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Sechzehntes Kapitel.
Der Meister.

Das stärke dich in deiner Nächte Qual, in deines Tages Not:
Daß Einer auf die arme Erde kam
Und unsren ganzen Jammer auf sich nahm, –
Und dieser Eine war dein Herr und Gott!

 

Wer im Morgenglanz die Buchenauer Steige herabkam und das blauende Wäldermeer schaute und die erwachenden Gründe, der meinte, es gäbe nichts Schöneres im deutschen Vaterland als die verträumten, weltvergessenen Täler und die unsäglich tiefe grüne Einsamkeit des stillblühenden Erdenwinkels.

Im Duft des hohen Sommers lagen die Klostergüter eingebettet in Rosen und Wein. Die efeuumsponnenen Türme der Abteikirche spiegelten sich in den Wellen des Bergsees. Um die grauen Spitzdächer flimmerte Morgenglanz. Eine stolze Schau aus ehrwürdiger Vergangenheit!

Am Eingang der Siedelung stand unter einem uralten Wacholderbaum ein ragendes Kreuz mit dem dorngekrönten Erlöser. Eine Bank lud zu beschaulicher Rast und ein Betschemel erzählte von schlichter Frömmigkeit. Wunderbar schön war das Heilandsantlitz aus weißem italienischen Marmor. Einen Leidenszug trug's, als lebte der Stein. Selten schuf ein Meister Edleres.

Jahrhundertelang war Buchenau die Heimstätte eines blühenden Konvents. Dann verfiel der Orden, das Kloster ging von einer Hand in die andere. Seit dreißig Jahren herbergte es die unglücklichen Opfer des Alkohols. Wie geschaffen war der stadtferne, stille Ort im Schoße weitgestreckter Forsten für das große Asyl. Hier lockte keine Versuchung. Die Verbindung mit der Welt war abgeschnitten. Aber der Pulsschlag des Lebens stockte nicht. Die Bewohner von Buchenau bildeten eine große Familie, die Freud und Leid miteinander teilte. Eine wertvolle Bibliothek, die sich von Jahr zu Jahr vergrößerte, stand allen geöffnet, musikalische Abende, Vorträge und Ausflüge unterbrachen das Einerlei des Anstaltslebens, und vor allem war's die Arbeit, die ihren Segen in Krankheit und Genesung trug. Jedem wurde sein Teil zugemessen, keiner stand müßig. Es war ein wahrhaft großer Geist, der die Schar verirrter und verwirrter Menschen, die aus allen Volksschichten in dem alten Kloster zusammenströmten, unter seinen Willen zwang. Doktor Bernhard Seidenweber war zum Meister der Schwachen geboren. Er besaß nicht nur den klaren Blick des Menschenkenners und Menschenbeherrschers, er war im schönsten Sinne des Wortes ein Menschenfreund. Die ganze Persönlichkeit atmete Sonne, Freude, Zuversicht, Lebensbejahung. Sein Händedruck strömte eine Kraft aus, die von der Sicherheit seines großen Könnens, von der Macht seines Willens zeugte. Wer vierundzwanzig Stunden in Buchenau war, wußte, daß das Wort: ›Ich kann nicht‹ in Doktor Seidenwebers Wörterbuch nicht vorkam, daß aber hinter dem bittersten Muß der helfende tröstende Samariter stand.

Er war früher Nervenarzt gewesen. Doch es währte nicht lange, so übertrug man ihm die Leitung der großen Trinkerheilanstalt. Nach kurzer Zeit blühte der stark zurückgegangene Betrieb auf, und Buchenaus Ruf als Musteranstalt war gesichert. Die Persönlichkeit hatte dem Werk ihren Stempel aufgedrückt.

