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Zehntes Kapitel.
Sturmnacht

Legationsrath von Pechtler, Graf Stormarn und Dr. Kerkenhusen hatten das Roulette bald satt. Sie fanden, daß ihnen Fortuna diesen Abend nicht hold sei, und beschlossen, sich um die Gunst einer andern Göttin zu bewerben. In dieser Absicht suchten sie ebenfalls nach Mitternacht das »Grüne Wasser« auf. Aber auch dort hielt es nur der Cyklop auf die Dauer aus. Herr von Pechtler, der bereits mit seiner in Potsdam lebenden Mutter, der verwittweten Generalin von Pechtler, wegen der bleichsüchtigen Commercienrathstochter in Briefwechsel stand, hatte wenig Sinn für den Hollunder Nationaltanz und die Unterhaltung mit einer Dorfschönen. Er hoffte, am Morgen eine Depesche von seiner Mutter zu empfangen, und dann wollte er bei dem Geheimen Commercienrath Barband sofort um eine Million anhalten; und falls Papa, Mama und Rosa ja sagten – was sie doch unfehlbar thun mußten –, war Erich von Pechtler innerhalb der nächsten 12 bis 20 Stunden glücklicher Bräutigam und konnte im sichern Besitze einer – Braut selbst auf seinen vortheilhaft verheirateten Bruder Moriz stolz herabblicken. Die Gattin des Majoratsherrn war freilich eine Gräfin Hohnitz aus dem Hause Leersa, aber das wog die Commercienrathstochter mit andern Vorzügen auf, und ihre älteste Schwester Lina war ja bereits die Gemahlin des »unvergleichlichen Schwerenöthers Wilderich von Gollwitz«, eines Intimus des Grafen Stormarn. Im Vorgefühl seines neuen Lebensstandes fühlte Pechtler etwas wie eine solide Anwandlung und ging früh, d. h. noch vor 1 Uhr, schlafen. Referendar Dr. Gustav Adolf Kerkenhusen war ebenfalls angegriffen. Er besaß weder die conservativen Grundsätze noch infolgedessen die robuste Gesundheit seines ehrwürdigen Großvaters, des alten Bürgermeisters Dr. Kerkenhusen, Magnificenz, welcher seit dem Tode des Senators Prätorius trotz vorgerückten Alters wiederholt das Präsidium Eines Hohen Senates der Freien und Hansastadt Hamburg bekleidete. »Guschy Kerkenhusen«, wie er in der Gesellschaft hieß, wußte instinctiv, daß junge Leute aus »alten Familien«, die auf der Universität obendrein wenig scrupulös gelebt haben, nicht sehr widerstandsfähig sind, und deshalb drückte er dem Grafen gegen 1 Uhr ebenfalls die Hand: »Es ist mir hia – ›hia‹ sagen die meisten Hamburger – zu dumpf im ›Grünen Wasser‹. Gu'n Nacht, Graf!«

»Strambach, jetzt wird's ja erst recht gemüthlich, Referendärchen! Wir fangen auch an zu walzen.«

»Ich bleib' nicht länger hia. Amüsir'n Sie sich weiter, gu'n Nacht.«

»Seien Sie kein Frosch, Doctor …«

»Kopfweh hab' ich hia in dieser Kombüse gekriegt. Ich gehe.«

Und fort war er. Der hochgeborene Graf Waldemar, der übrigens seine Weinlaune schlecht verbergen konnte und trotzdem an der Schenke einen Grog nach dem andern bestellte – er hatte den Referendar erfolgreich angepumpt –, encouragirte die jungen Burschen immer wieder zum Tanzen und führte allerlei Reden, sodaß er schließlich Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde. Die Mädchen kicherten, und die Jünglinge hatten ihn zum besten. Als nach dem dritten Grog die Tanzmusik wieder begann, lallte der Cyklop: »Strrambach! Den Na–nanana–tionaltanz no–nochmal! Vorwwwärrts! Schmeiße eine ganze Runde Sect für die Tä–tä–tänzer! Ist einfach fffeenhaft! Groß–art–artig! Musik, los!«

