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Neuntes Kapitel.
Weltschmerz

Bis gegen 12 Uhr dauerte die Soirée bei dem Gouverneur. Auf derselben fiel allerlei für Theodor Interessantes vor. So kam Sir Terence bei seinem Rundgange durch die Reihen der Gäste, von denen niemand, auch der jüngste nicht, vernachlässigt wurde, ebenfalls zu ihm und sagte: »Mr. Göhring, ich habe schon zu Ihrem Papa gesagt: mein Sohn und Sie müssen Freunde werden. Er hat Sie sehr lieb gewonnen.«

»Wir haben gestern auf der ›Cuxhaven‹ wohl zwei Stunden zusammen geplaudert, Excellenz, und uns sehr gut unterhalten. Ihr Herr Sohn hat mir von Indien erzählt.«

»Er ist ein grader, aufrichtiger Charakter, Sie werden ihn schätzen lernen. Warum kamen Sie letztes Jahr so selten ins Government-House? Es war so interessante Gesellschaft da: der Erbgroßherzog von Oldenburg und seine hohe Gemahlin, der gelehrte Ritter von Oppolzer aus Wien, Professor von Holtzendorff aus München, die beiden Lindaus, der Kammersänger Wachtel – o Sie hätten sich ganz sicher unterhalten! Lady O'Brien sagte mir, sie hätte Sie wiederholt gebeten, aber Sie kamen nicht, und Ihre Eltern sind oft hier.«

»Excellenz werden einen jungen Mann entschuldigen, der sich in der Gesellschaft etwas fremd fühlt …«

»Kommen Sie ganz ungenirt. Sie brauchen zum Diner kein evening dress. Wir wollen nur, wie Sie auf deutsch sagen: gemüthliche Leute. Sie haben keine Entschuldigung, seitdem mein Sohn da ist. Er ist sehr begierig, Sie oft zu sehen, und mit Ihrem Papa muß ich auch ein ernstes Wort über Sie reden. Ein Einsiedler werden Sie sonst.«

Mit diesen Worten wandte sich der Gouverneur bereits wieder von Theo ab, doch kehrte er noch einmal zurück: »Ich habe etwas vergessen. Kennen Sie nicht einen jungen Burschen Namens Payens?«

»Hans Payens, Excellenz? Ja freilich,« versetzte Theo überrascht.

»Man hat mir gesagt, Sie würden über den jungen Mann Auskunft geben können. Kennen Sie ihn gut?«

»Sehr gut; aber warum, wenn ich fragen darf?«

»Sie können also gute Auskunft über ihn geben?«

»O, in jeder Beziehung.«

»Das ist schön. Sehen Sie, Mr. Göhring, Lady O'Brien und ich suchen einen zuverlässigen Diener, den wir im Winter mit nach England nehmen können. Der Payens soll ein manierlicher Mensch sein, hörte ich. Sie wüßten über ihn Bescheid, da er Ihr Schiffer gewesen ist und auch sonst bei Ihnen in Condition gestanden …«

»Excellenz, die Sache liegt mit ihm so: Hans Payens …«

»O wir sprechen später darüber! Also kommen Sie oft, Mr. Göhring!«

Sir Terence war verschwunden, aber an Theos Seite stand plötzlich Dr. von Sechow.

»Ah, Herr Doctor!«

»Guten Abend, lieber Freund! Hab' ich das nicht gut gemacht?«

»Gut gemacht? Was, Herr Doctor?«

»Hat der Gouverneur nicht eben mit Ihnen über Payens gesprochen?«

»Das hat er allerdings, und zwar in einer Weise, die …«

»Die ich veranlaßt habe.«

»Sie veranlaßt? Unmöglich! Sir Terence sprach davon, Hans als Diener mit nach England zu nehmen.«

»Ganz recht. Ich hörte, daß Lady O'Brien einen jungen Mann suchte, und schlug Sir Terence Ihren Freund vor.«

Theo trat einige Schritte von dem Doctor zurück und schaute ihn groß an.

