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Zehntes Kapitel.
Frauennot.

In des Sommers Rosenfülle zog ich aus, die Brust voll Lieder!
Mit dem Todeskeim im Herzen kehrt' zur Winterzeit ich wieder!

Um die stille weiße Heimat rauschten sturmverwehte Wogen:
Menschenkind mit deiner Sehnsucht, warum bist du fortgezogen?

 

Asta Freiland hatte ihrem Manne sehr ernste Dinge zu verzeihen. Aber sie wußte es nicht. Sobald sie zu ahnen begann, wurde sie betrogen. Planmäßig. Mit jener Leichtfertigkeit, die alles auf eine Karte setzt und skrupellos Sünde auf Sünde häuft.

Die Mandels waren sehr reich und Freiland arm und verschuldet. In den kurzen Wochen, in denen er um Asta geworben, war ihm diese Frage aber kaum zum Bewußtsein gekommen. Die Leidenschaft, mit der er für Ursula Linde entbrannte, hatte den Gegenstand gewechselt. Man hatte ihm ja die Tür gewiesen. So versuchte er's im Nachbarhause. Das war ganz selbstverständlich! Nur keine Gefühlsduselei! Die kleine Linde würde ihre Torheit noch bereuen. Es geschah ihr ganz recht. Sie war eine hübsche Erscheinung, das Bild eines deutschen Mädchens mit wundervollen Farben und lachenden Augen, war sehr gut erzogen, und verstand, sich anzuziehen. Ein reizendes Hausmütterchen hätte sie abgegeben, ganz gewiß! Aber im Grunde genommen brauchte er so etwas gar nicht. Ursula hätte ihn, nachdem die erste Leidenschaft verrauscht war, gelangweilt. Zu ihm gehörte eine Frau, mit der man glänzen konnte. Eine junge bezaubernde Frau wie Asta Mandel. Halb Kind, halb Weltdame. Was noch fehlte, erzog er ihr an. Spielend würde es ihm gelingen. Wie geschaffen war sie für ihn, für seine Art, seine Gewohnheiten – ins rauschende Leben gehörte sie, in duftende Säle! Und das Geld war ja da. Zertrümmerte die Revolution Deutschland – nun so war alles hin, so konnte er Jockei werden und sie Putzmacherin. Aber wozu sich trübe Gedanken machen über Dinge, die noch nicht spruchreif waren? Vorläufig kam das ja nicht in Betracht. Darum wollte er leben, wie er's gewohnt war. Und dazu gehörte eine schöne reiche Frau, die mit tausend eleganten Dingen mehr beschäftigt war als mit der Person ihres Mannes – denn Bernd Freiland konnte und wollte sein altes Leben nicht lassen.

Ihm selber kam der Wechsel daher nur zustatten. Abgesehen davon, daß Ursula den Vergleich mit Astas eigenartiger Schönheit nicht aushielt, war eine Werbung bei Frau von Mandel bedeutend einfacher als im Lindeschen Hause. Der Professor hätte, genau wie Oberstabsarzt Trautmann, auf seinem Schein bestanden und das ärztliche Zeugnis eines von ihm bestimmten Kollegen verlangt. Seine Schwiegermutter hatte ihm die ganze Geschichte erzählt. Bei Trautmanns Nachfolger, Justizrat Wiedendorf, hatte er dann leichtes Spiel gehabt. Mit ein paar kurzen Worten war man über die Frage hinweggegangen. Was focht's ihn an, daß er schwerkrank war, daß die Frau, die ihm angehörte, unheilbarem Siechtum verfallen mußte? Er war gewohnt, die Forderungen seiner Leidenschaft erfüllt zu sehen – um welchen Preis, war Nebensache. Und er wollte das Mädchen haben. Das war aber nur auf dem Wege der Heirat möglich. Im übrigen machte er sich keine Gedanken. Asta war bei all ihrer sonstigen Sicherheit und Gewandtheit in der Hinsicht das reine Kind; sie würde die Quelle ihrer Leiden niemals bei dem geliebten Manne suchen. Dafür sorgte schon die Mandelsche Erziehung, die unglaubliche Harmlosigkeit und Vertrauensseligkeit der Mutter, die geradezu durch das Leben taperte. Im Ernstfalle würde ihm darum auch die Baronin eine Bundesgenossin sein. Und das war viel wert. Sie hatte der Tochter vor der Verlobung gesagt, Professor Linde habe Doktor Trautmanns Ansicht nicht bedingungslos geteilt, sie sei ganz im Recht, es komme auf die Persönlichkeit an, man dürfe den Bogen auch nicht überspannen. Asta in ihrer Unerfahrenheit hatte alles geglaubt. Daß Professor Linde wegen Mangel an Zeit die Übernahme der Vormundschaft abgelehnt haben sollte, war ihr ebenfalls ganz verständlich. So begann der Mann seine Ehe mit einem niederträchtigen Betrug, so belog eine Mutter ihr Kind und beging in leichtfertigster Weise Falschmünzerei an den Worten eines Mannes, dessen Urteil der Gesamtheit gehörte. Auf Freilands Wunsch hatte die Hochzeit bald und dem Ernst der Zeit entsprechend in aller Stille stattgefunden.