Die Musiker zögerten. Es war Gewohnheit, den Nationaltanz auf Wunsch auszuführen, wenn Badegäste zuschauten; aber die jungen Mädchen weigerten sich, diesem betrunkenen Fremden den Gefallen zu thun. Ein Schiffer ging zu Stormarn und sagte höflich: »Herr, es ist schon spät, und die Musik ist auch müde. Wir gehen bald heim. Ein andermal.«

»Na–nationaltanz! Verstanden? Musik, los!«

»Nächsten Sonntag, Herr. Die Leute mögen nicht mehr.«

»Mögen nicht?« schrie der Graf mit seiner bekannten Stimme, »das ist ja un–un–erhört! Leute antreten! Schwadron zum–zum– Strambach! Ah so! Kerl, ich tanze mit. Ich – – verstanden?«

»Herr, es ist schon 1 Uhr vorbei …«

»Musik, Illos!«

Wirklich begannen einige schrille Geigen aufs neue.

»Und wir müssen morgen alle arbeiten!«

»Tanzen sollt ihr, wenn ich be–be–befehle, ihr Schufte!« schrie der Graf und wankte durch den dumpfen, niedrigen Saal auf ein junges Mädchen zu, um mit ihr einen Walzer zu riskiren. Er wurde abgewiesen. Mit hochrothem Kopf wollte er das Mädchen zu dem Tanze zwingen, und schon faßte er die geängstigte Person mit eisernem Griff um die Taille, da packten ihn selbst derbe Fäuste beim Kragen, und ungeachtet seiner Körperkraft und seines verzweifelten Widerstandes schleppten ihn ein paar Jünglinge unter dem Gelächter aller Anwesenden zum Saal hinaus auf den Hof hinter der Schenke, um ihm zu heilsamer Abkühlung in einer Regentonne zu verhelfen. Die Procedur rief natürlich laute Gegendemonstrationen von seiten des Opfers hervor. Man schrie und lachte, rang miteinander, fiel übereinander und tobte durcheinander. In fünf Minuten herrschte ein solcher Heidenlärm, daß der Besitzer des »Grünen Wasser« sein Local zu räumen beschloß.

In einem vom Tanzboden getrennten Zimmer hatte Theodor mit Hans und einem Kreise harmloser junger Freunde beim Bier gesessen und Lieder gesungen. Auf den Spectakel hin eilte die kleine Gesellschaft auch auf den Hof, um zu sehen, was es gebe. Die Nacht war stockdunkel, und der Sturm fegte über die Dächer, als ob er den Wirrwarr nur noch erhöhen wollte. Theo und seine Kameraden konnten nicht herausfinden, um was es sich handle.

»Eine Laterne! Licht!« riefen ein paar Stimmen. »Licht! bringt doch Lampen! Man sieht ja keinen Menschen in dem Knäuel!«

Endlich kam der Wirt mit einer hellen Handlaterne. Der betrunkene Graf schwebte gerade über dem Spiegel des Fasses, von sechs starken Armen gehalten.

Da drängte sich ein junger Schiffer dicht an die Gruppe heran: »Noch nicht stauchen, Jungens! Vor dem Bade eine Tracht Prügel, damit ihm erst warm wird. Ich kenne den Halunken.«

»Was ist los, Hinrik? Wer ist der Kerl? Woher kennst du ihn?«

»Ich kenn' ihn. Es ist der Kerl, der Payens' seiner Cousine die Ehe versprochen hat und ihr infamigt sitzen ließ.«

»Is dat woar? Los auf ihn! gebt's ihm! frisch! du sauberer Halunke!« tönte es darauf im Chor, und der Graf, der von dem Grog und dem Lärm halb betäubt war, fiel auf das Pflaster und wurde dort von 20 bis 30 Fäusten kräftig bearbeitet. Mit einem Rucke aber gelang es dem Cyklopen, sich aufzurichten und einige seiner Peiniger loszuwerden. Das Licht der Laterne fiel dabei voll in sein aufgedunsenes Gesicht.

Theo packte entsetzt den Arm seines Freundes: »Um Himmels willen – Hans! mein Schwager! Wie kommt der unter die wüthende Rotte?«

»Bleib du hier, Theo, hörst du? bleib hier und mische dich nicht darein. Ich will deinen Schwager schon loskriegen,« versetzte Hans entschlossen und trat unter die erregte Masse. Erstaunt wichen einige Burschen zurück: »Payens!«

»Lasset diesen Herrn los!« befahl Hans.

