augenblicke erschien plötzlich der Referendar Kerkenhusen, der noch im Pavillon zurückgeblieben war, und bat die Herrschaften um einige Minuten Silentium. »Ich bin in der angenehmen Lage, den verehrten Damen und Herren einen Meergreis vorstellen zu können …«

»Einen Meergreis? was ist das? wer? wen?« tönte es durcheinander.

Nur der Generalkonsul sagte zu Director Göhring: »Der Doctor hat etwas in petto. Er gibt sich gern zu so etwas her. Ich wußte es.«

»Ja,« fuhr Kerkenhusen mit lauter Stimme fort, »einen Meergreis. Heute früh beim Baden wurde ich Plötzlich von einer Welle auf eine schwimmende Tonne gehoben. Es gelang mir, dieselbe trotz der ziemlich starken Brandung glücklich in meine Badekarre zu bringen. Da die Tonne auffallend schwer war, begreifen Sie meine Neugierde. Ich konnte mich kaum so lange beherrschen, bis ich angekleidet war. Dann rief ich nach dem Bademeister, damit er mir die Tonne öffnen helfe. Denken Sie sich aber mein Erstaunen, als wir eine geheimnißvolle Stimme aus dem Innern der Tonne vernahmen: ›Thut mir kein Leid an. Ich bin ein Meergreis. Gebt ihr mich frei, so will ich euch zu den glücklichsten Sterblichen machen.‹ Der Bademeister, anfänglich ebenso bestürzt wie ich, erholte sich schnell von dem Schrecken und flüsterte mir ins Ohr: ›Gehen Sie darauf nicht ein, lassen Sie sich erst ein Versprechen von ihm machen!‹ – ›Was kann er uns denn geben?‹ fragte ich. – ›Meergreise wissen die Zukunft,‹ versetzte der Helgoländer. Ich überlegte einen Augenblick und faßte meinen Entschluß. Dann klopfte ich an die Tonne: ›Bist du bereit, mir und meinen Freunden die Zukunft zu verkünden?‹ Der Meergreis seufzte und gab keine Antwort. ›Gut,‹ erklärte ich, ›dann sperre ich dich in den Bootschuppen.‹ Wir begannen, die Tonne den Strand hinaufzurollen. Aber der Meergreis fing an zu bitten, er sei das Rollen nicht gewohnt, wir sollen ihn wieder schwimmen lassen. Ich fragte noch einmal, dieses Mal mit Erfolg. Der Meergreis versprach nämlich, unter zwei Bedingungen hier in unserem Kreise erscheinen zu wollen: erstens, er müsse vor Sonnenuntergang wieder Schaumwasser schmecken …«

»Geben wir ihm Sect,« rief der Regierungsrath unter großer Heiterkeit.

»Ganz gut gedacht. Vielleicht können wir ihn so noch länger fesseln. Zweitens verlangt er eine Sandtorte.«

»Eine Sandtorte?« fragten mehrere.

»Jawohl, aber keine aus Kuchen, sondern eine wirkliche – aus Sand. Meergreise leben von Sandtorte, Hummern, Austern und Schaumwein. Ich habe aus dem Restaurant eine Kuchenform mitgebracht – wenn eine der Damen nun die Güte hätte, dem bedauernswerthen Greise diese kleine Erfrischung zu bereiten …«

Die Frau Rübendorff gab ihren Töchtern einen Wink. Malwine bat also erröthend um die Kuchenform.

Der Generalkonsul mahnte: »Herr Referendar, spannen Sie unsere Neugier nicht zu hoch. Wo ist denn Ihr Meergreis?«

»Ich werde ihn holen. Aber eines ist noch nothwendig: die unverheirateten Herrschaften müssen alle auf der einen Seite der Kuhle zusammensitzen oder lagern. Der Meergreis findet dann leichter durch … Sie müssen bedenken, daß ihm das grelle, ungebrochene Sonnenlicht ohnehin schon sehr wehe thut … und wir sollten ihm auf alle Weise behilflich sein …«

»Schon gut! holen Sie ihn nur! halten Sie uns nicht auf!« hieß es.