Und dann kam's, wie es kommen mußte. – – –

*

In Astas traulichem Wohnzimmer blühte ein wundervoller Strauß dunkler Rosen. Freiland hatte ihn, bevor er der Einladung eines Freundes auf ein benachbartes Gut folgte, der jungen Frau neben das Ruhebett gestellt.

»Damit du auch eine kleine Freude hast, Maus!« Er nickte ihr ermunternd zu. »Wart' nur, wenn der Junge erst da ist, wird alles gut! Doktor Werner sagt es ja auch! Dann genießen wir das Leben, nicht wahr, meine Königin?«

Und er streichelte die durchsichtigen Hände, die wie ein feines Wachsgebilde auf der himmelblauen Seidendecke ruhten. Aber sein Gesichtsausdruck hatte etwas Zerstreutes, beinahe Geistesabwesendes, als wären seine Gedanken ganz wo anders.

Sie merkte es. Schon mehrfach war sie diesem Gesichtsausdruck begegnet. Sie hatte sich gesagt: ›es ist irgendein Ärger, eine kleine Reibung mit einem Kollegen!‹ Was nahmen Männer sich nicht alles übel, man konnte froh sein, wenn sie sich nicht ernstlich in die Haare gerieten! Aber sie sah dies Gesicht seit einiger Zeit öfter, sah's heute, wo er zum erstenmal in ihrer Ehe abschiednehmend vor ihr stand mit heißem Wort und roten Rosen.

Dann war er gegangen. Die junge Frau blieb zurück mit tastenden Sinnen und fiebernder Seele.

Was war das? Er liebte sie – das stand ihr fest. Aus ungezählten kleinen Zügen erkannte sie's täglich. Ein Zweifel an seiner Liebe wäre ein Verbrechen gewesen. Und sie wies den Gedanken mit der ganzen Willenskraft des Weibes von sich, das von seinem Glück nicht lassen will. Das sich nicht darüber Rechenschaft gibt, daß es Gefahr wittert. Gefahr? Unsinn! Was schwirrte ihr jetzt manchmal für sinnloses Zeug durch den Kopf. Und martern konnte einen solch törichter Gedanke! Es war nicht auszuhalten. Gott sei Dank, daß solche Zustände nur ein Übergang waren! Wenn das Kind da war, würde sie schon gesund werden, ganz gesund. Das ewige Liegen würde aufhören. Sie würde wieder Herrin ihrer Zeit sein. Bernd würde nicht mehr gähnen und kein zerstreutes Gesicht mehr machen. Dann war sie die Frau, die er brauchte, die ihn und alle Welt bezauberte! Der arme Mensch mußte jetzt wahrhaftig auf vieles verzichten, es war kein Wunder, daß er mißgestimmt war. Schließlich konnte er doch nicht aus seiner Haut heraus! Sein ganzes Wesen war Sekt und Sonne, mit einem Wort sprühende Lebenslust. Das paßte nicht in die Krankenstube, an das Ruhebett einer leidenden Frau. Sie kannte ihn ja so genau und fühlte ihm nach, daß er unter den jetzigen Verhältnissen litt. Gut, daß er einmal herauskam. Die Barnower Feste waren immer besonders hübsch. Nordens Geburtstag kam gerade zur rechten Zeit. Und sie lehnte den feinen Kopf beruhigt zurück. In das elfenbeinfarbene Gesicht stieg eine leichte Röte. Gott sei Dank, so war's.

