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Drittes Kapitel.
Doctor Lexikon

Hans Payens hatte den ganzen Abend vergeblich auf seinen Freund gewartet. Wohl sah er ihn nach dem Essen mit einer größern Gesellschaft den Kaffee nehmen, doch als die Herrschaften aufbrachen, wurde er von seinem Beobachtungsposten hinter dem Musiktempel aus gewahr, wie Theo mit seinem Vater und einigen andern Herren verschwand. In frühern Jahren waren die beiden gegen Sonnenuntergang immer noch miteinander ausgesegelt. Hatte Theo das vergessen? Oder gefiel ihm seine vornehme Gesellschaft jetzt doch besser? Traurig wandte Hans sich ab und ging zu einigen Kameraden, die ihn neckten: »Wo ist denn dein Hamborger abgeblieben? Hast du gesehen, wie liebenswürdig er mit den schönen Fräuleins da drüben am Tische war? Paß man auf, daß er dich nicht über einem von den Mädchens vergißt. Bald wird er sich eine Braut holen, am End' die Tochter von dem Berliner Commercienrath. Dann kommt Geld zu Geld, und du – hast das Nachsehen. Verlier deine Uhr nicht, Hans, eine neue giebt's nicht.«

»Aber 'n schönen Kieker hat er mir mitgebracht, und sonst noch eine Menge Sachen; hier die Piep auch,« sagte Hans.

Er holte seine Pfeife heraus, und die neidische Bewunderung der Kameraden tröstete ihn etwas über den Spott.

Theodor hatte übrigens den armen Hans durchaus nicht vergessen, aber sein Vater hatte es so eingerichtet, daß ihn der Professor Bohrmann, der schon wieder von seiner Expedition zurück war, sofort nach dem Kaffee mit Beschlag belegte und auf sein Zimmer nahm, um dem vorausgesetztermaßen höchst lernbegierigen Primaner einige Tabellen zu zeigen, auf welchen der Gelehrte die Fortbewegung der Fische und Mollusken graphisch dargestellt hatte. Selbstverständlich wiesen die Tabellen die nunmehr glücklich zum Abschluß gebrachten Resultate langjähriger Beobachtungen aus, selbstverständlich heuchelte Theo das größte Erstaunen und die anerkennendste Bewunderung, und selbstverständlich blieb der Professor nicht bei den Tabellen, sondern kam von diesen auf die Beobachtungsmethode, dann auf die Einrichtung der biologischen Marinestationen und endlich auf die verschiedenen Gründe, die für und gegen ein derartiges Institut auf der Insel Helgoland sprachen. Erst als es dunkel geworden war, kam der junge Mann los, und fünf Minuten nach dem Vortrage Bohrmanns wußte er fast nicht mehr, ob er zwei Stunden von Sanskritwurzeln oder griechischen Präpositionen oder von sonst etwas gehört hatte. Nur ein Ausdruck, den der Professor wiederholt gebrauchte, war ihm im Gedächtniß haften geblieben, nämlich der in »abyssaler Region lebende Spinax niger Bonaparte«. Er beschloß, Hans Payens bei der Brücke aufzusuchen, fand ihn aber nicht, sondern fiel dem Dr. von Sechow in die Hände, der in der sogen. »Gesundheitsallee« seine Cigarre rauchte.

» Quo te, Moeri, pedes?« »Wohin, Möris, des Wegs?« Vergil., Eclog. IX, 1. hielt ihn das Lexikon nach maronischem Vorbilde an.