Der Referendar verschwand. Alle waren voller Erwartung, besonders der kleine Carlito, der natürlich die Erzählung Kerkenhusens für bare Münze nahm. Selbst Theo wurde neugierig, obwohl er nur auf ausdrücklichen Wunsch seiner Eltern bei der Gesellschaft blieb. Sein Vater hatte ihn mit Bohrmann und Hans schließlich doch auf der Düne landen sehen, und ein hitziger Wortwechsel war nur wegen der Anwesenheit Fremder unterblieben. Der Legationsrath lagerte bei der bleichsüchtigen Barband. Er hatte ihr einen bequemen Thron aus Sand hergerichtet und unterhielt sie mit einer Beschreibung des Petersburger Winterpalastes, in welchem er schon mit einer Großfürstin getanzt habe u. s. w.

Es dauerte nicht lange, da erschien Kerkenhusen wieder, gefolgt von zwei Schiffern, die eine große Tonne trugen. Letztere wurde aufrecht hingestellt, und unter dem neugierigen Schweigen aller begann der Assessor: »Bedenken Sie, meine Herren und Damen: der Meergreis redet meist in Makamen. Halten Sie ihn hübsch unter Controlle, – sonst fällt er vielleicht noch aus der Rolle. – Wenn Sie ihn bescheiden fragen, – wird er Ihnen die Zukunft sagen. – Doch wenn Sie an sein Wissen appelliren, – darf keine Antwort Sie geniren. – Nun komme, mein Freund, ans Licht der Sonne, – du warst schon lange in der Tonne!«

Der Boden des Fasses hob sich, und eine Gestalt tauchte auf, die selbst der Generalkonsul, welcher ja um den Scherz wußte, nicht als die des Doctors zu erkennen vermochte. Der Meergreis hatte ein vollständiges Kostüm von Algen, Seetang, Schiffstauen und Muscheln an. Auf dem Kopfe trug er eine Krone, aus Bälgen von Seeteufeln und Seeigeln zusammengesetzt, in der Rechten einen kurzen Dreizack, in der Linken eine Tritonmuschel und um den Hals eine Kette aus Haifischzähnen. Sein Gesicht war vollkommen entstellt.

Carlito wurde ganz weinerlich, als er die groteske Figur erblickte, und selbst von den Erwachsenen waren einige recht erschrocken. Kein Mensch außer den Eingeweihten dachte an Dr. von Sechow.

Nachdem der Meergreis sich ein paarmal geschüttelt und mit dem Dreizack geheimnißvoll in der Luft herumgefuchtelt hatte, begann er mit tiefer Stimme: »Hier bin ich, zu halten mein Versprechen. – Wehe dem, der versucht, mich zu bestechen! – Ihn ziel' ich hinab zum Meeresgrund, – und über ihm schließt sich der Wasserschlund. – Doch wollt ihr aus Liebe zur Wahrheit – die Zukunft schauen in Klarheit, – will ich euch Rede stehen, – doch lasset es bald geschehen; – denn mich blendet's, wo Menschen leben: – ein Wassergeist bin ich eben.«

Keiner wollte zuerst eine Frage thun, weil man doch nicht recht sah, woraus das Ganze hinaus sollte. Endlich begann der Director: »Da der Meergreis keine sonderliche Sympathie zu den Menschen zu hegen scheint, möchte ich ihn fragen, ob das an den Menschen liegt oder an der Natur des Wassergeistes.«

»Der Meergreis wäre kein Menschenhasser, – haßten nicht viele Menschen das Wasser.«

Man lachte über die Schlagfertigkeit des Geistes und bot ihm ein Glas Champagner an. Er hielt es gegen das Licht, strich seinen Algenbart zurück und trank es in einem Zuge aus. Dann erklärte er: »Wo aber Menschen lieben den Schaumwein, – kann auch für Geisterhaß kein Raum sein. – Muß ich doch selbst im Meeresschaum schwimmen: – Schaum zu Schaum wird immer stimmen.«