Glücklich ruhten die samtenen Augen auf Bernd Freilands Rosen. Dann richtete sie sich auf und rückte den Strauß ins rechte Licht. Ein paar purpurne Blätter fielen auf die Kinderhand.

In ihren Zügen malte sich Enttäuschung. »Schon?« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Treibhausrosen!«

Zerstreut schweifte ihr Blick über Zeitschriften und Bücher. Eine wohlige Müdigkeit kam über sie. Lächelnd schloß sie die Augen. Ihr Antlitz hatte etwas Rührendes. Ein Gemisch von Schwäche und Tapferkeit, von Natürlichkeit und kindlichem Ernst lag in ihrem Wesen – dazwischen huschte ab und an die Freude. Aber sie schlief nicht. Sie lauschte in das dämmernde Haus.

Und dann war's gekommen. –

Eine junge Kriegswitwe, mit der sie seit ihren Kindertagen befreundet war, besuchte sie. Seit Asta den ganzen Tag liegen mußte, leistete sie ihr oft Gesellschaft.

Heute kam sie ganz außer sich bei ihr an. Auf einem Damentee war sie unbemerkt Zeugin eines Gesprächs geworden, das sofort ihre ganze Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Olga Mandel, Astas Schwester, wurde in Verbindung mit Freilands jüngerem Bruder genannt. Und dann hatte sie mitangehört, wie die ältere der beiden Damen die bevorstehende Verlobung aufs tiefste bedauerte.

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, warum denn?« fragte die andere.

»Weil das Mädchen, das dieses Mannes Frau wird, geliefert ist,« klang erregt die halblaute Antwort. »Ich weiß es von meinem Sohn, daß er an ungeheilter schmutziger Krankheit leidet. Es ist ein Jammer, daß das reizende Geschöpf solch einem Menschen geopfert werden soll!«

Thekla Rochus hielt es für ihre Pflicht, die Unterhaltung bis zu dieser Stelle wörtlich zu wiederholen. Was folgte, verschwieg sie. Aber die goldbraunen Augen ruhten mit heißem Mitleid auf Astas schmalem Gesicht. Sie kannte dies Elend durch das Schicksal einer jungverheirateten Verwandten. Genauere Erkundigungen waren unbegreiflicherweise vor der Verlobung versäumt worden, obgleich genug Veranlassung dazu vorgelegen hätte. Die Folgen ließen nicht auf sich warten: jammervolles Siechtum der Frau und eine Totgeburt nach der anderen. Nach dem, was sie heute gehört, hatte die arme Asta nichts besseres zu erwarten. Sie hatte ja nie verstanden, daß sie Freiland heiratete. Gewiß, er war ein schöner Mann, aber das war auch alles. Sie brauchte nur an seine stechenden Augen zu denken. Warum vermieden denn wirklich vornehm denkende Menschen jeden näheren Verkehr?

Asta war zu Tode erschrocken über den Bericht der Freundin. Mit hochroten Backen lag sie da, an allen Gliedern zitternd.

»Mein Gott, Thekla, was soll ich machen? Das ist ja furchtbar! Und schließlich ist es vielleicht nur Klatsch! Bernd darf ich überhaupt nicht damit kommen! Und Mama? Du kennst ja ihre Abneigung, derartige Dinge zu berühren. Da dringe ich einfach nicht durch. Thekla, hilf mir doch!«

Aber Thekla Rochus zuckte traurig die Achseln. Beinahe bereute sie, gesprochen zu haben. In der ersten Erregung hatte sie es für ihre Pflicht gehalten, ihre Freundin von dem Gehörten in Kenntnis zu setzen, ohne sich die Folgen ihres Schrittes klarzumachen. Nun stiegen die Zweifel auf. Ob sie Asta wirklich einen Dienst erwies? Mit Frau von Mandel war ja nichts anzufangen. Und schließlich hatte sie selber vielleicht noch Unannehmlichkeiten, weil sie die Sache weitergetragen.