»Guten Abend, Herr Doctor.«

»Haben Sie Eile, junger Herr?«

»Nein – aber – das heißt, ich suchte jemanden.«

»Sonst könnten Sie mir bei meiner Cigarre helfen. Rauchen Sie? Darf ich bitten … so recht, nehmen Sie die dunklere, die ist aromatischer. Hier liegt es wirklich am Tabak, nicht an der Saucirung.«

»Danke, Schwefelhölzer habe ich. So … danke schön.«

»Sie werden als Hamburger und Sohn des reichen Directors der Angelsächsischen Bank bessere Puros gewohnt sein.«

»Die Cigarre ist vorzüglich, Herr Doctor. Es ist schade, sie hier im Winde zu rauchen.«

»Der Wind dreht sich. Wenn er nur nicht über West nach Nord geht … dann gibt es unsicheres, stürmisches Wetter. Er muß über Ost laufen, das ist das Rechte. Die meteorologischen Verhältnisse sind hier ganz andere wie bei uns zu Hause. Auf meinem Gute z. B …«

»Pardon – Herr Doctor sind Landmann?«

»Das nicht, nur Guts besitzer. Ich lebe jedoch meistens in Dresden.«

»Darf ich fragen, als was?«

»Als Privatmann. Ich bin unverheiratet und kann mit meinen Mitteln so ziemlich meinen Studien, Reisen und Vergnügungen leben.«

»Sind Sie … ich meine, welchen Doctor haben Sie?«

»Ich bin doctor iuris.«

»Ah so, Sie haben die Rechte studirt.«

»Nicht auf der Universität, Herr Göhring. Mein eigentliches Fach war Architektur. Ich erhielt jedoch den doctor iuris honoris causa von Dorpat.«

»Ja, aber wie ging das zu?«

»O, ganz einfach. Vor fünf Jahren schrieb ich ein Werk über den russischen ›Mir‹. Die Frage interessirte mich wegen des innigen Zusammenhanges der socialistischen Theorien mit dem Gemeindeeigenthum an Grund und Boden. Die Arbeit brachte mir den Doctor ein.«

»Sie mußten dazu aber doch Rechte studirt haben!«

»That ich auch, aber privatim. Zeit genug hatte ich ja.«

»Sie müssen ein interessantes Leben führen, Herr Doctor.«

»O nein, junger Herr. Ich langweile mich oft über die Maßen, obwohl ich stets beschäftigt bin.«

»Das kann ich nicht begreifen.«

»Ich selber sehe es aber ganz klar; sehen Sie, lieber Freund: ich bin zu gesund und zu kräftig, um lebensmüde zu sein; zu alt, um jugendliche Begeisterung zu besitzen, und – was das schlimmste ist – ich habe niemanden, für den ich sorgen könnte.«

»Ist gerade das letzte das schlimmste?«

»Freilich.«

»Mir scheint, Sie sind nur um so unabhängiger.«

»Sie sind vielleicht zu jung, um mich zu begreifen. Ich bin ein einsamer Mann.«

»Sie haben in Dresden und anderswo doch gewiß viele Bekannte?«

Der Doctor lachte kurz auf. »Bekannte! Freilich, Hunderte. Aber niemanden, der mich … na, kurz und gut, es ist, wie ich sage. Sprechen wir von etwas anderem!«

Theodor war sehr verwundert. Er wagte jedoch nicht, gegen den Wunsch des Doctors das Gespräch fortzusetzen. Daher fragte er: »Wo bringen Sie den Abend zu?«

»Gewöhnlich gehöre ich zu dem Kreise, der sich zwischen 9 und 10 Uhr im Conversationshause einfindet. Ihre Eltern gehen ja auch immer dahin. Jedenfalls wird Ihr Papa Sie erwarten.«

»Er hat mir so etwas gesagt. In den Vorjahren kam ich abends selten dahin. Ich war lieber mit jungen Leuten zusammen.«

»Offen heraus gesagt, lieber Göhring, hat mir Ihr Papa das geklagt.«

»Aber wie kommt er dazu, Herr Doctor? Ich …«

»Ja, sehen Sie, Ihr Papa und ich sind alte Freunde. Wir haben uns hier jetzt schon viele Sommer getroffen. Gestern Abend erzählte er mir, daß Sie heute Nachmittag anlangen sollten mit Ihrem Herrn Bruder und dessen Familie. Da sagte ich: ›Dann haben wir ein jugendliches Element mehr in unserem Kreise.‹ Ihr Papa aber meinte: ›Theodor ist in einem gesellschaftlichen Zirkel kaum zu gebrauchen. Er hat so seine eigenen Neigungen, lebt gern für sich und –‹ Uebrigens Sie nehmen mir meine Offenheit doch nicht übel? Sehen Sie, Ihre Frau Schwester, die Gräfin Stormarn – doch Sie sind bös auf mich!«

Theo erwiderte, daß ihn diese Mittheilungen seines Vaters an den Doctor allerdings ein wenig befremdeten.