»Ist es wahr, Herr Meergreis,« ließ sich die Flötenstimme der Commercienrathstochter vernehmen, »daß auch die Träume Schäume sind?«

Der Geist bedachte sich gar nicht lange und gab das Orakel: »Träume sind Schäume bei ledigen Leuten, – denen sie Wünsche und Hoffnung bedeuten. – Träume sind nichts als Nebelgestalten, – frage nur die erfahrenen Alten.«

Diese Antwort gefiel dem Legationsrath keineswegs. Er gedachte den Geist der Tiefe in Verlegenheit zu bringen und rief: »Bitte, was sagt der ehrwürdige Meergreis von Träumen, die in Erfüllung gegangen sind? Die Thatsache kann seine submarine Weisheit doch nicht läugnen!«

»Auf goldne Berge führte dich des Traumes Flügel, – du wachtest auf, da war's ein Talmihügel.«

Der Generalkonsul, den der Aerger des Legationsrathes amüsirte, meinte zu der Directorin Göhring: »Herauszuziehen weiß er sich; wenn auch die Reime etwas gesucht sind, haben seine Worte doch immer eine drollige Pointe. Ich muß ihm auch eine Frage stellen: Erhab'ner Meergreis, warum bist du nicht klüger gewesen? Warum hast du dich in deiner Tonne fangen lassen? War das schlau oder weise?«

»Darüber will ich nicht streiten. – Von Mitleid ließ ich mich leiten: – mich dauerten die Seelen – meiner muntern Makrelen, – die mir ein Seebär entführet. – Die Strafe, die ihm gebühret, – wollt' ich dem Jäger schon schenken, – will er mich fürder nicht kränken.«

So ging es eine Zeitlang weiter, und der Doctor, welcher seine Stimme mit großer Meisterschaft verstellte, ließ sich durch keine Frage fangen. Schließlich hieß es aber, der Meergreis habe sich verpflichtet, die Zukunft zu deuten, nach dieser Seite jedoch sein Licht bis jetzt noch nicht leuchten lassen. Kerkenhusen erklärte, dazu bedürfe der Geist der Sandtorte. Die verheirateten Herrschaften sollten auf ein Stück Papier schreiben, was ihnen gemäß eigener Erfahrung als das begehrenswertheste Gut im Leben erschienen. Die Zettelchen sollten dann zusammengerollt und in die Sandtorte gepreßt werden, so daß man sie in der Form nicht mehr sehen könne. Der Meergreis wollte dann jedem der jüngern unvermählten Herrschaften, Damen wie Herren, das richtige Stück Torte mit dem passenden Zettel herausschneiden und den Rest für sich behalten. Einige meinten, das sei keine richtige Prophezeiung; der Meergreis müsse das begehrenswertheste Gut jedem aus sich selbst verheißen. Kerkenhusen berichtigte diese Auffassung: der Meergreis habe ganz andere Bedürfnisse als die Landmenschen. Er müsse daher an die Anschauungen der letztern anknüpfen. Uebrigens werde er seine eigene Weisheit schon in passenden Worten hinzufügen. Nach einer längern Debatte, während welcher der Geist sich wieder mit Schaumwasser anfeuchtete, gab man sich mit dieser Methode zufrieden. Die verheirateten Damen und Herren mußten also die Zettel beschreiben.

Der Generalkonsul schrieb: »Glück im Familienkreise«; Director Göhring: »Erfolg«; seine Gattin: »Menschenliebe«; Carlos Göhring: »Selbstvertrauen«; Dolores: »Der Glaube«; Professor Bohrmann, der als Strohwittwer auch zu den Alten gehörte, natürlich: »Objectiver Forschergeist«; Rittergutsbesitzer Rübendorff: »Ein eigen Heim«; Frau Rübendorff: »Reise um die Welt machen«, und so fort. Keiner sah den Zettel des andern. Ungefähr zwanzig Papierchen wurden zusammengerollt und von Fräulein Malwine in die Sandtorte gemengt. Sachverständig hatte sie die Form erst ein wenig angefeuchtet. Als das sonderbare Gericht dann auf ein glattes Holzbrett umgestülpt wurde, kam ein tadelloser Dünenkuchen zum Vorschein.