Äußerlich besehen war wenig verändert. Das riesige Viereck der Abtei mit ihrem wundervollen gotischen Kreuzgang und dem lindenumschatteten Hof, wo seit den Tagen der Mönche der Brunnen plätscherte, war nach wie vor in den Dienst der Kranken gestellt. Nur ein Flügel wurde von der Familie des Direktors bewohnt. Die vordere Seite ging in den weiten Hof, die Rückseite in eine Flucht blühender Gärten. Einen herrlichen Ausblick über den See boten die Fenster des oberen Stockes. Am anderen Ufer stiegen grüne Bergwände steil empor. Ein schneeweißes Wallfahrtskirchlein leuchtete aus dem Tannendunkel und ein malerisches Fischerdorf duckte sich im Felsenschatten. Das war das Bild, daran sich der rastlos schaffende Geist in seinen kurzen Ruhestunden erquickte.

*

Über dem Klostergut lag Mittagsstille.

Doktor Seidenweber hatte seine Morgenarbeit hinter sich und schritt, von einem Assistenzarzt und einer Pflegerin gefolgt, durch die Frauenabteilung. Bis auf einen waren seine Besuche in diesem Flügel gemacht, vor der letzten Tür blieb er stehen und wandte sich in seiner raschen Art um:

»Wie steht's hier, Schwester?«

Die Angeredete sah mit klaren grauen Augen zu ihm auf.

»Frau Wächter ist musterhaft als Kranke, Herr Doktor,« berichtete sie ruhig. »Sie fügt sich in alles, ich habe noch keine Klage von ihr gehört, vor allem nie eine Bitte um Alkohol! Aber der seelische Druck will nicht weichen.«

»Es ist gut. Ich will allein hinein.«

Assistenzarzt und Schwester waren entlassen.

Ein kurzes rasches Klopfen, und der große Mann stand im hellen freundlichen Raum.

Juliane Wächter saß am Tisch und schrieb, als sie die bekannte Stimme hörte. Rasch fuhr sie mit der Hand über die Augen.

Aber dem Eintretenden entgingen die Tränenspuren nicht.

»Nun, gnädige Frau, wie geht's Ihnen?« Die braunen Augen sahen sie durchdringend an.

›Was soll das Theaterspielen,‹ dachte sie, ›er merkt's ja doch!‹ Aber sie schämte sich. »Danke, Herr Doktor, ganz gut!« antwortete sie, den Blick senkend.

»Nun, allzu vertrauenerweckend klingt das nicht!« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. »Haben Sie Beschwerden, die Sie nicht überwinden können, dann sprechen Sie sich bitte darüber aus! Glauben Sie ja nicht, daß ich wesenlose Vorstellungen und Dinge, die in die Welt der Empfindungen gehören, belächele! Sie sind oft qualvoller als körperliche Leiden und hindern die Genesung mehr als alles andere. Es wäre ebenso unklug als unrecht, ihr Vorhandensein abzustreiten oder einem Kranken Vorwürfe zu machen, wenn er sie nicht im Handumdrehen unterkriegt! Selbstverständlich müssen und werden sie verschwinden, aber es gilt einen Kampf! Und davor hat jeder vernünftige Mensch Respekt!«

Sie hatte sich unter dem freundlichen Ernst seiner Worte gesammelt und sah ihn voll an. Was war stärker in ihm, der Menschenfreund oder der Psychologe? Mochte es sein, wie es wollte, für den Kranken, der zu ihm kam, war das große, wundervolle Vertrauen, das der erste Blick in diese Züge einflößte, ein Geschenk. Nur zu gut verstand sie's, daß dieser Mann Professor Lindes Freund war. Die zwei gehörten zusammen.

Und sie sagte sich: ›Wenn einer dir helfen kann, ist er's!‹

»Herr Doktor,« begann sie leise, »Sie kennen meine Vergangenheit, und ich habe Ihnen nichts zu verbergen. Es sind keine wesenlosen Empfindungen, die mich quälen, sondern der immer wiederkehrende Gedanke, daß ich zu Hause nicht dauernd fest bleiben werde. Eine Zeitlang habe ich's bestimmt geglaubt. Damals, nach der Rückkehr meines Sohnes. Ich mußte zu furchtbar hart für meinen Fehltritt büßen und hatte das Gefühl, vor Rückfällen sicher zu sein. Auch in der ersten Zeit meines Hierseins war ich fest überzeugt, daß die Gefahr vorüber sei. ›Gebranntes Kind scheut 's Feuer!‹ Aber jetzt –« ein Zug unsagbar tiefer Bitterkeit trat in ihr Gesicht, »wenn Sie mich jetzt nach Hause schickten, stünde ich für nichts ein! Ich möchte wohl, aber –« sie stockte. Das verpönte ›ich kann nicht!‹ wollte ihr nicht über die Lippen.