Ganz ruhig fuhr Herr von Sechow fort: »Sie müssen sich nicht wundern, junger Herr. Ihr Papa ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann und ein ehrgeiziger Familienvater. Da Ihr Herr Onkel bereits Senator ist, kann Ihr Papa es nicht mehr werden. Er persönlich begnügt sich am Ende recht gern mit seinen Millionen, will aber jedenfalls mit seinen Söhnen sehr hoch hinaus …«

»Aber, Herr Doctor …«

»Lassen Sie mich die Geschichte mal zu Ende bringen. Ist Ihre Cigarre ausgegangen?«

»Nein, sie brennt noch, aber …«

»Und nun«, fuhr der Doctor mit etwas lauterer Stimme fort, »sieht Ihr Papa, daß sein ältester Sohn eine Katholikin geheiratet hat, daher zu Hause schwerlich irgend ein höheres Amt erhalten wird. Ihre Frau Schwester hat einen Offizier – Rittmeister – – wie wird der avanciren? Da ist nicht immer viel zu erwarten. Sie dagegen hätten – so meint Ihr Papa – wohl das Zeug, aber nicht die Neigung, etwas zu werden.«

»Herr Doctor, ich bitte Sie!«

»Das ist ja weiter kein Tadel, lieber Freund. Glauben Sie, ich wollte Sie beleidigen?«

»Nein, das nicht – indessen Sie kennen mich erst seit sechs oder sieben Stunden, Herr Doctor, und …«

»Und lese Ihnen den Text, wollen Sie sagen. O keineswegs! Ich habe Sie beobachtet, lieber Freund, und – ich bin Menschenkenner.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr der junge Mann gereizt heraus.

»Nichts, als daß ich bedaure, wie Sie schon in Ihrem Alter hinter die Geschichte gekommen sind.«

»Hinter welche Geschichte?«

»Daß das gesellschaftliche Leben Schwindel und Lüge ist.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich so denke?«

»Hab' ich unrecht?«

»Wer sagt Ihnen, Herr Doctor, daß ich alles für Schwindel und Lüge halte?«

»Ich habe nicht behauptet ›alles‹, sondern das sogenannte ›gesellschaftliche Leben‹.«

»Gut, aber Sie können das doch nicht so kühl behaupten.«

»Wenn ich keine Beweise hätte, nein. Junger Mann, ich habe einige Ihrer Aeußerungen analysirt, Ihre Gesichtszüge beobachtet, gesehen, daß Sie einen Freund unter Ihrem Stande haben …«

»Herr …«

»Dieser Freund hat Ihnen einst das Leben gerettet, ich weiß es. Ihr Papa hat mir davon erzählt. Sie sind dem jungen Burschen dankbar; aber das ist nicht alles: Sie haben ihn lieber als Ihre vornehmen Freunde. Läugnen Sie es nicht! Ich gebe Ihnen auch den Grund dafür an: er ist nicht berührt von dem … nun, sagen wir einmal: nicht parfümirt mit dem Patchouli der ›Gesellschaft‹. Sie müssen das natürlich als eine Redefigur verstehen.«

Theodor war so ärgerlich, daß er keine Antwort gab.