»Habe ich das nicht fein gemacht?«

»Ganz und gar nicht, Herr Doctor!«

»Wie? Jetzt ist Ihr Liebling ja versorgt.«

»Wissen Sie, was Sie mir gestern am Strande vorhielten: Sie hätten niemanden, für den Sie sorgen könnten; deshalb seien Sie nicht glücklich. Nun denn, Herr Doctor, mein einziges Glück besteht eben auch darin, für Hans zu sorgen. Ich allein wollte ihn glücklich machen, ihn etwas lernen lassen, ihn aus seiner Sphäre zu meiner Bildung emporheben und ihn …«

»Und ihn dadurch unzufrieden und unglücklich machen, jawohl. Nein, mein Freund, lassen Sie ihn in seiner Sphäre! Als Diener bei Sir Terence wird er eine Laufbahn beginnen, welche ihn zu dem einzig soliden Glücke führt. Er muß innerhalb seines eigenen Standes sein Fortkommen suchen.«

»So wollen Sie mir mein einziges Glück zerstören?«

»Sie sind nicht nur Romantiker, sondern auch ein egoistischer Romantiker.«

»Wenn ich für andere sorgen will?«

»Sorgen Sie für den kleinen Carlito, bis sich das erfüllt, was Ihnen heute Mittag auf der Düne der Meergreis prophezeite, nämlich Glauben, vielleicht Glauben an die Menschheit, die Sie bis jetzt so verachten; zweitens: Glück im Familienkreis, und drittens: hohen Rang.«

»Wer hat Ihnen den Blödsinn denn verrathen?« brauste Theo auf.

»Ich werde mich doch nach zehn Stunden noch an Ihre Schnitte Sandtorte erinnern!«

»Wo steckten Sie denn? Ich suchte Sie vergebens auf der Düne.«

»'mal ehrlich, Freund; haben Sie mich nicht erkannt?«

»Wo sind Sie denn gewesen?«

»Haben Sie gar nicht darüber nachgedacht, wer der Meergreis war?«

Betroffen schaute Theodor auf den Doctor. War es möglich? Hatte der Doctor sich herabgelassen, den Spaßmacher einer Frühstücksgesellschaft zu spielen? Was Theodor, der alles durch eine Weltschmerzbrille sah, in diesem Augenblicke dachte, konnte Sechow von seinem Antlitze ablesen. Es stand da peinliche Enttäuschung, gepaart mit spöttischer Verachtung. Zu offen war Theo, um seine Gefühle zu verhehlen. Der ältere Mann, der natürlich wohl wußte, daß die Motive, die ihn bestimmten, den Bekanntenkreis zu unterhalten und zu erheitern, die stille Kritik des Jünglings nicht verdienten, hielt es doch für das beste, sich vorerst nicht mit ihm auf Erörterungen einzulassen. Mit einem väterlichen »Bis morgen, bis Sie sich von dem Schrecken erholt haben, mein Sohn!« ließ er Theo stehen, und zwei Minuten später war er mit dem Berliner Generalpostmeister v. Stephan in ein Gespräch über die amerikanische Gold- oder Silberfrage verwickelt. Dr. v. Stephan, ein gern gesehener Gast des Gouverneurs, fragte später Lady O'Brien, wie lange Herr v. Sechow in den Vereinigten Staaten gelebt habe, da er so gut orientirt sei über die dortigen Verhältnisse. Solchen Eindruck machte das Lexikon auf alle, die ihn kennen lernten. Es mußte in ihm doch ein sehr solider Kern liegen, daß er bei seiner Vielseitigkeit nicht zum Schwätzer wurde. Selbst die Chanoinesse, die sich lange mit ihm unterhielt, erklärte ihn für einen »extraordinären Geist und dazu für einen Cavalier, wie man sie fin de siècle nicht mehr allzuhäufig antreffe«.