»Sagen Sie ruhig ›Ich kann nicht!‹, gnädige Frau! Soweit meine Person in Frage kommt, besteht dies Wort allerdings nicht, denn es ist der Ausfluß eines angekränkelten Willens. Das hindert mich aber nicht, bei anderen ein Nichtkönnen – wenn auch oft nur in der Idee – festzustellen. Soll ich aber helfen, so muß ich wissen!«

Sie sah ihn fragend an. »Gibt es einen angekränkelten Willen, Herr Doktor?«

»Jawohl. Der gesunde Wille kann, was er muß! – Es fragt sich im Krankheitsfalle nur, ob wirkliche oder eingebildete, körperliche oder seelische Leiden vorliegen. Bei Ihnen scheiden die drei ersten aus. Es handelt sich also um eine seelische Ursache. Der Wille wird durch sie gehemmt. Ist sie beseitigt, so hat er Bewegungsfreiheit.«

Er schwieg.

Während sie der knappen Darlegung nachsann, fühlte sie die Forderung seines Herrenblickes: ›Du hast das Wort – sprich!‹

Zuerst hatte sie diesen Blick gefürchtet. Heute wußte sie, daß hinter dem bisweilen strengen Ernst die reinste Menschengüte stand.

Sie blickte zur Seite. »Ich komme nicht über meine Schuld hinweg, Herr Doktor! Nur meine geradezu unfaßliche Oberflächlichkeit konnte mich über das, was ich tat, hinwegtäuschen. Heute ist mir die Enge meines Gesichtskreises durch das Leben, das ich führte, erklärlich. Sie kennen ja dies Indentaghineinleben der sogenannten ersten Gesellschaft ohne ernste Arbeit und wahre Geistesbildung! Erst jetzt habe ich gemerkt, daß mir die höchsten Wirklichkeiten leere Begriffe gewesen sind: Mutterliebe, Glaube und Heimat, Sittlichkeit im feinsten Sinne. Das Innerste diente mir lediglich als Maske. Sonst wäre ich nicht so heruntergekommen!« Sie schüttelte erregt den Kopf. »Wenn ich mir nur ein einziges Mal die Riesenverantwortung einer Mutter klar gemacht hätte, nicht nur in bezug auf die eigenen Kinder, sondern auf das ganze Volk! Aber ich habe nie restlos erkannt, daß die Ewigkeit in der Zeit wurzelt, sonst hätte ich mir gesagt: ›Du gehörst mit zu diesem Volk und bist mitschuldig, wenn es untergeht, tu wenigstens, was in deinen Kräften steht, sei treu im Kleinen!‹ Statt dessen hörte ich in Versammlungen und Vorträgen von Vaterlandsliebe und Frauenpflichten reden, und wenn die Nerven sich gegen die endlosen Sitzungen aufbäumten, wurde mit Kognak nachgeholfen. Ich wäre nicht nur gesundheitlich eine ganz andere, wenn ich eine rechte Mutter gewesen wäre!« Es stürmte in ihr. »Der Gedanke bringt mich um, Herr Doktor, er macht mich verrückt! Ich weiß, ich werde ihn nie wieder los!« Sie atmete schwer. »Hier muß ich. Aber wenn ich zu Hause vor Gewissensqualen nicht leben und sterben kann, greife ich zur Flasche, ich weiß es ganz genau!«

Er hatte sie ruhig angehört.

»Und warum müssen Sie zu Hause nicht?«

Sie sah ihn verwirrt an. Eine dunkle Blutwelle stieg ihr ins Gesicht.