»Hans, das ist ja der Lump, der deine …«

»Gebt ihn los, sag' ich! Ich weiß alles. Ich hätte das erste, beste Recht, Rache zu nehmen; doch laßt ihn los!«

Schnell, wenn auch unwillig, wurde der Graf in Freiheit gesetzt. Wie ein wüthender Tiger wollte Stormarn sich nun auf seinen Retter stürzen, aber ein Blick aus diesen Augen bannte ihn. Hans schaute dem Grafen unbeweglich ins Gesicht, und vor seinem ruhigen Blicke fing der Schuldige an zu zittern. Die Nüchternheit kehrte theilweise zurück und ließ ihn die beschämende Situation erkennen, in welcher er sich befand. Die Burschen standen erwartungsvoll in einem Kreise um die beiden herum.

»Kennen Sie mich?« fragte Hans den Grafen, nachdem er ihn eine lange Weile ernst und schweigend fixirt.

»Wer … wer sind Sie? Ich weiß nicht,« stotterte der Cyklop, der alle Kraft zu verlieren schien.

»Herr Graf! Sie kamen mir gleich bei Ihrer Ankunft bekannt vor, doch konnte ich mich erst nachher wieder erinnern, deutlich erinnern, wo ich Sie gesehen hatte. Erinnern Sie sich auch?«

»Ich … mir ist … nein, ich erinnere mich nicht.«

»Dann will ich Ihrem Gedächtniß aufhelfen. Als die Sache passirte, Herr Graf, war ich noch ein kleiner Junge, höchstens 12 Jahre alt; daher habe ich mich heute Nachmittag nicht gleich besinnen können. Sie aber waren damals schon ein stattlicher, erwachsener Herr, wenn schon noch nicht verheiratet, was Sie jetzt sind. Sie müssen sich erinnern …«

»Was soll das? Was wünschen Sie von mir?« stieß Stormarn hervor. Der lauschende Kreis, den Theo nicht zu durchbrechen vermochte, schloß sich immer enger um Hans und seinen Gegner.

»Ich weiß jetzt wieder ganz klar,« fuhr ersterer fort, »wer der stolze Herr war, der an einem Sonntag Abend, als mein Onkel und meine Tante in Cuxhaven waren und ich in ihrem Hause schlief, weil meine Cousine …«

»Ha, deine Cousine! Willst du wohl dein Maul …« fuhr Stormarn auf.

»Ruhe! zuhören! haltet den Kerl fest!« schrie der Chor.

Hans redete gelassen weiter: »Meine Cousine wollte nicht allein in dem Hause schlafen, wo so viele Badegäste aller Art – ja, aller Art, Herr Graf – wohnten. Sie bat meine Schwester, ob ich nicht zu ihr ziehen dürfte für die Zeit, wo die Eltern fort waren. Drei Tage dauerte es nur. Der letzte war ein Sonntag, Herr Graf. Da war es, als ein stolzer Herr – Sie kennen ihn, Herr Graf! – mir ein Goldstück in die Hände drückte, damit ich …«

»Canaille!« knirschte Stormarn, den wieder mehrere festhielten.

»Damit ich Ihnen das Geld wieder vor die Füße würfe. Allerdings war ich kleiner Kerl zu dumm und zu schwach, um den feinen Herrn von seinem Verbrechen abzuhalten. Ich konnte meiner armen Cousine nicht helfen. Sie wollte obendrein ihr Unglück. Sie glaubte Ihren Worten, Herr …«