Mit seinem Schwager hatte der arme Theodor übrigens im Hause des Gouverneurs auch noch eine Scene. Nach dem Souper, als Theo bei dem jungen Mr. O'Brien und einigen andern Herren in einer Ecke saß, drängte sich der Graf zu ihm durch und beugte sich schnell zu seinem Ohre nieder: »Theo, bitte, leihe mir eben dein Portemonnaie – ich habe das meinige unglücklicherweise vergessen.«

»Die Börse eines Primaners reicht nicht für das grüne Tuch,« antwortete Theo kühl, in dem Glauben, sein Schwager wolle sich an den Spieltisch setzen.

»Grünes Tuch? Ich spiele nicht. Es handelt sich um eine Wette, die sogleich entschieden werden soll. Nur einen Thaler brauche ich … du kriegst ihn gleich heute Abend wieder. Hilf mir aus der Verlegenheit, lieber Schwager!«

Theo erinnerte sich, daß im Hause des Gouverneurs nicht gespielt wurde. Die Genüsse der Tafel, die Gesellschaft der Künstler und Gelehrten sowie die liebenswürdige Unterhaltung der Gastgeber selbst machten ein solches Aushilfsmittel zweiten Ranges überflüssig. Der Graf hatte seine Bitte immerhin so laut gestellt, daß die in der Nähe sitzenden Herren sie gehört haben mußten. Obendrein mochte die Verlegenheit Waldemars thatsächlich vorhanden sein.

Graf Stormarn zog also mit dem Portemonnaie des jungen Mannes ab. Theodor wußte nicht genau, wieviel Geld er bei sich gehabt; doch einige Goldstücke hatte er erst am Morgen von seinem Vater als Feriengeschenk erhalten.

Als er sah, daß sich ein Theil der Gäste verabschiedete, erhob er sich auch, um Lady O'Brien, die noch, von einem größern Kreise umgeben, den Thee nahm, seine Dankreverenz zu machen. Die Gouverneurin ließ ihn aber noch nicht ziehen. Sie wußte, daß Theo eine schöne Tenorstimme habe, und bat daher: »Mr. Göhring, bitte, geben Sie uns einen Ton! Ich haben Sie nicht gesehen nach das Supper, aber ich haben bereits an Sie gedenkt. Lassen Sie uns einen Song Horen!«

»Mylady, es ist schon spät …«

»O das ist das gleiche! Sehen Sie, das Piano steht noch offen: geben Sie uns einen Song. Miß Douglas wird Sie begleiten.«

Eine schlanke junge Dame, die neben der Gouverneurin saß, nickte bereitwillig. Theo verbeugte sich höflich: »Ich danke Miß Douglas für die Liebenswürdigkeit, muß aber aus zwei Gründen ablehnen. Erstens bin ich ein ganz stümperhafter Dilettant, Mylady, und zweitens kann ich nicht vom Blatt singen. Sie werden nur Lieder haben, die ich noch nicht studirt …«

»O Sie sind zu bescheiden!« meinte die Gouverneurin, und der Kammersänger Wachtel, der die Aufforderung gehört hatte, bat in ermunterndem Tone: »Sie können sicher ein Lied auswendig und werden sich selbst begleiten.«

»Es wäre eine Kühnheit von mir, hier singen zu wollen, nachdem ein Künstler wie Sie die Herrschaften gefesselt hat.«

»Ich höre an Ihrer Sprache, junger Herr, daß Sie eine klangvolle Stimme haben müssen. Ein wenig Kritik sollten Sie überdies nicht fürchten, denn wo so viele schöne Damen Sie zu hören wünschen, brauchen Sie um den Erfolg nicht zu sorgen.«

Mit diesen Worten führte der gefeierte Sänger den verzweifelten Jüngling an den Flügel. Director Göhring und Frau folgten der Scene mit Befriedigung, denn sie wußten, daß Theos prächtige Stimme viele mit seiner gesellschaftlichen Scheu und seinen Sonderlichkeiten aussöhnen würde.