Der Meergreis nahm die Platte und schritt feierlich auf die jüngere Gruppe zu. Als er vor dem Legationsrath stand, schnitt er das erste Stück ab. Es fiel ein Zettel heraus mit der Aufschrift: »Viel Ulk auf Helgoland.«

»Was soll das?« bemerkte Herr von Pechtler achselzuckend; »das sagt nicht viel.«

Aber der Meergreis machte sein Verschen drauf: »Viel Ulk auf Helgoland, – dabei höflich und galant, – endlich ausgebrannt, – Zeit wieder nützlich angewandt.«

»Das heißt gar nichts,« wiederholte der Legationsrath; »wenn ich nur wüßte, wer dieser Mensch, dieser Meergreis ist!«

Dieser bot aber bereits der bleichsüchtigen Nachbarin ein Stück Sandtorte an. Selma Barband suchte indes vergebens: in ihrer Schnitte fand sich gar kein Zettel.

»Nichts gewonnen, nichts zu verlieren. – Mein Fräulein, gratulire Ihnen.«

»Nehmen Sie noch ein Stück, gnädiges Fräulein,« rieth einer der Herren.

Kerkenhusen erklärte: »Jeder nur einmal. Sonst reicht die Torte vielleicht nicht.«

Carlito hatte Courage bekommen und drängte sich vor. Er erhielt ein Stück und fand zum Ergötzen des ganzen Kreises den Zettel Bohrmanns mit »Objectiver Forschergeist«.

»Onkel Theo, was heißt das? Lies und erklär' mir's!«

Theodor erschien die ganze Unterhaltung schon abgeschmackt. Er gab keine Antwort und brummte nur: »Ach, das ist eine alberne Geschichte!«

Zum Glücke erklärte der Meergreis selbst: »Die Wahrheit reden, mein kleiner Sohn, – erfüllet die Mahnung des Zettels schon. – Doch die Wahrheit schützen vor allen Dingen – läßt dich dereinst dein Glück erringen. – Sei immer muthig und fürchte dich nit, – dann gehst du stets in sicherem Schritt.«

Der kluge Junge wiederholte den letzten Theil: »Sei immer muthig und fürchte dich nit, – dann gehst du stets in sicherem Schritt.«

Beifällig nickte der Meergreis ihm zu und wandte sich an den Nächsten, an Theodor.

»Ich danke,« sagte er, »ich habe keinen Geschmack an – an Sandtorten.«

Man drängte ihn und meinte, er solle doch die harmlose Freude der Gesellschaft nicht verderben. Im Seebade sei man nicht ernst und feierlich wie zu Hause. Er sei ein Spaßverderber.

»Na, meinethalben! Glauben thu' ich diese Farce doch nicht.«

Bedächtig präsentirte ihm der Meergreis seine Schnitte. Drei Zettel staken drin! Die Aufschriften lauteten: »Der Glaube«, »Glück im Familienkreise«, »Hoher Rang«. Eine plötzliche Nöthe stieg dem jungen Manne in die Wangen. Er sprang auf, warf die Zettel von sich und wollte sich entfernen.