Stormarn riß sich abermals los und packte Hans an der Kehle. Aber im Nu lag er wieder auf dem Boden, und die Burschen warteten nur auf einen Wink von Hans, um alles mit dem Grafen zu thun, was man verlangt hätte. Theodor bemühte sich vergebens, in die Nähe der Hauptpersonen zu gelangen. Er hörte nur, wie Hans fortfuhr: »Das Verbrechen war begangen. Welches? brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Die ganze Insel weiß es, seitdem meine Cousine vor Gram starb. Die Leute meinen, ich sehe meiner Cousine ähnlich. Das wird wohl richtig sein. Denn als Sie mich heute anschauten, Herr Graf, erschraken Sie. Ihr schlechtes Gewissen erschrak. Sie wissen, daß wir Sie anzeigen können. Sie sind in den Händen des Volkes, das Sie beleidigt haben. Jetzt liegen Sie da am Boden, im Kothe – wo Sie hingehören. Aber wir wollen es Gott überlassen. Sie zu richten. Wir verzichten darauf, weil wir nicht eine andere Frau – Ihre Frau Gräfin, Herr Graf – unglücklich machen wollen. Sie sind sicher, daß kein Hollunder Ihnen ein Haar krümmen wird, wenn ich für Sie bitte, und wenn ich noch etwas hinzufüge – aber das müssen Sie frei anhören – Jungens, laßt ihn los!«

Die eben noch so wüthenden jungen Männer gehorchten augenblicklich, wenn auch nicht ohne Kampf. Hans schien eine Art von Autorität auszuüben. Beschämt und in gebeugter Haltung stand der Graf vor dem Jüngling, wie ein Geist der Tiefe vor einem strahlenden, schönen Baldur. Den Knaben hatten Zorn und Entrüstung zum entschlossenen Manne gemacht.

»Herr Graf,« sagte Hans mit fast mild klingender Stimme, »wenn Sie noch nicht genug gedemüthigt sind, um Ihr Verbrechen zu bereuen, so muß unser Herrgott Ihre Sache weiter führen. Wir Hollunder wollen Ihrer jetzigen Gräfin keinen Kummer bereiten. Was ich noch zu sagen habe, ist dies: Herr Graf, Agatha hat Ihnen am Tage ihres Todes – verziehen.«

Stolz wandte sich Hans von der fast gebrochenen Gestalt ab und ging in den Saal. Das Beifallsgemurmel seiner Kameraden folgte ihm. Theo, der von dem Strome der durch die Thüre Drängenden mitgerissen wurde, sah seinen Schwager in höchster Aufregung auf die Straße eilen. Er wollte ihm nach, aber vor der Hausthüre war Hans an seiner Seite: »Laß ihn gehen! Es ist besser, er ahnt gar nicht, daß du um seine Sache weißt. Er hat dich nicht gesehen. Er meint, es seien bloß Hollunder Jungens dabei gewesen.«

»Aber werden die wirklich schweigen?«

»Ganz gewiß, schweigen wie der Neistackfels an der Nordspitze.«

»Hans, heute Abend habe ich dich wirklich bewundert. So edel, so schön und so herrlich kamst du mir vor. O Hans, welch ein Mensch bist du! Nie, nie kann ich einen andern Menschen lieben wie dich!«

Payens drückte die Hand des Freundes: »Die Sache hat dich aufgeregt, Theo. Du sprichst auch aufgeregt. Du brauchst mir nicht zu sagen, daß du mich liebst, mein Bruder. Und doch …«

»Was, und doch?«

»Nach meinem Tode wirst du ein Mädchen lieben, das deine Frau wird und dich glücklich macht.«

»Hans, bist du von Sinnen? Was sprichst du vom Tode?«

Der junge Schiffer zog Theo mit sich fort durch die finstere Gasse und antwortete nicht. Sie kamen an das freie Feld und blieben stehen, stumm in das Dunkel hinausblickend, durch welches die Brandung und der Sturm zu ihnen herüberheulten.

»Wie pechschwarz! wie unheimlich dunkel!« sagte Theo.

»Ja, ich sprach vom Tode. Auch der ist dunkel. Doch Gott wird ihn licht machen. Wir hoffen ja.«

»Aber, mein Hans, was soll das? Wer denkt ans Sterben?« Theo fühlte, wie eine Thräne auf seine Hand fiel. Er hatte den Arm um des Freundes Nacken gelegt. »Du weinst, Hans?«

»Nicht doch.«

»Ich fühle ja deine Thränen. Freilich das erste Mal, daß ich dich weinen sehe.«

»Wollen wir es wagen, durch den Sturm zur Nordspitze?« fragte Hans ausweichend.