Der junge Mann fügte sich in sein Schicksal. Nach einem ganz kurzen Präludium, welches die Unterhaltung der verschiedenen Gruppen schnell stocken machte, begann er sein Lied:

»O weine nicht, mein Schwesterlein,
Ich weiß, wie du so lieb mich hast.
Doch sähst du in mein Herz hinein
Und drinnen diesen schwarzen Gast –
Du hieltest mich nicht mehr umfaßt.
Hinaus, hinaus
In Sturmgebraus!
Verschwinden und vergessen!
Wer kann mein Leid ermessen?«

Dann folgten ein paar Tacte Zwischenspiel. Alle lauschten gespannt. Wachtel, der an dem Instrument stehen geblieben war, schaute mit lebhaftem Interesse auf Theodor herab. Miß Douglas flüsterte Lady O'Brien zu, das sei die seltsamste Musik, die sie je gehört.

»O Mutter, wenn dein Herz auch bricht,
Mich zwingt mein Los aufs wilde Meer;
Ich fürchte Wind und Wellen nicht,
Nach Sturm und Wetter ich begehr' –
So jung zu sterben wär' nicht schwer.
Hinaus, hinaus
In Sturmgebraus!
Verschwinden und vergessen!
Wer kann mein Leid ermessen?«

Miß Douglas hielt ihren Federfächer vor die Stirne; sie fühlte, daß man die Rührung in ihren Augen lesen müsse. Die Directorin Göhring saß mit stolzem Lächeln in ihrem Fauteuil. Sie hatte heute Abend ihren Preis herausgekriegt: einmal der Gesellschaft ihren gräflichen Schwiegersohn präsentiren dürfen und jetzt aus dem Munde des berühmten Dr. v. Stephan das Lob vernehmen können, ihr jüngster Sohn sei ein ungewöhnlich talentirter junger Mann, künstlerisch begabt und doch ernst und gereift in der Unterhaltung. Theo begann die Schlußstrophe mit großem Feuer:

»Hinaus, hinaus
In Sturmgebraus!
Erhebt zu Gott die Hände,
Daß selig sei mein Ende;
Und laßt die Fragen,
Weshalb ich geh –
Den Winden will ich es klagen
Auf hoher See!«

Noch vor dem Schlußaccord der Begleitung brach der lebhafte, aufrichtige Beifall los. Als Theo sich erhob, drückte ihm der Kammersänger herzlich die Hand: »Bravissimo, junger Freund! Seien Sie sicher, Sie können vortragen. Wo haben Sie studirt? Und von wem war die Musik, und von wem das Lied?«

»Ich habe nie einen andern Gesanglehrer gehabt als den an meinem Gymnasium.«

»Unmöglich! Aber die Musik? Ich kenne das Lied gar nicht.«

»Die Composition ist von mir.«

»Was? Die Worte auch?«

»Ja.«

»Sie müssen mir eine Abschrift der Musik erlauben … oder ist das Lied schon gedruckt?«

Theodor lachte: »Weder geschrieben noch gedruckt. Noten und Text stehen nur in meinem Kopfe.« Die Gruppe von Neugierigen, die sich um das Klavier gedrängt, erschöpfte sich in Ausdrücken der Ueberraschung und der Anerkennung. Dem jungen Manne wurde fast schwindelig. Mechanisch antwortete er auf eine Reihe von Fragen, bis schließlich der finstere Geist ihn plötzlich wieder überkam. Da schob er seine Bewunderer sanft auseinander und suchte die Gouverneurin. Sie empfing ihn mit liebenswürdigem Lächeln: »Es wäre sehr schade gewesen, Mr. Göhring, wenn Sie uns dieses Kunstgenuß nicht gegeben hatten. Ich bin froh, daß ich Sie erinnerte. Wollen Sie uns nicht noch einen andern Song geben?«