»Und nun«, fuhr der Doctor in seinem ruhigen Tone gelassen fort, »will ich Ihnen den Hauptgrund angeben, warum ich Sie durchschaue: mir ging es gerade wie Ihnen.«

Der junge Mann blieb stehen und starrte den Sprecher an. Herr von Sechow that einige kräftige Züge, blies den Rauch weit von sich und legte dann, gleichfalls stehen bleibend, seine Hand auf den Arm seines Begleiters: »Lieber Freund, setzen wir uns da hinten ein wenig auf jene Bank. Dort bläst kein Wind. Ich will ein gutes Werk an Ihnen thun – wenigstens es versuchen.«

Der Doctor war so geheimnißvoll, daß Theodor wie willenlos folgte. Als sie sich gesetzt hatten, fragte Sechow: »Haben Sie die Geduld, einiges aus meinem Leben zu hören? Dann wird Ihr Zorn gegen mich sich bald legen.«

»Bin ich denn zornig?« lachte Theo, mit einemmal die Geschichte von der lustigen Seite auffassend.

»Wenigstens unangenehm überrascht durch meine Offenheit. Aber mögen Sie zuhören?«

»Wenn Sie erzählen mögen, gewiß.« Die Neugier regte sich stark bei dem jungen Manne.

»Sehen Sie,« begann der Doctor, »ich bin der Sohn eines vor mehr denn 25 Jahren oft genannten Diplomaten. Mein seliger Vater, einem alten sächsischen Geschlechte entsprossen, hat von Anfang der vierziger Jahre bis zum deutschen Kriege eine nicht unbedeutende politische Rolle gespielt. Er wurde der Reihe nach zu hohen Missionen bei den verschiedenen Höfen verwendet. Meine verstorbene Mutter, die er erst in vorgerücktem Alter zum Erstaunen seiner Standesgenossen heiratete, war eine Schauspielerin – gleichfalls ehedem viel genannt und bewundert. Nur ihre sanfte Schönheit und ihre gesellschaftlichen Talente erzwangen ihr nach langen Kämpfen Anerkennung in den Zirkeln der Aristokratie. Nach kaum vierjähriger Ehe starb sie. Ich wurde fremden Händen anvertraut, da mein Vater in seinem Berufe weder Lust noch Zeit hatte, die Erziehung seines einzigen Kindes, eines äußerst lebhaften Knaben, zu überwachen. Gleichwohl wünschte er, mich bei sich zu behalten. So kam es denn, daß ich mit meinem Hofmeister nach Wien, Petersburg und Paris, endlich nach London folgte – überallhin, wo mein Vater die Interessen seines Königs wahrzunehmen hatte.«

»Wie interessant, Herr Doctor!«

»Früh hatte ich auf diese Weise mit der ›Gesellschaft‹ zu thun. Mein Vater mußte ein großes Haus machen, in welchem einer seiner Schwestern die Honneurs zufielen. Leider leitete mich einige Jahre lang ein Erzieher, der ein Freund und Gesinnungsgenosse Schopenhauers war – Sie wissen, wer Schopenhauer ist?«