»Weil – weil ich – weil mir hier geholfen wird!«

»So. Und zu Hause wird Ihnen nicht geholfen?«

Sie antwortete nicht.

Der Arzt merkte, worum es ging. Er kämpfte mit einem Entschluß. In seinen Zügen arbeitete es.

»Gnädige Frau,« sagte er, »ich will Ihnen etwas erzählen, was ich nur preisgebe, wenn ich weiß, daß ich einem Menschen damit helfen kann. Denn daß dies Mittel hilft, weiß ich!« Die gewaltigen Augen leuchteten.

»Vor langen Jahren,« fuhr er fort, »war ich in diesem Hause als – Kranker. Ich war auf demselben Punkt wie Sie, körperlich und seelisch bankerott. Keiner konnte mir helfen, weil ich mein Elend vor Menschenaugen verbarg. Aber der Wurm fraß. Das Gewissen ließ mich nicht los. Schließlich hielt ich's nicht mehr aus und offenbarte mich einem Schulfreund, der erster Assistent des damaligen leitenden Arztes war. Ein Prachtmensch, durch und durch Persönlichkeit. Der einzige, vor dem ich Respekt hatte, dem ich vertraute! Ein Mann mit dem Blick eines Regenten und dem Herzen einer Mutter. Der Umgang mit ihm war Medizin für mich. Ich glaubte ihn ganz zu kennen, in seiner feinen abgeklärten Seele zu lesen – wie sehr ich irrte, sollte ich bald erfahren. Ich kannte ihn nicht zur Hälfte.

Wie gesagt, suchte ich bei ihm Hilfe. Rückhaltlos deckte ich ihm meinen Jammer auf. Keine Falte meines in Unordnung geratenen inneren Menschen ließ ich unbeleuchtet. Aber die Antwort, die ich erwartet hatte, blieb aus. Hätte ich nicht gewußt, was ich an ihm hatte, seine Gemütsruhe hätte mich geradezu vor den Kopf gestoßen. Er behielt mich, während ich sprach, fest im Auge und unterbrach mich mit keinem Wort. Als ich geendet, stand er auf, nahm mich bei der Hand und sagte: ›Komm mit!‹ Kopfschüttelnd folgte ich ihm die Treppen hinab, über den Hof, durch das Klostergut. Sie kennen das steinerne Kreuz im Eingang der Abtei, gnädige Frau! Dorthin führte er mich. Aber diese zweite Überraschung ging über meine Kraft. Wenn wir auch nie über religiöse Dinge geredet hatten, konnte er doch wissen, daß ich derartigen Fragen zum mindesten gleichgültig gegenüberstand. Schon als Primaner. Was zwischen damals und unsrem Wiedersehen in Buchenau lag, war niemals erörtert worden. Jedenfalls hatte das Christentum uns weder einst noch jetzt zusammengeführt, und meine Annahme, daß auch er nichts davon wissen wolle, schien mir durchaus berechtigt. Ich war daher über die Art und Weise, mit der er mich in diesem Augenblick abfertigte, geradezu empört. War der Mensch verrückt geworden oder wollte er mich zum Narren haben? Mit der Christusmythe waren wir doch beide fertig! – In erregtem Ton verlangte ich eine Erklärung.

Ruhig sah er mich an, dann sagte er mit tiefem Ernst: ›Ich war ebenso weit wie du – vielleicht noch weiter – da kam ich hierher und wurde gesund an Leib und Seele! In deinem Zimmer ist eine Bibel, darin steht's besser als ich dir sagen kann, wo unsre Kraft liegt. Solltest du mich dennoch brauchen, so bin ich jederzeit für dich da!‹ Er nickte mir mit strahlenden Augen zu und ging.«

Bernhard Seidenweber schwieg. Bis an die Pforte seines Allerheiligsten hatte er die Frau geführt und einen Augenblick den Schleier gelüftet. Aber berühren durfte keiner sein Kleinod. Kaum hatte die Staunende den Schatz geschaut, so fiel die Hülle. Und sie begehrte nicht mehr. Zum zweitenmal war sie einem Großen begegnet, der unter dem Kreuz das Zeugnis ablegte: ›Ich vermag nichts ohne ihn!‹ Und dies Zeugnis tat seiner Mannesehre keinen Abbruch und schränkte sein Wissen nicht ein – im Gegenteil, es hob ihn über sich selbst und die Enge der Zeitlichkeit hinaus. Sie aber hatte immer wieder gezagt und gezweifelt.