Sie bat, ihren Namen nicht zu nennen. Es gehe doch auch so.

Aber die andere wußte nicht aus noch ein.

Die beiden hilflosen jungen Frauen vergaßen, miteinander ratschlagend, Zeit und Stunde.

Schließlich fuhr Thekla auf. »Ich muß ja zu Bubi!«

Unter Tränen nahmen sie Abschied.

Dann war Asta allein.

Die Jungfer brachte das Abendbrot. Sie rührte nichts an. Die Aufregung schüttelte sie. Auch im Bett fand sie keine Ruhe, was sollte sie machen? Überall stieß sie auf Hindernisse. Ihren Mann mußte sie ganz aus dem Spiel lassen. Der brannte ja darauf, daß die Verlobung zustande kam. Es hätte eine fürchterliche Szene gegeben, wenn sie ihm die Sache erzählt hätte. Und die Mutter? Unmöglich. Und Olga selbst? Die war ja bis über die Ohren verliebt! was wußte sie überhaupt von diesen Dingen – sie brauchte nur an sich selber zu denken! Ein Seufzer hob ihre Brust. Nicht zum erstenmal empfand sie ihre Unwissenheit als einen Mangel, mehr als das, als ein Unglück.

Ein Gespenst stieg vor ihren erregten Sinnen auf. Wochenlang hatte es in ihrer Seele geschlummert. Durch das Gespräch mit der Freundin geweckt, ließ es sich nicht mehr bannen. In der Stille der Nacht reckte es sich empor und wuchs ins Riesenhafte, was war mit ihr? War dieser Zustand normal? Sie fühlte sich so krank, so sterbensmüde! Trug sie schwerer an des Weibes Bürde als andere oder ... Ein Gedanke, den sie nicht auszudenken wagte, für den sie keinen Namen hatte, marterte sie. Ob sie die Wahrheit erfuhr? Sie hatte immer den Eindruck, daß man sie wie ein Kind behandelte, dem man nicht alles sagen durfte.

In Todesangst lag sie da. Wie ein Alp lastete das Geheimnis des Blutes auf ihr. Sie war so unwissend, so ahnungslos. Ihre Mutter hatte ja jede Aussprache über derartige Fragen stillschweigend abgelehnt. Blind war sie in die Ehe getreten. Manches begann sie zu ahnen, manches blieb ihren Sinnen wesensfremd. Und das dunkle Geheimnis kroch wie ein ekles Gewürm an sie heran. In tausend Ängsten wand sie sich davor, aber sie enträtselte es nicht. Sie fühlte nur, daß es Hand an sie legte, an das Kind unter ihrem Herzen – – –

Das Entsetzen lähmte sie fast – war das die Bestimmung des Weibes? Und sie erschauerte vor dem bodenlosen Sumpf, der sich vor ihr auftat. Wenn das, was Theklas Worte ihr enthüllt, nicht nur Wahrheit war, sondern einen breiten Platz in der Welt einnahm, wo blieb dann die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Blutes? Wo blieb der Mutterschaft Weihe, wenn die reine Frau mit der Dirne teilen sollte? Wer schloß dem Siechtum die Tür? Und Lieb'? Und Glück?

Sie rang mit der Not, die über ihr Leben hereinbrach.

Aber die Not war die stärkere. In der jungen Seele schürte sie den Zweifel. Der lohte himmelhoch empor.

›Du bist die Betrogene, Geschlagene, in den Staub Gedrückte – was trieb ihn sonst zu solch eiliger Hochzeit? Die Angst war's, der Schleier möchte gelüftet werden! Nun bindet dich die Schmach. Denn du trägst sein Kind – du bist ihm hörig!‹

Wie unter einem Peitschenschlag zuckte sie zusammen. Nicht nur die Hörigkeit des Blutes war's, – was sie mit allen Fasern an ihn band, war die große, große Liebe! Das war das Schwerste.

Und der Zweifel raunte und raunte. Und das Leben und die Wirklichkeit setzten ihr ehernes Siegel unter sein Zeugnis.