»Mylady, Sie werden mich gütigst entschuldigen und mir erlauben, daß ich mich empfehle. Ich bin des Morgens schon früh im Segelboot. Ich danke ergebenst für den Abend.«

»Mr. Göhring, Sie müssen morgen zum Lunch kommen und mit den jungen Leuten Lawn-Tennis spielen. Mein Sohn wird sich sehr freuen.«

»Ich bin kein Lawn-Tennis-Spieler, Mylady.«

»O es ist das gleiche. Mein Sohn wird Ihnen zeigen. Ich erwarte Sie gewiß zum Lunch um 12½ Uhr.«

Zwei dunkle Mädchenaugen ruhten einige Augenblicke erwartungsvoll auf dem melancholischen Antlitz des Jünglings, aber auch nur einige Augenblicke; denn Miß Douglas wandte sich bereits wieder zu dem Grafen Zichy hinüber, als Theodor der Gouverneurin erwiderte: »Wenn ich zeitig genug von einer verabredeten Segelpartie zurück bin, werde ich mir erlauben, zum Lunch zu erscheinen. Da ich zu der Ausfahrt aber eingeladen bin, liegt es nicht in meiner Hand, Mylady.«

» Oh I see, Mr. Göhring. But I hope, you will be back in time. My son is very fond of your company, and the ladies too will enjoy it, I am sure. Good night, Mr. Göhring!«

Theodor bemerkte nicht, daß Miß Douglas ihm bei Verlassen des drawing-room wieder einen Moment nachschaute. Auf dem Corridor traf er seinen Schwager, der sich soeben anschickte, mit einigen andern Herren das Haus zu verlassen. Stormarn rief: »Ah, da kommt mein Schwager. Der geht gewiß auch mit. Der ist hier ein Practicus und gewiß der beste Cicerone auf der Insel.«

»Schon nach Hause, Waldemar?« fragte Theo.

»Keine Idee, wir wollen uns mal das Roulette ansehen. Einerwärts auf dem Unterlande – na, du wirst schon wissen!«

»Glücklicherweise hat der Gouverneur vor acht Tagen die Spielhölle ausnehmen und das Roulette am Strande öffentlich verbrennen lassen.«

»Sie sind schlecht orientirt,« rief Dr. Kerkenhusen, »denn sechs Stunden nach der Execution wurde eine neue Bank in einem andern Locale etablirt.«

»Ist das möglich, Herr Doctor?«

»Es ist ja öffentliches Geheimniß. Dahin gehen wir jetzt. Sind Sie fertig, Graf?«

»Sofort. Wo hat denn dieser Esel von Diener meinen Stock gelassen? Potz Kyritz und Strambach!«

Der Bediente half in der Garderobe suchen und brachte den vermißten Gegenstand, wofür er von Stormarn aus Theos Portemonnaie ein Trinkgeld erhielt.

»Mein Portemonnaie!« erinnerte der erstaunte Schwager leise, »du vergissest, Waldemar …«

»Was vergesse ich? Ich vergesse gar nichts. Komm mit uns, wir wollen deine Zehn- und Zwanzigmarkstücke sich vermehren lassen …«

»Gib mir mein Portemonnaie!«

»Morgen, Theo. Es soll uns noch beim Roulette dienen …«

»Gib mir mein Portemonnaie, sage ich!«

Die andern Herren waren schon vorausgegangen und standen vor dem Hause. Graf Stormarn steckte das Geld in seine Tasche und sagte lachend: »Du kannst den Alten immer anzapfen, Freund. Mir ist er aber sehr wenig hold.«

»Gib mir das Geld!«

»Es ist gut bei mir aufgehoben. Ich will mich heute Abend einmal amüsiren, Roulette spielen und dann mich weiter auf dieser schönen Insel umsehen.«

Theodor, der nicht merkte, daß der Graf dem Glase gut zugesprochen hatte, wurde aufgeregt.