Die Tränen traten ihr in die Augen.

Doktor Seidenweber hatte sich erhoben und reichte ihr die Hand. »Nicht wahr, ich brauche Ihnen nichts mehr zu sagen? Sie kennen das Kreuz, und die Bibel liegt in Ihrem Tisch!« sagte er einfach. »Nur eins noch, fast hätt' ich's vergessen, weil das andere mir die Hauptsache war, aber gerade Sie wird's interessieren: der Freund war Siegfried Linde!«

Also doch! Einen Augenblick hatte der Gedanke in ihrer Seele gelebt. Nun wußte sie, warum er an jenem Morgen zu ihr gesagt hatte: ›Bitte, denken Sie nur nicht, daß ich mich für besser halte, als Sie! Gott hat mich bewahrt, das ist alles!‹ Aber Doktor Seidenweber hatte recht, das andere war die Hauptsache, das felsenfeste Bewußtsein: es gibt einen, der dir deine Last abnimmt und dir hilft! Keine Macht der Welt sollte sie wieder wankend machen, keine Vorstellung, kein Hirngespinst, keine zerbrochene Kraft – mochte sie zerbrechen – was tat's, wenn er, der die Hölle zwang, mit der Macht seiner Stärke hinter ihr stand?

Dankbar drückte sie die treue Hand, die ihr den Weg gewiesen. Sprechen konnte sie nicht. Da schritt er mit seinem fröhlichen ›Auf Wiedersehen‹ zur Tür.

Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um. »Fast hätt' ich's vergessen, gnädige Frau, Sie bekommen heute oder morgen Besuch! Mehr verrate ich nicht!«

Draußen klangen Stimmen. Schritte näherten sich der Tür.

»Da ist er schon!« rief der Doktor erfreut und schüttelte einem hochgewachsenen Manne die Hand.

Hermann Wächter stand vor seiner Mutter.

*

Sie hatten alles miteinander durchgesprochen, was sich seit ihrer letzten Begegnung ereignet, nur eins berührten sie nicht. Denn die Frage des Sohnes nach dem Ergehen der Mutter streifte kein tieferes Erleben. Aber in ihren Augen las er, als sie ihm frohe Antwort gab, und dankte Gott im stillen. Wenige Monate später sei die Heilung bedeutend schwieriger gewesen, hatte Doktor Seidenweber sich bald nach Julianens Ankunft in Buchenau geäußert. Nun, er würde ja Genaueres über den bisherigen Kurerfolg von ihm hören.

Sie sprach sich sehr befriedigt über die Anstalt aus. Alles, was Professor Linde ihm über das Haus und seinen Leiter gesagt, wurde ihm durch sie bestätigt. Besonders freute er sich ihres unbegrenzten Vertrauens zu Doktor Seidenweber. Er hatte in dieser Hinsicht mit Schwierigkeiten gerechnet. Der Alkohol hatte sie mißtrauisch gemacht. Selten trat sie Fremden vorurteilsfrei entgegen. Ihr Zustand kam hinzu, die Scham um verlorene Willenskraft und versäumte Selbstzucht. Es mußte ja auch für eine Frau in solcher Lage sehr schwer sein, den Arzt vom Menschen zu trennen und die Scheu vor dem Manne zu überwinden, dessen Urteil über das Weib von seinem tiefsten sittlichen Wert oder Unwert abhing. Aber unter den ganz Großen war noch keiner gewesen, der einen Mitmenschen mit richterlichem Maße gemessen. »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein,« lautete ihr Spruch. – – –

Hermann mußte am anderen Morgen wieder in Leipzig sein und wollte mit dem letzten Zug fahren. Während Juliane sich ausruhte, ging er zu Doktor Seidenweber.