»Gewiß, der pessimistische Philosoph.«

»Ganz recht. Jener Hofmeister nun entdeckte und beförderte in mir einen gewissen Hang, die Schwächen und Armseligkeiten der Menschen zu entdecken. In meinen schönsten Jünglingsjahren hatte ich so bereits den Glauben an die Menschheit verloren, denn ich lernte sie wegen ihrer Fehler nur verachten, nicht bemitleiden. Ich hatte in den Kreisen meines Vaters Gelegenheit genug, Stoff für meine pessimistische Philosophie zu finden. Nebenbei war mein Hofmeister gar nicht scrupulös, mich hinter dem Rücken meines Vaters in schlechte Gesellschaft zu führen. Ehe ich mein zwanzigstes Jahr vollendet hatte, kannte ich die Mysterien von Paris und London. Diese kurze Bemerkung möge Ihnen andeuten, welch ein Mensch ich war. Ich wollte auf die Universität gehen, aber da starb plötzlich mein Vater, und statt eines großen Vermögens, das jedermann bei ihm erwartete, hinterließ er mir ein verschuldetes Landgut. Glücklicherweise hatte ich Liebe zu einem Berufe, merkwürdigerweise zum Baufach. Meine Verwandten schüttelten den Kopf, aber ich ging aufs Polytechnikum. Während meines zweiten Studienjahres starb ein reicher Onkel, der mir ein gutes Vermögen hinterließ. Jetzt war ich auf einmal der Liebling vieler, die mich seit Eröffnung von meines Vaters Testament in Acht und Bann gethan hatten. Ich verachtete alle und las als Student vorzugsweise Lucian, Voltaire und Heinrich Heine. Aber auch sie ekelten mich schließlich an. Da schien auf einmal eine bessere Zeit für mich zu nahen. Im Sommer, auf einer Schweizer Reise, lernte ich eine Lübecker Familie kennen, und in dieser ein junges Mädchen, das meine heftige Neigung zu erwidern schien. Einer phantastischen Laune folgend, reiste ich als Ingenieur Hoffmann. Bei unserer Trennung in Luzern warf ich wie zufällig hin, daß ich im Winter nach Norddeutschland kommen werde. Da forderte der Vater des Mädchens mich auf, ihn jedenfalls zu besuchen. Er hatte mir unzweifelhafte Beweise seines Wohlwollens gegeben. Als ich in Lübeck wirklich erschien, eröffnete ich dem Alten unter vier Augen, wer ich sei, erbat und erhielt leicht seine Verzeihung für das Incognito und obendrein die Hand seiner Tochter Georgine – falls sie mich liebe. Der Alte erkundigte sich bei Dresdener Freunden nach meiner Familie und erhielt natürlich eine Auskunft, die ihn mehr befriedigte, als es der namenlose Ingenieur Hoffmann hätte thun können. Es gelang mir nun, den Vater für die Idee zu gewinnen, daß ich als Hoffmann vor Georgine hinträte, um sicher zu sein, daß sie mich, nicht meinen Adelstitel liebte. Freilich war das wieder eine Laune von mir. Ich erhielt ihr Jawort, reiste ab und correspondirte in der Folge mit meiner Braut. Da Georgine noch sehr jung war, sollte die Verlobung erst nach einigen Monaten bekannt gegeben werden. Meine skeptische Meinung von den Menschen gibt mir nun während dieser Zeit die neue unglückliche Idee ein, an Georgine zu schreiben, ich hätte Vermögensverluste erlitten. Sie antwortete, ihre Liebe werde mir jedes Los versüßen helfen. Ich war entzückt, denn damals wußte ich noch nicht – was ich später erfuhr – nämlich, daß der Vater ihr gleich nach meiner Abreise von Lübeck meinen wahren Namen verrathen hatte. So spielten wir uns eine eigentliche Komödie vor, und ich gestehe gern, daß mein Benehmen im Grunde recht studentenhaft und thöricht war, und daß es besser gewesen wäre, wenn der alte Herr mir die Wahrheit gesagt hätte, anstatt auf meine Marotte einzugehen. Kurz und gut, im Frühsommer bin ich wieder in Lübeck, unangemeldet. In der Stadtwohnung von Georginens Familie erfahre ich, daß die Herrschaft auf vier Wochen nach Travemünde an die See gezogen sei. Ich reise nach, um meine Braut zu überraschen. Mit wem treffe ich sie und ihre Mutter am Strande? Mit einem reichen, jungen Bonvivant aus Hamburg, der sich Liebenswürdigkeiten erlaubt, über welche ich meine, als Bräutigam Aufklärung verlangen zu müssen. Ein Wort gibt das andere. Ich lasse Georgine verstehen, daß ich ihre Haltung unerklärlich finde. Sie antwortet kühl, meine Handlungsweise sei mindestens ebenso räthselhaft. Ob sich Herr von Sechow seines Namens geschämt hätte, weil seine Mutter von der Bühne gekommen sei? Sie ahnen, daß wir uns nun unser Versprechen zurückgaben. Ich fühlte freilich, daß meine bizarre Idee, in solcher Weise die Treue meiner Braut zu prüfen, an dem unglücklichen Ausgange der Sache mit schuld war. Der eigentliche Grund lag jedoch tiefer. Der neue Courmacher gehörte einer Hamburger Patrizierfamilie, einem der ältesten handelsfürstlichen Häuser an, und seine Millionen wogen bei den Lübeckern schwerer als mein Titel und mein verhältnißmäßig bescheidenes Vermögen. Jetzt ward ich zum Einsiedler. Jahrelang lebte ich auf meinem Gute und suchte mein Leid und meinen Pessimismus in den verschiedenartigsten Studien zu vergessen. Auf Anrathen meines Arztes, der eine Zeitlang fast der einzige Mensch war, mit dem ich verkehrte, machte ich die Reise um die Welt – allein, als scharfer Beobachter von Menschen und Sitten. Fast drei Jahre blieb ich draußen, und diese drei Jahre haben mich kurirt. Ich fing an, bei dem Nächsten nicht wie früher nach Fehlern und Schwächen zu suchen, sondern nach dem Edlen und Guten, das in jeder Menschenbrust verborgen liegt, das immer noch Spuren zurückläßt, wie sehr auch die schlimmen Leidenschaften gewüthet haben mögen. Fortan machte ich mir die Uebung der Gerechtigkeit – im Urtheil wie in Worten und Thaten – zur Lebensaufgabe. Vielleicht habe ich schon Fortschritte gemacht und ist der alternde Mann ein besserer Mensch als der blasirte, skeptische Jüngling.«