»Willst du mir mein Geld geben oder nicht?« fragte er.

»Nein,« lachte der Riese und wirbelte seinen Stock in der Luft herum.

»Und warum nicht?« fragte der junge Mann weiter, vor Wuth zitternd.

»Weil ich keinen Pfennig habe und mich amüsiren will. Ihr seid ja reiche Geldsäcke.«

Damit ging er hinaus. Theo folgte. Die andern Herren waren schon wieder voraus.

»Waldemar, wenn du nicht der Gatte meiner Schwester wärest, würde ich dein Benehmen beim richtigen Namen nennen.«

»Strambach! Wie ein Primaner, ein junger Springinsfeld, ein … kurz, wie du vom Grafen Stormarn denkst, ist mir höchst schnuppe. Gute Nacht!«

Theo nahm alle seine Selbstbeherrschung zusammen. Aber er mußte doch herauslassen: »Ein nobler, sehr nobler Graf von Habenichts!«

Kaum hatte Theo das gesagt, so bereute er es. Er hatte die Ruhe und damit seine Position verloren. Hohnlachend warf ihm der Cyklop das Portemonnaie zu: »Hier, Knabe, fang! Ich werde mir das Nöthige von einem Cavalier leihen. Wärst du Universitätsstudent, würdest du wissen, wie du dich benommen hast.«

Dann eilte er den Voraufgegangenen nach. Theodor, der vor Aerger kaum stehen konnte, lehnte sich an ein Holzstaket und trocknete sich die glühende Stirne. Er wurde nicht von den beiden Herren bemerkt, die ebenfalls vom Government-House kamen und dicht bei ihm vorbeigingen. Die Stimme des Doctor Lexikon tönte an Theos Ohr: »Ich bedaure die Directorin nicht im mindesten, auch die Tochter nicht. Die Vorgeschichte des Grafen war ja allen bekannt. Die eigenen Kameraden verachteten diesen Cyklopen, wie sie ihn nannten. Aber natürlich – die Mathilde konnte Gräfin werden!«

Der andere versetzte: »Es ist der reinste Seelenverkauf. Unsere Hamburger Gesellschaft wird dadurch zu Grunde gerichtet. Die Zeiten, wo ein solider Geschäftsmann oder ein guter Jurist als willkommene Schwiegersöhne galten, sind vorüber. Jetzt müssen die Mädels alle Baroninnen und Gräfinnen werden.«

»Sehen Sie, lieber Generalkonsul, mit dem einen Sohn haben die Göhrings auch kein Glück …«

»Mit dem jüngsten, meinen Sie, der heut das leidenschaftliche Lied zum besten gab?«

»Nein, nein. Der Theo kommt zurecht, wenn auch nach vielen Kämpfen. Der hat Charakter. Nein, ich meine den Ueberseeer, der die Spanierin, die Katholikin geheiratet hat. Der wird die Frau und das arme Kind …«

Mehr konnte Theodor, der mit größter Aufmerksamkeit gehorcht hatte, nicht verstehen, denn die beiden gingen schnell vorbei. Das Lob, welches er soeben vernommen hatte, machte seine Wangen zwar noch mehr erglühen, gab ihm aber auch einen Theil der guten Laune zurück. Ach was! dachte der junge Mann, ich lasse meinen ehrenwerthen Schwager laufen! Behandelt er mich hochmüthig und wie einen dummen Jungen, so will ich in ihm sehen, was er trotz seines Volumens für mich ist: Luft! »Luft, ja Luft, Luft, nichts als Luft!« rief Theo mehrmals aus, als er die Steinmauer der Falm entlang schritt. Und mit jedem neuen »Luft« schlug er mit der Faust gegen den Wall – ein Zeichen, daß er doch nicht so ruhig war, wie er glaubte. Die Bemerkung des alten Generalkonsuls gefiel ihm: jetzt müssen die Mädels alle Baroninnen und Gräfinnen werden; früher genügte ein Jurist oder ein solider Kaufmann. Alte, ritterliche, mit der Geschichte des Vaterlandes verwachsene Geschlechter, die ließ er sich freilich gefallen. Aber wie viele altaristokratische Familien endeten doch elend und erbärmlich! Zum Beispiel die Stormarns … »Luft!« ging es wieder, und die Jünglingsfaust sauste gegen die Steinwand. Dieses Mal erhielt Theodor aber Antwort.