»Meinetwegen! Aber sage mir, warum du traurig bist. Sonst bist du der Sonnenschein und ich der trübe Nebel.«

»Du hast ein Recht es zu wissen, mein Bruder. Wenn wir drunten bei der Nordspitze sind, reden wir miteinander. Nun komm, setze die Mütze fest – es geht nur schwer gegen den Nordwest. Frage nicht mehr, bis wir dort sind!«

Für tief empfindende, leidenschaftliche Seelen gibt es Stunden, in denen sie nichts wissen wollen von Frieden und ruhigem Genuß. Kampf, Aufruhr, Sturm sind ihr Element. Wo die entfesselten Naturgewalten toben und wüthen, da fühlen sie sich mitgezogen, angeregt, erfrischt. Wenn es drinnen im Herzen wogt und stürmt, dann lautet die gewaltige Sprache der Wogen und der Winde einzig sympathisch und ergreifend. Sieh sie dem brausenden Nordwest entgegendrängen, diese romantischen Jünglinge, diese seltsamen Freunde, immer voran, voran mit pochendem Herzen und wallendem Blut! Dem einen ist zu Muthe, als ob das Ringen mit dem Sturme ein Vorspiel sei zu dem beginnenden Drama seines bewegten Lebens; der andere fühlt, als ob es sich um den letzten Kampf handle, der die Kraft seiner Jugend erschöpfen soll.

Kein Stern steht am Himmel. Nur von Zeit zu Zeit reißt der Nordwest eine Bresche in die schwarze Wolkenmauer des Firmamentes. Dann schießt das silberne Mondlicht durch die Oeffnung und beleuchtet einen Streifen der schäumenden Salzfluth. Jetzt sieht das Auge die dunkelgrünen Wellenrosse mit weißer Mähne wie Mauerbrecher gegen die rothe Inselfestung anstürmen. Gegen die Nordspitze zu und erst dort, wo der Hengst oder Neistack, der einsam stehende Felskoloß, wie ein Riese aus alter, sagengrauer Zeit vor dem Eiland aufgepflanzt steht, als wolle er zuerst den Anprall der Feinde aufhalten – da, ganz am äußersten Ende der Klippe, ist das Schauspiel am gewaltigsten. Von allen Seiten brüllt die Brandung ihren furchtbaren Schlachtgesang. Mag sie auch tausend und abertausend Male zurückgeschlagen werden – sie wird im Bunde mit der Zeit die stolze Feste zu Fall bringen. Jeder Angriff schwächt den Mauerwall um ein geringes, aber er schwächt ihn. Wie im Vorgefühl ihres Triumphes wirft die See von Zeit zu Zeit ihren sprühenden Gischt wohl über anderthalb hundert Fuß hoch in die Luft; und hat sie nach monatelanger Arbeit ein Felsstück vom Hauptlande losgerissen, oder stürzt ein mühevoll unterwaschenes Steinthor mit seinen kantigen Pfeilern und bizarren Bogen endlich krachend in die Tiefe, dann zischen und wirbeln die gierigen Wellen eine Weile um die Stelle, wo sie den Sieg errungen haben, um alsbald ihren Angriff auf neue Blößen des Feindes zu richten.

Aufrecht über dem Klippenrande stehend dem Nordwest zu trotzen, ist gefährlich und fast unmöglich. Die beiden Freunde strecken sich, einige Schritte vom Abgrund entfernt, in das Gras. Da liegen sie wie im Lee, und der Wind pfeift über ihre Köpfe hinweg, ohne ihnen etwas anzuhaben. Aber der plötzliche Schutz vor dem Sturme treibt das unruhige Blut in Wangen und Schläfen.

»Hans,« sagt Theo, »nun sprich zu mir. Warum ist deine Heiterkeit dahin?«

»Wenn du es tragen kannst, so höre. Aber unterbrich mich nicht, denn was Gott geordnet hat, können wir doch nicht ändern.«

»Du machst mich immer besorgter, aber sprich!«

»Schau, Theo, von uns Friesen hat der eine oder der andere wohl die Gabe, in die Zukunft zu schauen, sein eigen Geschick vorherzuwissen …«

»Von den Schotten und Westfalen habe ich solches gehört … sie nennen es das zweite Gesicht, das Gesicht des Kiekers.«