Der Arzt machte ihm die besten Hoffnungen.

»Sie sollen sehen, Herr Wächter, sie schafft's,« sagte er zuversichtlich, »ich habe schon ganz andere Fälle gehabt! Die Hauptsache ist, daß der Mensch einen über sich weiß, vor dem er einen wahrhaft heiligen Respekt hat, sonst ist die Gefahr der inneren Verwahrlosung zu groß! Gerade für den Trinker ist die Weltanschauung die erste und letzte Frage. Denn wer von keiner Ewigkeit weiß, kennt auch keine Verantwortung, weder für sich selbst noch für andere. Außerdem bedürfen diese Armen in ihren schweren Versuchungsstunden ganz besonders eines Helfers, der stärker ist als ein Mensch, und wär's der größte!«

Hermann nickte zustimmend. »Gewiß, Herr Doktor! Wir alle brauchen einen, den wir als unsren Meister anerkennen! Glauben Sie, daß meine Mutter das tun wird?«

Doktor Seidenweber sah nachdenklich vor sich nieder.

»Ja,« sagte er dann, »ich glaube, daß eine Veränderung mit ihr vorgegangen ist. Ich habe sie ja früher nicht gekannt, aber das Leben schärft uns Ärzten in besonderer Weise den Blick. Darum denke ich nicht fehlzugehen, wenn ich mein Urteil über Ihre Mutter dahin abschließe: sie hat zu schwer unter ihrem eigenen Ich gelitten – das hat sie über sich selbst emporgehoben. Eine Frau, die unter dem Gedanken zusammenbricht: dein Leib ist nicht der Tempel, der er sein soll, dein Haus beginnt eine Mördergrube zu werden – die Frau wird gesund

In seinen Augen stand wieder jenes helle Leuchten, das bei der ersten Begegnung Hermanns Vertrauen geweckt.

›Es war wahrhaftig eine freundliche Fügung, die uns diese Fährte wies,‹ dachte er, als er sich erhob, um Abschied zu nehmen.

Doktor Seidenweber geleitete ihn zur Tür.

»Einen Rat möchte ich Ihnen schon heute geben, lieber Herr Wächter,« sagte er freundlich. »Lassen Sie Ihre Mutter nie ganz einsam werden! Darin liegt eine Gefahr, die vermieden werden muß. Dagegen schützen Arbeit und Sorge für andere vor Rückfällen.« Er nickte ihm herzlich zu. »Kommen Sie wieder, so oft Sie können, es wird voraussichtlich trotz des günstigen Krankheitsbildes einige Zeit dauern, bis ich Ihre Frau Mutter entlassen kann. Wir müssen ganze Arbeit machen.«

Dann trennten sie sich.

Als Hermann über den Klosterhof zur Frauenabteilung hinüberging, sah er Juliane am Brunnen unter der Linde sitzen.

»Ich habe hier auf dich gewartet,« sagte sie. »Um diese Zeit sind wir hier ganz ungestört. Nachher begleite ich dich eine Strecke. Wir müssen bald fort! Wie schnell der Tag vergangen ist!«

Er setzte sich neben sie und blickte über sich in die grüne Baumkrone. Ein glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht.

»Ich möchte dich noch etwas fragen, Mutter, auch in Ilses Namen,« begann er endlich. »Es hat noch Zeit, aber ich weiß, du wirst dich mit uns freuen! Darum sage ich's dir schon jetzt. Sonst weiß es noch keiner. Ilse erwartet zum Frühjahr!«

Ja, sie freute sich mit den beiden jungen Menschen, wie sich nur eine Mutter freuen kann.

»Mein lieber Junge!« sagte sie weich und legte ihre feine Hand auf seine große.