»Wie mich Ihre Geschichte interessirt, Herr Doctor!« rief Theodor lebhaft, als Herr von Sechow einen Augenblick schwieg. »Sie haben wirklich viel erlebt.«

»Glauben Sie, junger Freund, daß diese Erfahrungen mich glücklich gemacht haben?«

»Man sollte das erwarten, scheint mir.«

»Und doch ist dem nicht so. Ich bin nicht glücklich, da ich niemanden habe, für den ich sorgen könnte.«

»Wie viel Noth gibt es in der Welt zu lindern, Herr Doctor! Da Sie keine Familie haben, so können Sie ja die Wohlthätigkeit in ausgedehntem Maße üben.«

»Freilich kann ich das. Glauben Sie aber, daß jene interessirte Liebe, die der Beschenkte seinem materiellen Wohlthäter entgegenbringt, das Herz des letztern ausfüllen wird? Es mag sein, daß. ich manche Gelegenheit habe, Menschenliebe zu üben. Aber dabei bleibe ich selbst doch der einsame Mann, der von niemanden selbstlos geliebt wird. Es ist übrigens eine Sache, die mich allein angeht. Daß ich Ihnen jedoch so viel von mir selbst erzählt habe, ist in guter Absicht geschehen. Von Ihrem Papa, Herr Göhring, hörte ich und an Ihnen selbst beobachtete ich, daß in Ihrer Seele ein Zug liegt, der Sie leicht jener socialen Sphäre entfremden könnte, welcher Sie durch Ihre Geburt und Erziehung angehören.«

»Offen gesprochen, habe ich schon seit Jahren einen Widerwillen gegen das, was man die ›Gesellschaft‹ nennt.«

»Sie haben die Hohlheit und die Schwächen der gebildeten Kreise sehr früh erkannt. Genau so ging es mir. Wenn Sie aber nicht einsam und verlassen im spätem Leben dastehen wollen, so bekämpfen Sie Ihren Widerwillen gegen die Thorheit, die Sie umgibt, und suchen Sie bei allem, bei Menschen und Hebungen, das Gute, den vernünftigen Kern herauszufinden.«

»Ich wollte, ich wäre als armer Junge, etwa hier als Helgoländer Fischer geboren.«

»Gerade solche jugendliche Romantik gab mir ehedem den Wunsch ein: möchte mein Vater doch kein Diplomat sein! könnte ich doch leben und wirken, wie ich wollte, ohne wegen der Anschauungen und offenbaren Verschrobenheiten meines Standes auf Schritt und Tritt anzustoßen! Und nicht wahr, Sie wären der Mann, wenn Sie sich verliebten, ein Mädchen unter Ihrem Stande zu heiraten, gerade wie Sie jetzt den Fischerknaben, der Sie einst aus dem Wasser zog, zu Ihrem Freunde und Kameraden gemacht haben?«