»Wie die Gabe heißt, weiß ich nicht. Aber wohl weiß ich, daß Gott sie einigen Menschen gibt. Sie muß wohl zum Guten gegeben sein, denn alles, was von Gott kommt, ist ja gut. Nun schau, Theo – komm, gib mir deine Hand und höre mich an. Wie ich heute Abend auf dich wartete und über die Brüstung der Falmmauer lehnte und auf die dunkle Rhede hinausschaute und die vielen Lichter unter mir zählte, da sah ich plötzlich ein graues Mittelboot von der Landungsbrücke abstoßen und in dem Boote saß – ich selbst.«

»Aber Hans …«

»Hör weiter! Es war kein Traum. Ich schaute ein paarmal nach, ob ich wachte. Ich hörte alles, was um mich her vorging, und verstand, was die Leute sprachen, die über die Falm gingen. Das Boot aber, das ich auf dem Wasser sah, glitt schnell vom Lande fort. Ich verfolgte, wie ich das Segel setzte – ein großes, schwarzes Segel war es, mein' ich. Dann nahm ich das Steuer in die Linke, und in der Rechten hielt ich die Schoote, damit ich – wenn eine Bö käme – gleich das Segel fallen lassen konnte. Ich hatte drei Reffe, denn es ging eine starke, stößige Brise. Bis in die Nähe der zweiten Telegraphenboje gelangte ich, Theo – da wurde mit einemmal das Wasser ganz kraus und durcheinander. Ein Windstoß kam, und ehe ich das Segel niederlassen konnte, kenterte das Boot. Ich …«

»Du hast geträumt, Hans …«

»Hör mich zu Ende, Theo. Ich kam unter das Boot, konnte mich aber wieder frei arbeiten, und als ich klar war, suchte ich ans Land zu schwimmen. Eine Weile ging es, da versagte mir die Kraft. Schreien hörte ich mich nicht. Weder das Boot noch irgend eine Boje oder ein Stück Holz war in der Nähe. Nach einigen vergeblichen Anstrengungen sank ich in die Tiefe. Ich sah, wie die Wellen einen Strudel bildeten, und dann ward ich nichts mehr von mir gewahr …«

»Du wachtest auf, Hans.«

»Nein, ich stand ganz frisch und wach auf der Falm und sah mich doch unten versinken.«

»Die Entfernung ist ja viel zu groß. So genau erkennt man nichts von der Falm aus.«

»Einerlei. Ich weiß, was mir gezeigt wurde. Ich muß sterben, Theo.«

»Wir müssen ja alle sterben, liebster Hans.«

»Ich muß bald sterben.«

Laut aufschluchzend rief Theo, dem sein Traum von der Düne einfiel: »Hans, es kann nicht sein, Gott kann dich mir nicht nehmen wollen!«

»Gott kann thun, was er will. Vielleicht ist es gut für dich. So lieb ich dich habe, bin ich doch vielleicht deinem Lebensglück im Wege.«

»O rede nicht so!«

»Ich fühle, daß ich recht habe, Theo. Ich bin zufrieden, wenn ich mein junges Leben hergeben muß, denn in deiner Freundschaft bin ich glücklich gewesen. Was will ich mehr? Wer weiß, ob die Zukunft nicht Leid und Sorge bringt!«

»Und die willst du mir überlassen?«

»Du wirst glücklich und angesehen werden. Und darüber bin ich froh, Theo.«

»Und wenn es so wäre – du willst mein Glück nicht theilen?«

»Vielleicht theile ich es noch nach meinem Tode.«

»O Hans, o Hans! So laß doch das häßliche Wort!«

»Gott will es so, Theo. Ich fühle es; es wird kommen, wie er es mir gezeigt hat. Ob du mir glaubst oder nicht: er nimmt mich fort.«

Hans schien ziemlich ruhig, aber Theo schluchzte wie ein Kind. Sein Freund konnte ihn nicht zur Vernunft bringen. Nach längerem Hin- und Herreden sprang Theo aus und rief: »Ich sterbe mit dir, Hans! Was hab' ich sonst auf der Welt!«