»Wir wollten dich bitten, ob wir unsrem Kinde deinen Namen geben dürfen,« fuhr er fort. »Hoffentlich ist's ein Junge, dann möchten wir ihn Julius nennen!«

Über ihre eben noch so hellen Züge flog ein Schatten. Eine Flut von Gefühlen stürmte auf sie ein. War die Bitte des jungen Paares ein letztes Zeichen vergebender Kindesliebe? War's der Wunsch, Freude und Sonnenschein in ihr stilles Anstaltsleben zu tragen? Es ahnte ja keiner, aus welch reicher Fülle sie hier schöpfte, nicht einmal der Sohn! Aber, was es auch war, die Liebe hatte es ersonnen. Fein und still, wie es ihre Art.

Die Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie drückte seine Hand.

»Wie gut von euch,« sagte sie leise. »Aber ich kann's nicht. Ich will gerne bei meinem ersten Enkel Patenstelle übernehmen, aber ruft das Kind nicht mit meinem Namen!«

Erstaunt sah er sie an. »Warum nicht, Mutter?«

Da sagte sie's ihm gerade heraus, »Weil's mich immer an die Zeit erinnern würde, die ich am liebsten aus meinem Leben striche. Ich werd' sie ja ohnehin nicht vergessen,« setzte sie traurig hinzu, »aber ich will nicht durch mein Enkelkind daran erinnert sein!«

»Mutter,« bat er weich, »sprich nicht so!«

Doch sie blieb dabei.

Er drang nicht weiter in sie. »Es wird Ilse sehr leid tun,« sagte er.

Aber sie merkte ihm die Enttäuschung an.

»Ilse soll auch nicht immer an die schwere Zeit erinnert werden, Hermann! Sie verdient es wahrhaftig nicht. Wenn ihr mich liebhabt, gebt eurem Kinde einen anderen Namen! Ich wüßte schon einen!« Sie lächelte still.

»Und der wäre?«

»Wenn Gott euch einen Sohn schenkt,« sagte sie mit bewegter Stimme, »so nennt ihn Siegfried! Er soll ein Kämpfer werden für das Heil seines Volkes, wie Siegfried Linde!« Ihre Augen leuchteten.

Mit stiller Freude sah der Sohn sie an. »Der Professor wird nicht an deine Stelle treten wollen!«

Sie überlegte kurz.

»So werde ich ihn bitten!«

Da beugte sich Hermann Wächter über die Hand seiner Mutter und küßte sie – – –

Die Sonne sank. Es war Zeit zum Aufbruch.

Schweigend gingen die beiden Menschen durch das Klostergut. Bis zu der Stelle, wo das Kreuz stand, begleitete Juliane den Sohn. Dann nahmen sie Abschied.

Immer wieder sah er zurück und schwenkte den Hut. Sie aber schaute in stolzer Mutterfreude auf den rüstig Ausschreitenden, bis er unter den schattenden Waldbäumen verschwunden war.

Dann trat sie unter das Kreuz. Tiefer Friede waltete an der stillen Stätte. Kein Laut ging durch den Sommerabend, nur die Wellen schlugen plätschernd ans Ufer, und ein Wasservogel zirpte im Moor.

Droben hinter den Felsen ging die Sonne unter und sandte den Tälern ihren letzten Gruß. Feierlich zog der Widerschein der erglühenden Bergspitzen über den See. Als läge in der Tiefe ein rotblühender Garten, leuchtete die Flut. Langsam schwebte die purpurne Pracht über Wald und Anger, über den Wacholderbaum und die Kreuzesgestalt. Dann verblaßten die Rosen. Um die grauen Kuppen schifften die letzten goldumsäumten Wolken, und der Abendstern flimmerte.

Regungslos stand die Frau im Schatten des Torbogens. Sie hatte kein Auge für die Wunder der Natur. Unverwandt hing ihr Blick an dem steinernen Antlitz.

Nun kam die Nacht.

Aber sie fürchtete sie nicht mehr.

Durch ihre Seele zog das Echo eines starken frohen Wortes voll heiliger Zuversicht: »Daß dies Mittel hilft, weiß ich!«


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