»Hören Sie doch!« hieß es, »Sie haben Ihren Spruch ja noch nicht vernommen!«

»Ich habe schon so genug.«

»Herr Göhring, zeigen Sie doch einmal die Zettel! O, da haben Sie die Orakel fortwehen lassen!«

»Ich schenke sie jedem, der sie findet. Für mich passen sie nicht!« und ärgerlich stieg er, ohne aus die mißbilligenden Gesten seiner Eltern zu achten, über den Dünenwall und begab sich an den Strand. Von ferne hörte er die Gesellschaft ein paarmal laut lachen und durcheinander reden. Er dachte bei sich: Wenn doch wenigstens der Dr. von Sechow mit zur Düne gekommen wäre! Mit dem läßt sich noch ein vernünftiges Wort reden. Wie mochten diese ernsten, erwachsenen Menschen sich bei solcher Unterhaltung wohlfühlen! Im Winter Diners, Bälle, Concerte, Theater und – das Geschäft; im Sommer auch Essen und Trinken, dann Baden, Courmachen, seichte Unterhaltung und kindische Kurzweil. Nirgends ein höherer Gedanke, nirgends ein Herz und Verstand befriedigender Zeitvertreib! Theodor fühlte, daß ihm diese Gedanken allzu früh kamen. Wie lange hatte er noch zu leben? Er fing ja kaum an, und doch ging es ihm wie dem Habitué, der alle Abende seiner Woche besetzt hat und sich satt zur Tafel begibt, um trotz aller culinarischen Raffinements wieder hungrig vom Diner auszustehen.

Theodor war ein begabter, ziemlich fleißiger Schüler. Aber schon dem Secundaner hatte sich plötzlich die Frage aufgedrängt: Wozu alle diese Kenntnisse? Wird die Wissenschaft dich glücklich machen? Aber sie wird mir zu einer gesicherten, angesehenen Lebensstellung verhelfen. Dann gründe ich vielleicht eine Familie! Wozu? Damit meine Kinder es ebenso machen wie ich, ebenso ihrem Berufe nachgehen, trübe und heitere Tage erleben, sich plagen und sich amüsiren und ihrerseits wieder Nachkommen hinterlassen. Es ist nicht werth, daß man schaffe und arbeite; aber thut man es nicht, so wird das Dasein noch trostloser. Bleibt der Mensch einsam für sich, so steht er außerhalb der Gesellschaft, für die er geboren ist; wirkt er täglich mit, betheiligt er sich an dem Leben des Staates und der Familie, so thut er wenig mehr, als neue Pflichten und Aufgaben für andere schaffen, während er die eigenen infolge der Unzulänglichkeit menschlichen Wollens und Könnens nur unvollkommen erfüllt. Obendrein muß er, während das Leben unaufhaltsam dem Tode zueilt, eines seiner Ideale nach dem andern fallen sehen, vielleicht hier und da eine Hoffnung mit der eigenen Hand zertrümmern. So mag er am Ende ein Klagelied auf dem Schutt- und Aschenhaufen seiner stolzesten Pläne und Wünsche anstimmen, fast hadernd mit dem Schicksal, welches ihn das Licht der Welt erblicken ließ – und doch wieder mit allen Fasern am Leben hängend und an allem, was er achtet und liebt.

Die Melancholie mit ihren pessimistischen Eingebungen und skeptischen Fragen hatte sich der Seele des jungen Mannes wieder einmal bemächtigt. An einem abgelegenen Platze warf er sich auf den elastischen Sandboden nieder. Unbeweglich starrten seine Augen den Himmel an, der sich mit gleichmäßigem, unfreundlichem Grau bedeckt hatte. In einförmigem Tacte rauschte die Brandung der steigenden Fluthwellen an sein Ohr. Ab und zu ertönte der Schrei einer Möve, die über seinem Haupte durch die Lust ruderte. Sonst war alles still, kein Mensch nahte sich der einsamen Stätte.