»Mein Theo, das ist nicht möglich. Dir hat Gott ein langes Leben bestimmt.«

Zwei Nächte schon hatte der romantische Jüngling kaum den nöthigen Schlaf bekommen. Die Ereignisse und Gespräche der letzten Tage mußten sein leicht erregbares Nervensystem in verhängnißvoller Weise angreifen. Die Melancholie seiner Skepsis wirkte dabei wie ein schleichendes Gift auf seine Phantasie. Jetzt, da der geliebte Freund ihm die geheimnißvolle und doch mit so ruhiger Sicherheit vorgebrachte Eröffnung machte, versagte ihm die Herrschaft des moralischen Wollens. In seiner nervösen Ueberreiztheit trat er vor Hans hin und erklärte mit leidenschaftlicher Stimme: »Ich wähle den Tod mit dir, Hans. Warum wollen wir warten, bis er kommt? warum auch nur einen Tag warten?«

»Was hast du vor?« fragte der Schiffer und suchte in den Augen des Freundes zu lesen.

»Dem Elend will ich ein Ende machen. Ich hasse die Welt. Nur dich, meinen Bruder, liebe ich. Laß uns zusammen sterben. Hans, hörst du die Brandung drunten rufen? Fünf Schritte zum Abgrund, Hans, und sie begräbt uns.«

»Theo!« schrie Payens entsetzt, »vergißt du Gott?«

»Will Gott, daß ich weiter leide? Komm an die Klippe!«

»Nein, Theo. Wir würden von Gott ewig gestraft werden.«

»Woher weißt du das?«

»Das weiß ich als Christ.«

»Und wenn ich trotzdem sterben will?« Theo versuchte Hans zu packen und ihn mit an den Abgrund zu zerren. Einen Augenblick rangen die beiden Jünglinge miteinander, bis Hans Untergriff bekam und Theo auf das Gras schleuderte. Er kniete dann über ihn, so daß er sich kaum rühren konnte, und erklärte ernst: »Theo, mein Bruder, höre mich! Schwere Schuld zerreißt das Band. Wenn du nicht vernünftig bist, so ist von Stund an unsere Blutsfreundschaft gebrochen.«

»Nein, Hans, nein! Was willst du? Was soll ich thun?«

»Knie mit mir nieder und bet ein Vaterunser.«

»Warum, Hans?«

»Weil wir dann beten: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.«

In Theodors Seele wurde es wieder licht. Er lächelte und dankte dem Freunde durch einen männlichen Händedruck. Dann beteten die zwei zum Vater im Himmel, dessen Auge in das Verborgene siehet. Die Wogen rauschten und die Winde sausten.

Still und nachdenklich zogen sie heim. Hans geleitete Theo bis vor die Villa und nahm Abschied von ihm: »Schlaf wohl. Wenn Gott uns ein Herzeleid schickt, Theo, so laß uns nur schauen, daß wir keine Schuld auf uns laden. Dann ist alles gut. So glücklich, wie wir bislang waren, können wir nicht bleiben – ich meine, bis wir uns im andern Leben wiedersehen.«

»Ach, im andern Leben!«

»Ja, ihr reichen Stadtleute denkt wenig an den lieben Gott, scheint mir. Uns Armen gibt er weniger, und doch danken wir ihm mehr. Ich glaub', ich täusche mich nicht.«

»Du einziger, guter, edler Hans!«

»Gute Nacht, Theo, bis morgen!«

»Gute Nacht, bis morgen, Hans!« – –

Mit dem Gedanken, daß der Freund heute in Wahrheit sein Retter geworden, ging Theodor schlafen. Hätte er doch nur den kindlichen Glauben dieses Schiffers! Eine Religion, so hatte Hans gestern naiv behauptet, könne nur die wahre sein. Aber welche? Theo glaubte an keine. Er legte sich die Sache so zurecht, als ob er genug gethan hätte, wenn er sich überzeugt halte von dem Dasein und der Vorsehung des himmlischen Vaters. Und doch fühlte er, besonders nach der Scene dieser Nacht, daß eine starke, großartige Religion ihm Licht und Kraft geben müsse, zumal wenn das Schicksal ihn seines Freundes berauben sollte! … Aber was! … Es konnte, es durfte nicht sein! Unter solchen Gedanken sank er in unruhigen Schlummer. Hatte Dr. von Sechow recht, als er behauptete, Theo sei ein Charakter? Die Prüfungen, welche das Leben mit dem jungen Manne anstellt, müssen es entscheiden.



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