Aber die Liebe ließ eine brennende Träne darauf niederfallen.

Dann war alles still, so still, als deckten die Schatten der Nacht eine Tote.

Aber die Frau in dem seidenen Bett lebte. Mit wachen Sinnen lauschte sie in das Dunkel hinaus. In den kahlen Wipfeln der Ulmen sang der Wind sein Feierlied, und ein Käuzchen klagte über den Gärten. Fröstelnd hüllte sie sich in die Decke.

Vielleicht verflog die Stimmung, wenn sie zur Ruhe kam! Denn es konnte doch nur Stimmung sein. Die Nacht löste der Phantasie die Flügel und lud die Sinne zu einsamer Fahrt in ihr traumhaftes Schiff – wo hatte sie das doch gelesen? In irgendeinem Jungmädchenbuch. Ein Fünkchen Wahrheit barg das Wort.

Sie schaltete das Licht ein und betrachtete das Bild ihres Mannes, das neben ihrem Bett stand. Er hatte es als Bräutigam für sie machen lassen. Und im Anschauen der geliebten Züge ward das verhärmte Gesicht klarer und klarer. Wie hatte sie nur solch einem Gedanken Raum geben können? Theklas trüber Bericht hatte ihn losgelöst, es war ganz klar. Aber sie selbst war auch nicht ohne Schuld. Sie hätte nicht von ihrem leichtsinnigen Schwager auf ihren Mann schließen dürfen. Wenn man angegriffen war, sollte man überhaupt nicht so scharf nachdenken. Es war ja ganz natürlich, daß diese Zeit sie besonders mitnahm, denn sie war ja von klein auf zart gewesen.

Und sie lächelte das schöne stolze Mannesantlitz an und drückte das Bild an die Lippen. Nein, so etwas durfte nicht wieder vorkommen, schon um ihrer selbst willen nicht. Sie war ja halbtot. Thekla hätte nicht so spät abends mit ihrer Hiobspost kommen sollen. Aber das war eine Sache für sich. So ging's nicht weiter. Sie mußte sich zusammennehmen. Dann würden solche dummen Einfälle schon von selber ausbleiben.

Sie war ruhiger geworden. Aber noch wanderten die Gedanken. Olga! Der Zwiespalt erwachte von neuem. Wußte ihr Mann nicht um seines Bruders Krankheit? Warum dann die Eile, mit der er die Sache betrieb? Man konnte fast von Überstürzung sprechen. Ja, die Eile, heut und – damals!

Sie warf sich in den Kissen herum, was sollte sie tun? Schwieg sie und es geschah ein Unglück, so würde sie nie wieder froh werden. Brachte sie aber die Angelegenheit zur Sprache, so beschwor sie einen Sturm herauf. Es war zum Verzweifeln. Wäre ihre Mutter doch anders gewesen! –

Und Doktor Werner? Sie hatte leider gar kein Vertrauen zu ihm. Aber ihr Mann kannte ihn gut von früher und hatte ihn als Hausarzt gewünscht. Weihte sie ihn ein, so erfuhr Freiland zweifellos die ganze Sache. Sie kannte ihn. Seine ärztliche Schweigepflicht nahm er ziemlich leicht. Sie seufzte. Hätte sie doch einen Menschen gehabt, der sie beriet. Ihr Kopf war so müde. Sie konnte kaum mehr denken.

Da flog's ihr durch den Sinn: Professor Linde! Sie atmete auf. Wie eine Befreiung kam's über sie. Wenn er damals auch die Vormundschaft ablehnte, so hatte er doch nichts gegen sie und die Ihrigen. Sie waren ja überhaupt noch verwandt. Allerdings sehr weitläufig. Seit ihres Vaters Tode war der Verkehr etwas eingeschlafen. Warum, wußte sie nicht. Das ging ja manchmal so. Vielleicht lag es daran, daß die beiden Frauen nicht besonders zueinander paßten. Vorgekommen war jedenfalls nichts, das hätte sie erfahren. Und der Gedanke ward Entschluß. Gleich morgen wollte sie Linde um seinen Besuch bitten. Lieber wäre sie in die Sprechstunde gegangen, es sah so unbescheiden aus. Aber sie durfte ja nicht hinaus. Und dann die Dienstboten. Sie würden nicht dichthalten. Doch das fand sich morgen. Der Professor kam ja meist abends. Die Köchin würde sie ausschicken. Der Jungfer sagte man eine Notlüge. Frau von Mandel war mit Olga auf einige Tage verreist, ihr Mann kam erst übermorgen wieder. Vor Überraschungen war sie also sicher.