»Ich sehe nicht,« erwiderte Theodor ausweichend, »warum ich ihn verachten soll, weil er arm ist.«

»Wer verlangt denn das?«

»Oder warum ich mich nach dem Leben in dem langweiligen, materiellen Hamburg nicht an der natürlichen Frische und aufrichtigen Herzlichkeit des braven Jungen erquicken soll.«

»Können Sie ja, dürfen Sie gern, mein Bester! Nehmen Sie den Jungen zu Ihrem Bootsmann beim Fischen und Segeln, unterstützen Sie Ihren Lebensretter, seien Sie nicht hochmüthig, sondern lieb und herzlich mit ihm, thun Sie ihm Gutes, wo Sie können – aber machen Sie ihm keine Hoffnung, daß Sie als Männer noch intimere Freunde bleiben können.«

»Da spricht mein Vater aus Ihnen, Herr Doctor!« fuhr Theo auf.

»Sie glauben vielleicht, er habe mich abgeschickt? Darüber seien Sie ganz beruhigt. Er hat mir nur von Ihnen erzählt, offenbar in der Absicht, mich vor Ihrer Hierherkunft darauf vorzubereiten, daß Sie Ihre eigenen Wege gehen würden. Ich sollte mich über nichts wundern, wenn Sie – seien Sie mal einen Augenblick ruhig, junger Herr! – wenn Sie z. B., wie Sie es im vorigen Jahre thaten, den ganzen Tag im Schifferanzug herumlaufen und im Kreise der Insulaner verkehren würden, anstatt – lassen Sie mich ausreden! – anstatt sich zur Gesellschaft Ihrer Eltern zu halten.«

»Mein Papa, Herr Doctor, ist leider nicht frei von Stolz. Sein Vermögen und die Thatsache, daß sein Bruder Senator ist …«

»Steigen ihm hie und da zu Kopf, das gebe ich zu. Die Schwäche haben wir alle, wenn auch in verschiedenem Maße.«

»Ich nicht, Herr Doctor; ich verachte Rang und Stand und Geld …«

»Solange Sie selbst nicht arm und verachtet sind. Die Romantik ist ganz schön, wenn man in behäbigen Umständen lebt. Kurz und gut, nehmen Sie einem Manne, der die Welt und die Menschen kennt, die Mahnung nicht übel: jeder gehöre mit Herz und Geist dem Stande an, für den ihn die Vorsehung geschaffen hat!«

Er erhob sich. Theodor war bereits aufgestanden; er war nicht eigentlich böse auf den Doctor, fühlte sich aber doch von dessen Offenheit unangenehm berührt. Als sie weitergingen, konnte er die Bemerkung nicht unterdrücken: »Ich muß mich wundern, daß Sie mir, einem jungen Manne, so viel aus Ihrem eigenen Leben erzählen mochten.«

»Es geschah, lieber Freund, um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie praktisch verstehe, daß ich kein naseweiser Theoretiker bin. Weil ich ähnliches durchgemacht, ja gelitten habe wie Sie, möchte ich Ihnen helfen. Ich verstehe Sie besser als Ihr Vater.«

Theo mußte das zugeben.

»Daß Sie unter Ihrer Geistesverfassung ›leiden‹, können Sie doch nicht läugnen.«

»Wieso?« fragte Theodor den merkwürdigen Mann.

»Zum Beispiel, weil Sie nicht wissen, was Sie mit Ihrem Freunde in Zukunft anfangen sollen.«

Theo antwortete nichts.