»Luft?« fragte eine wohlbekannte Stimme.

»Hans!«

»Siehst du wohl, daß ich warte! Warum riefst du denn ›Luft!‹, Theo?«

»Weil die ganze Welt närrisch, unsinnig, thöricht, luftig ist.«

»Du auch? und ich?«

»Wir zwei natürlich ausgenommen – wenigstens du – ich bin auch närrisch.«

»Manchmal ja, z. B. heute. Hast du dich gut amüsirt, Theo?«

»Miserabel!«

»Erzähle mal etwas. Komm, wir gehen zur Nordspitze, obwohl es so stürmt.«

»Laß es stürmen. Ist mir gerade recht.«

»Und nachher gehen wir ins ›Grüne Wasser‹, wo Tanzmusik ist.«

»Was sollen wir da?«

»In dem kleinen Zimmer hinter der Schenke warten die Jungens, deine alten Freunde, auf uns. Wir wollen singen.«

»Das ist mal gescheit, Hans. Wir wollen aber erst auf mein Zimmer gehen, denn ich muß diesen langweiligen Salonanzug loswerden. Ich zieh' mich ganz als Hollunder an.«

»Hast du denn die Sachen?«

»Ich habe alles in meinem Koffer, noch vom vorigen Jahre.«

Sie gingen also miteinander in die Villa. Theodor warf seine Lackstiefel in die eine Ecke seines Zimmers, die Manschetten in die andere. Dann flogen Frack, Weste, Hose auf verschiedene Stühle oder Sophas. Das feine Hemd mit den kostbaren Boutons folgte. Hierauf stieg der junge Mann, dem Hans bewundernd zusah, in ein weites Beinkleid von dickem, dunkelblauem Tuch. Statt des sorgfältig gesteiften Vorhemdes zog er eine ebenfalls blaue, gestrickte Wolljacke, einen sogen. Jersey-Sweater, über den Oberkörper. Hierauf folgte die leinene weiße Bluse. Endlich wurde eine Kalkpfeife mit Tabak gestopft und angezündet.

»Jetzt smokst du gar eine Schifferpiep!« lachte Haus.

»Versteht sich. Hier ist auch der Tabak für dich. Kannst du sechs Pakete in deiner Tasche unterbringen? Wohl nicht?«

»Nicht doch! Ein Paket ist genug«.

»Gut, die andern kannst du nachholen.«

»Nicht doch, das ist zu viel!«

»Es ist ein feiner Tabak, Haus. Hier auf der Insel kriegst du keinen so guten. Uebrigens, ich habe noch zwei Pakete andern, den verteilen wir heute unter die Jungens. Oder rauchen die wohl lieber Cigarren? Ich will auch Cigarren mitnehmen. Halt, beinahe hätte ich das Geld vergessen … So, da ist mein Portemonnaie, das der Schuft fast mitgenommen hätte …«

»Welcher Schuft, Theo?«

»Hans, das erzähle ich dir mal, wenn ich ruhiger bin. Ich bin colossal wüthend heute, und wenn ich dich nicht hätte, würde ich … würde ich … nun, kurz und gut, du bist mein einziger Freund, mein Bruder, Hans.«

Das wurde durch eine Umarmung bestätigt.

»Ist denn was los, Theo?« fragte Hans besorgt.