Die Hauptsache war die Frage selbst, wie man Olga half.

Sie schloß die Augen.

Selbstverständlich, das war die Hauptsache. Daß dahinter ein leiser kaum gedachter Gedanke lebte, war ganz natürlich nach der aufregenden Nacht. Sie brauchte in ihrer hilflosen Lage wahrhaftig einen treuen Rat und die feste unumstößliche Versicherung aus dem Munde einer ärztlichen Größe wie Linde, daß ihr nichts, aber auch gar nichts fehle, daß sie es lediglich mit den natürlichen Begleiterscheinungen ihres Zustandes zu tun habe. Wenn sie diese Gewißheit erlangte, ohne auch nur den leisesten Schein eines Argwohns gegen ihren Mann zu erwecken – –

Und sie dachte darüber nach, wie sie sich am besten ausdrückte. Sie war ja so entsetzlich unerfahren.

*

Professor Lindes dunkle Augen ruhten forschend auf Asta Freilands durchsichtigen Zügen.

»Ja, meine liebe gnädige Frau, das ist eine schwierige Angelegenheit,« sagte er ernst. »Ihre Frau Mutter wird Ihnen gesagt haben, daß sie vor Ihrer Verlobung eine ziemlich erregte Auseinandersetzung mit mir hatte. Sie wünschte, daß ich an Doktor Trautmanns Stelle die Vormundschaft übernehmen sollte. Ich mußte es ablehnen und zwar aus demselben Grunde, der Trautmann veranlaßte, sein Amt niederzulegen. Sie werden sich erinnern, daß es sich um die Frage des ärztlichen Zeugnisses handelte. Ihre Frau Mutter lehnte sie damals grundsätzlich ab, ich bestand ebenso bedingungslos wie Trautmann auf der Forderung des Zeugnisses.«

Die junge Frau sah ihn mit großen Augen an. »Meine Mutter hat mir gesagt, Sie teilten Herrn Doktor Trautmanns Ansicht nicht unbedingt, Herr Professor! Die Vormundschaft hätten Sie abgelehnt, weil Ihre Zeit Ihnen nicht erlaubte, das Amt zu übernehmen.« Sie stockte. »Sie muß Sie ja vollständig mißverstanden haben.«

In Lindes Gesicht arbeitete es. Auf seiner Stirn stand eine strenge Falle. »Das ist ausgeschlossen,« sagte er scharf.

Da sah er eine dunkle Blutwelle in das erschrockene Gesicht steigen.

»Sie werden verstehen, daß ich unter diesen Umständen nicht noch einmal auf die Sache zurückkommen kann,« fuhr er freundlicher fort. »Ganz davon abgesehen, daß meine Bemühungen völlig ergebnislos sein würden, habe ich die ganze Sache aus dritter Hand erfahren. Sie werden selbst am besten wissen, was auf Damentees alles geredet wird und wieviel Phantasie mit im Spiel ist. Natürlich weise ich nicht von der Hand, daß der Fall sehr wohl möglich ist, aber ich kann die Sache nicht zur Sprache bringen, solange mir Beweise fehlen, für deren Glaubwürdigkeit ich persönlich eintreten kann. Ich hätte Ihnen gern den Gefallen getan, aber es ist leider unmöglich.«

In Astas Augen standen Tränen. »Verzeihen Sie, Herr Professor! Ich fürchte, ich bin sehr unbescheiden gewesen!«

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, wie können Sie so sprechen! Ich hülfe Ihnen ja von Herzen gern, um so mehr, da Sie selber leidend sind und jede Aufregung vermeiden müssen. Aber Ihre Frau Mutter lernt in dem Punkt nicht um, und wenn sie sechs Töchter hätte!«

Asta nickte. »Ja, ich weiß. Sie vertritt in der Hinsicht ganz die alte Schule.« Zerstreut spielte sie mit ihrem Trauring.