»Sie sehen es voraus – obwohl Sie sich gegen die Erkenntniß wehren –, daß das Leben Sie sicher, und vielleicht schon bald, von Ihrem Jugendfreunde trennen wird.«

Da stürzten plötzlich dem Jünglinge die hellen Thränen aus den Augen. Lächelnd legte Herr von Sechow den Arm um seinen Nacken und suchte ihn mit sanfter Stimme zu trösten: »Brennt das Eisen, Freund, mit dem der Arzt die Wunde kauterisirt? Schämen Sie sich Ihrer Thränen nicht, zumal nicht in meiner Gegenwart. Vielleicht bin ich der einzige Mann, vor dem Sie sich nicht zu schämen brauchen, der einzige, der Ihnen helfen kann. Wissen Sie, was Sie thun sollten, bis die Zeit kommt, wo Ihnen Gott das Weib sendet, welches Ihre Lebensgefährtin sein wird? Sie sollten Ihrem kleinen Neffen Carlito eine zarte, brüderliche, leitende Liebe schenken! Das würde Sie beschäftigen, bis … bis, wie gesagt, ein anderes Bild Ihre Seele füllt. Der kleine Carlito kann Sie doch unmöglich an die Fadheiten der ›Gesellschaft‹ erinnern! Erfreuen Sie sich an seiner Frische und Natürlichkeit. Ihm selbst würde Ihre Freundschaft einen großen Dienst leisten, denn der Knabe – deutlich sehe ich es kommen – geht großen Leiden entgegen.«

»Wie das? Ich verstehe nicht,« sagte Theo, bereits ein wenig getröstet.

»Sehen Sie nicht, lieber Freund, daß der Kleine und seine Mutter ihres Glaubens wegen manche harte Stunde erleben werden, falls sie in Deutschland bleiben?«

»Sie sollten sich dem Glauben der Familie anbequemen!«

»Mit welchem Rechte könnten Sie das verlangen? Nein – sehen Sie, wenn Sie sich aus Liebe zur Gerechtigkeit des Knaben, des kleinen Carlito, annehmen wollten – das wäre ein edler Entschluß.«

»Das wird schwer sein, aus manchen Gründen.«

»Versuchen Sie es einmal, Theodor … darf ich Sie so nennen, mit dem Vornamen?«

Der Jüngling drückte dem Manne die Hand. Es kam über ihn die Sicherheit, daß er seit dieser Unterredung einen werthvollen Freund gefunden hatte. Sobald der Doctor merkte, daß Theo ihn verstanden, lenkte er auf einen andern Gegenstand über.

»Die Zeit,« sagte er, »von der ich Ihnen erzählt habe, Theodor, liegt jetzt lange hinter mir. Warum soll ich Ihnen nicht sagen, daß Sie wahrscheinlich den Gatten meiner Georgine kennen?«

»Wäre es möglich?«

»Ist Ihnen Ihr Landsmann Albrecht Brewer bekannt?«

»Wie, der ehemalige Präsident Brewer? Der Besitzer von Bernsloh?«

»Derselbe. Ihn hat Georgine geheiratet.«

»Das ist ein Verwandter meiner Tante, der Senatorin Göhring. Ja, die Brewers sind sehr reich! Doch warten Sie, ich erinnere mich, die Frau Präsidentin hieß Georgine und war aus Lübeck …«

» Hieß? war?« fragte der Doctor erstaunt, »ist sie … schon hinübergegangen?«

»Nein, nein! Mir fällt jetzt alles ein; vor einigen Jahren, als Knabe, hörte ich meine Eltern von der Scheidung sprechen …«

»Was? Ist Georgine von ihrem Gatten geschieden?«

»Ja.«

»Mein Gott! Und wo lebt sie jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Ich hörte, sie sei leidend und weile meistens in Bädern.«

»Sie wissen es nicht. O wie seltsam ist doch …! Kommen Sie, Theodor, es ist Zeit. Wir wollen dort in die Queen-Street einbiegen und zum Conversationshaus gehen, um Ihren Vater zu treffen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns.«

»Versteht sich, Herr Doctor.«

»Und wir sind Freunde, Theodor?«

»Gewiß, Herr Doctor, das sind wir.«

So hatte Sechow den Jüngling gewonnen. Aber ein Geheimniß aus seinem Leben hatte er verschwiegen, ein Ereigniß, welches dem scheinbar so gesetzten, lebensgewandten Manne manche schlaflose Nacht bereitete. Spätere Jahre sollten es erst enthüllen.



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