»O nichts; wenn ich die trüben Gedanken nicht los werde, schütte ich dir schon mein Herz aus. Höre, wollen wir nicht erst ins ›Grüne Wasser‹ und dann allein zur Nordspitze gehen? Es ist schon gegen 12 Uhr.«

»Das ist ebensogut. Sonst gehen die Jungens vielleicht schlafen, ehe wir kommen. Natürlich, Theo, ich dachte nicht, daß es so spät sei.«

»Hast du lange auf mich an der Falm gewartet?«

»Seit zehn.«

»Du treue Seele! Aber nun komm!«

»Du hast ja noch keinen Hut.«

»Der liegt unten im Zimmer; ich meine die Segelmütze. Aber halt, da schläft die alte Tante meines Schwagers seit heute. Zu dumm. Ich habe den Hut und meine Flinte auf den Schrank gelegt, als die Bude noch leer war. Allerdings, die Gräfin ist noch nicht zurück von Gouverneurs. Mama, Matty und sie müßten uns sonst an der Falm eingeholt haben. Während ich mich umzog, ist auch niemand gekommen – wart, wir holen die Mütze schnell.«

Im zweiten Stockwerk angekommen, öffnete Theodor resolut die Zimmerthüre und ging auf den Schrank zu. Er brauchte kein Licht, denn er wußte genau, wo seine Sachen lagen. Er reckte sich, um aus den Schrank langen zu können. Die Midshipman-Cap hatte er glücklich erwischt, aber – o Schrecken! – er hakte mit dem Aermel an die Jagdflinte … dieselbe fiel mit Gepolter aus den Boden, und von der andern Zimmerseite her ertönte ein Angstschrei. Zum Kuckuck! dachte Theo, die Gräfin ist doch nicht schon schlafen gegangen? Nichtig! Im Bette saß eine magere, weiße Gestalt, die in der nicht vollständigen Dunkelheit eben noch zu erkennen war. Theodor, der am Fenster stand und gerade den Mund zu einer Apologie öffnete, sah sich plötzlich mit Morgenschuhen, Streichholzschächtelchen, Haarkämmen und einem Lichtstummel bombardirt. Dazu ertönte die Stimme der Chanoinesse: »Sie insolentes Subject! machen Sie sich fort! ich habe eine Waffe im Zimmer! Hilfe, Hilfe!«

Laut auflachend stürzte Theo hinaus, schlug die Thüre zu, zog den verdutzten Hans, der den Lärm vom Corridor gehört hatte, schnell mit auf die Straße, schloß die Villa mit dem Nachtschlüssel von außen wieder ab und eilte schnell die Falm hinunter. Erst nach einer Weile erzählte er Hans den Vorfall und fügte hinzu: »Jetzt wird die ganze Gesellschaft schon auf den Beinen sein und das Haus durchsuchen.«

»Sollen wir nicht lieber zurückkehren? Was sollen sie sich unnütze Angst machen!«

»O, Papa wird sehr bald erklären, die Chanoinesse habe geträumt. Erkannt hat sie mich keinenfalls.«

»Es wäre doch besser, du kehrtest eben um …«

»Ach was, Hans!«

»Na, wie du willst – du mußt deine Familie kennen.«

»Ja, freilich, die Meinigen sind nicht so zart besaitet!«

Theodor war nicht boshaft, aber heute in seinem Grimme etwas gereizt zu Muthe. Ihn belustigte die Vorstellung, die er sich von dem Tumulte in der Villa machte. Unter andern Umständen hätte er nicht so gehandelt, sondern Hans beigepflichtet, der ihm wiederholt vorhielt, er müsse den Streich wieder in Ordnung bringen, sonst werde die alte Dame keine ruhige Nacht mehr in dem Hause verleben.

Die Freunde debattirten noch eine Weile über den Fall, aber schließlich vergaßen sie die Scene. Der Nordwind heulte recht unangenehm, als sie das »Grüne Wasser« erreicht hatten. Schnell traten sie in den heißen Saal, in welchem Tanz und Musik noch im Gange waren.



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