Lange lag er so da, und allmählich verblaßten die schwarzen Gestalten vor seinem Geiste. Ein dichter, graugelber Nebelschleier zog sich von allen Seiten um ihn zusammen. Er wußte nicht, ob er noch wache oder in eine Art Halbschlummer gesunken sei. Nachzudenken vermochte er kaum; aber seine Augen suchten die immer dunkler werdende Nebelhülle zu durchdringen. Da – was war das? – spaltete sich die Wolke. Ein blendender Schein strömte durch die Oeffnung und übergoß das Meer mit hellem Glanz, so daß die Wogen klar und durchsichtig erschienen wie smaragdfarbenes Glas. Und in dem Scheine schwebte eine Gestalt, zuerst nur in unsichern Umrissen sichtbar, bis ihre Formen und Züge immer schärfer und deutlicher wurden. Hans! wollte Theodor rufen, als er das wunderbare Bild erkannte. Aber die Stimme versagte ihm. Er wollte vom Boden aufspringen, doch konnte er nicht loskommen. Verlangend streckte er die Arme nach dem Freunde aus, da wurde das weiße Licht mit einemmal roth, blutroth oder wie loderndes Feuer. Die Gestalt wurde von den Flammen erfaßt und sank wie eine brennende Säule ins Meer. Da singen auch die Wogen Feuer und ihr Gischt sprühte in goldenen Funken gegen das Firmament, um auch dieses in Brand zu setzen. Zitternd und in Angstschweiß gebadet schaute Theo dem großartigen, fürchterlichen Schauspiele zu, bis die Flammen sanken und schließlich verlöschten. Da erschien das Meer wie eine riesige Blutlache. Qualm und Rauch stiegen von seinem gespenstischen Spiegel empor und hüllten den Himmel in schwarze Nacht. Auf der Fluth trieb ein dunkler Gegenstand – eine Leiche. Mit Entsetzen blickte Theodor in das Antlitz: es war sein geliebter Freund, kalt und starr …

Bing-kling, bing-kling, bing-kling! tönte eine Glocke aus der Ferne. Theodor richtete sich auf. Was war das? Erstaunt rieb er sich die Augen: da saß er auf dem Dünensande; aber von Feuer und Blut und Leiche war nichts zu sehen. Meer und Insel lagen vor ihm wie sonst. Nach kurzem Besinnen sprang er auf seine Füße; denn die Fluth war bis in seine unmittelbare Nähe aufgelaufen.

»Gott sei Dank! ich habe nur geträumt.« Er schaute auf die Uhr. Aha, die Glocke, die ihn geweckt, war das Zeichen, daß es schon gegen ½3 Uhr sei, und daß das letzte Fährboot zur Insel die Düne verlasse. Seine Familie und die ganze bekannte Gesellschaft hatten offenbar schon die Rückfahrt angetreten.

Theodor eilte über den Sand, um das Fährboot zu erreichen. Er kam noch eben, eben mit. Im Boot setzte er sich vorn zu den Schiffern, um mit ihnen zu plaudern.

»So spät und allein und mit dem Fährboot?« fragte ihn ein Helgoländer.

Theo nickte.

»Den Papa und die andern Herrschaften hab' ich schon vor 'ner halben Stunde 'rüber fahren sehen.«

»Ich glaube wohl. Ich blieb allein zurück.«

»Hans mit sei'n Perfesser is auch all 'rüber.«

»Natürlich. Peter, meinen Sie nicht, daß morgen ein Sturm kommt?«

Der Schiffer musterte den Himmel und sagte: »Sollte meinen. Am End schon heut Nacht. Wenn Sie auf der Düne sitzen geblieben wär'n, hätten Sie morgen woll auch nich abkönn'n. Morgen wird woll kein Fährboot nich landen können.«

»Das wär 'ne schöne Geschichte gewesen.«

»Nu, Sie hätten mit Reimers Vögel schieß'n könn'n. Aber ein'n Tag ohne Hans fertig wer'n, wär woll schwierig, nich, Herr Göhring?«

»Wie meinen Sie, Peter?«

»Seh'n Sie: letzt'n Winter war ich mit Hans ins selbe Boot zum Schellfischfang. Immer hat er von Sie gesprochen.«