Linde merkte, daß sie noch andere Dinge auf dem Herzen hatte.

Er ahnte nichts Gutes. Der Mann war augenscheinlich abwesend, und sie hatte die Gelegenheit benutzt, ihn zu rufen. Aber abgesehen von dieser Heimlichkeit war er in einer sehr schweren Lage. Denn nach allem, was ihm über Freilands Vergangenheit zu Ohren gekommen war, mußte er mit der Möglichkeit eines jener Fälle rechnen, die das schwerste Kapitel im Berufsleben des Arztes bilden. Traf seine Befürchtung ein, so stand er vor der Wahl zwischen bewußter Unwahrheit und Zerstörung der Ehe.

Da bat sie ihn ganz unvermittelt, sie zu untersuchen. Sie wolle gern das Urteil eines erfahrenen Frauenarztes über ihren Zustand hören. Ihre Mutter und ihr Mann beruhigten sie von einem Tag zum anderen, der Hausarzt vertröste sie ebenfalls auf bessere Zeiten, aber sie müsse endlich wissen, wie es um sie stehe. Sie könne nicht um den Gedanken herum, daß ihr etwas fehle, was mit ihrem Zustand nicht im Zusammenhang stehe, denn sie könne sich nicht denken, daß man sich so krank dabei fühle. –

Er erfüllte ihren Wunsch. –

Dann saß er wieder neben ihrem Schmerzenslager. Flehend hingen die großen glänzenden Augen an seinen Lippen.

Selten war ihm der Kampf mit seiner Pflicht so schwer geworden, wie diesem jungen Kinde gegenüber. In seiner ruhigen und gütigen Art sprach er ihr Mut zu. Doktor Werner habe ganz recht, man müsse in dem Zustand mit allerhand Wechselfällen rechnen. Sie solle die Geduld nicht verlieren und dergleichen mehr. Er konnte ihr ja nicht sagen, wie es um sie stand. Hätte sie ihn geradezu gefragt, ob sie durch die Ehe erkrankt sei, er hätte ihr, ob auch schweren Herzens, die Antwort gegeben. Aber sie stellte die Frage nicht. Der Name ihres Mannes kam nicht über ihre Lippen. Und doch bettelten die dunklen Augen um die Wahrheit! Ahnte sie, daß er sie ihr nicht sagen durfte? Was wußte ein Kind von des Lebens schwersten Fragen? Aber daß es Fäden gibt, feiner als gesponnenes Glas, als die weiße wehende Herbstseide über den Feldern – Fäden, die nicht zerschnitten werden dürfen, das spürten die Sinne jedes reinen Weibes. Darum der quälende Zweifel an den Worten des Arztes, darum der lähmende Gedanke: ›du erfährst das letzte, härteste nicht!‹ – Ja, sie hatte nur zu recht. Wer die Ehe nicht zerstören wollte, mußte den Glauben an Manneszucht und Weibesreinheit wahren, und ob er die Trümmer zertretenen Glaubens, ob er den armseligsten Zweifel rettete – er schützte den letzten Damm, der das hereinflutende Elend aufhielt.

Ob sie sich das sagte? Der Arzt glaubte, das Ahnen ihrer Seele zu spüren. Die traurigen Augen führten eine zu beredte Sprache.

Er ertrug den Anblick dieses stummen Leides nicht länger und erhob sich. Noch einmal lag ihre Hand in der seinen.

Da trat plötzlich ein Ausdruck namenloser Qual in das junge Gesicht. Die Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder. Totenblässe wechselte mit glühendem Rot.

Dann kam's, stockend, mit fliegendem Atem: »Herr Professor – um Gottes willen, sagen Sie's mir – bin – bin ich – – –«

Aber sie kam nicht zu Ende. Eine Glocke schrillte durchs Haus. Sie fuhr empor. Ihr Blick flog zur Standuhr. Die Köchin konnte das noch nicht sein. Das Wort erstarb ihr auf den Lippen. An allen Gliedern zitternd lauschte sie hinaus.