»So?«

»Aber eins will ich Sie doch sag'n, Herr Göhring: was woll'n Sie mit den Jungen machen, wenn ein paar Jahr 'rum sind? Und wenn Sie mal 'n Jahr nich nach Helgelann' komm'n, dann wird er sich todtgräm'n. Sie verwöhn'n ihn, Herr Göhring. Unsereins soll bleib'n, was er is … nehm'n Sie mich's nich krumm, aber seh'n Sie: alle Hollunders haben Ihnen ja sehr gern, Herr Theo, un Sie sind immer gut gewest zu uns alle; aber so'n armer Schiffer hat ja nix, in die Schul gelernt, und schließlich macht ihn der Umgang mit die gebildeten und gestudirten Herren man bloß unzufrieden. Is dat nich woar, Hinrik?«

Der gefragte Schiffer brummte: »Sünd jo schon welche Badegäster gewest, die Hollunder Mädchens geheirat hab'n.«

»Is auch so. Aber 'mang die beiden jungen Kerls is dat doch anners.«

»Woll. Monchmal vertrag'n sich auch die Verheirateten nich. Un manchmal kommen die Verlobten, was von ungleiche Bildung un Stand sind, gar nich mal zu 'ne Heirat.«

»Woll, Hinrik. Du denkst woll da an den Grafen Stormarn?«

Erstaunt unterbrach Theodor die Schiffer: »Graf Stormarn?«

»Jawoll, Herr Theo. Vor so was fünf oder sechs Jahren war so'n jungen lüderlichen Herrn von'n Festland hier. Der beschwatzte ein Hollunder Mädch'n un tanzte mit in's Grüne Wasser – Sie kennen ja das Local! – un versprach, sie zu heirat'n. Un nachher – ließ er ihr sitzen. Sie war ja nich gebildet genug.«

Theodor fragte mit sichtbarer Erregung: »Und lebt dies Mädchen noch?«

»Nu, Gott sei Dank, nich. Nachdem er ihr unglücklich gemacht, wollte sie kein ehrlicher Hollunder zur Frau hab'». Sie starb bald, noch ehe 'n Jahr um war.«

Der junge Göhring dachte auch: Gott sei Dank! Er hütete sich, weiter zu fragen, beim der Betreffende konnte nur sein Schwager sein. Waldemar Stormarn war der letzte männliche Erbe seines Stammes. Und doch … es mußte anders zusammenhängen! Denn wie konnte der Schuldige die Kühnheit besitzen, mit seiner Gattin die Insel, den Schauplatz seiner Unthat, wieder zu besuchen! Und Theodors arme Schwester! Warum hatte Mathilde nicht ihren Vetter Octavio statt des verlumpten Grafen genommen?

In recht ingrimmiger Stimmung landete Theo auf der Insel. Da begegnete ihm auf der Brücke der Schiffer seines Vaters: »Herr Theo, ich habe Sie schon überall gesucht.«

»Was ist denn los?«

»Ich soll Sie von Papa fragen, ob Sie große Lust hätten, um ½5 Uhr die Einweihung des Kirchthurms mitzumachen.«

»Aber ganz und gar nicht. Ich gehe nicht hin.«

»Das dachte Ihr Papa. Ihr Papa und Mama und die andern sind eben vom Generalkonsul und von Commercienrath Rickmers gebeten worden, doch ja zu kommen.«

»Meinetwegen.«

»Und da meint Papa, ob Sie nicht Ihren Schwager vom Bord der ›Freya‹ abholen wollen?«

»Ich? Ja, wann kommt denn die ›Freya‹?«

»Sie ist schon in Sicht. Sehen Sie den Rauch da hinten? In fünfzig Minuten ist sie hier.«

Theodor überlegte. Sein Groll gegen Stormarn war groß, aber der Schwester zulieb entschloß er sich, an Bord zu fahren.

Der Schiffer sagte: »Mein zweiter Bootsmann ist heute bei den Coast-Guards und die müssen bei der Kirche Spalier bilden. Soll ich statt dessen Hans mitnehmen?«

»Gewiß, gewiß. Wissen Sie, wo er ist?«

»Ich will ihn schon finden. Sein Sie man in einer halben Stunde oder so wieder an der Brücke.«

Etwas getröstet sagte Theodor zu und begab sich auf ein paar Minuten in das Lesezimmer des Conversationshauses.



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