Stimmen klangen. Eine leise schwache, müd wie der Tod und die klare freundliche der Jungfer.

Kerzengerade aufgerichtet starrte die junge Frau auf die Tür. »Das ist ja mein Schwiegervater! Der sollte doch in Barnow sein!« Ihre Augen flackerten.

Da klopfte es. Die Jungfer sah herein und bat Linde, herauszukommen.

Er folgte ihr.

Im Herrenzimmer saß eine gebeugte Gestalt in einem Klubsessel, den weißen Kopf in die Hand gestützt. Es war der alte Freiland, der zwei Stunden von der Stadt entfernt auf seinem kleinen Gut lebte.

Mühsam erhob er sich und begrüßte den Professor mit erloschener Stimme.

Erschrocken blickte Linde in die zerstörten Züge.

Wie ein Kind ließ sich der sonst so rüstige Greis auf seinen Platz zurückführen.

Linde setzte sich ihm gegenüber. Er hatte das Gefühl, vor einem Verhängnis zu stehen.

Er täuschte sich nicht.

Bernd Freiland war das Opfer eines Unglücksfalls geworden. Eine Schlittenpartie in der Dämmerung. Ein Vollbluthengst, den der Hafer stach. Ein angetrunkener Kutscher. Ein verschneiter Prellstein am Wege. Das bekannte Bild. Der Assessor und seine Begleiterin waren auf den Sturzacker geschleudert worden. Die Dame war sofort tot. Freiland wurde noch lebend ins Gutshaus gebracht. Seinen Vater kannte er nicht mehr. Das letzte Wort aus dem Munde des Sterbenden war der Name seiner Frau.

Es währte lange, bis der arme alte Mann seinen kargen Bericht geendet hatte. Stockend, unzusammenhängend, oft mit völlig versagender Stimme brachte er die Worte heraus. Dann sank er völlig in sich zusammen. Wie ein Häufchen Elend saß er da. Linde sagte sich: ›Diese gebrochene Kraft reicht nicht mehr weit.‹

Da richteten sich die grauen Augen flehend auf ihn. »Herr Professor – bringen Sie's meiner Schwiegertochter bei – ich – ich bin am Ende!« Er schluchzte wie ein Kind.

Linde antwortete nicht sogleich. Er sah, er mußte helfen. Aber es kam ihn hart an.

Noch blühten Bernd Freilands Rosen, noch wußte sein junges Weib nicht, daß sein Leben vergiftet war – noch nicht, denn Zweifel war nicht Wissen. Und dieser Zweifel mußte ihr erhalten bleiben, weil ihr Zustand hoffnungslos war. Wie lange sie noch leben würde, war heute noch nicht abzusehen, aber eins stand fest: nie würde ihr ein neues Glück erblühen. Selten war ihm ein Fall von gräßlicherer Klarheit vorgekommen.

Ob sie noch einmal die letzte schwerste Wahrheit fordern würde?

Er sah das liebliche Geschöpf in den Kissen liegen, neben sich das Bild ihres Mannes und seinen letzten welkenden Strauß. Nein – so wie die Dinge standen, war eine Lüge Barmherzigkeit!

Aber er würde nicht ein zweites Mal in die Lage kommen. Mit leiser Hand würde sie den Schleier über den Toten breiten und nicht dulden, daß man seine Ehre antastete. Zu oft hatte er diesen Ärmsten der Armen Samariterdienste geleistet. Er kannte ihre verschwiegene Trauer, ihren scheuen Stolz, kannte vor allem die Liebe, die nicht sterben will.

Die Frau da drinnen gehörte zu ihnen. Trotz der Kampfesstunden, die hinter ihr lagen. Trotz des armen geschändeten Leibes.

Es gab Menschen, die die härteste Wahrheit zum Leben brauchten und solche, die sich an ihr verbluteten. –

Da zitterte die müde Stimme noch einmal durch den stillen Raum: »Herr Professor, haben Sie Barmherzigkeit mit einem alten Mann!«

Er fuhr aus seinen Gedanken auf. Wie ein Sohn neigte er sich über den Greis.

»Selbstverständlich, lieber Herr Freiland, ich gehe sofort zu Ihrer Schwiegertochter! Nachher sprechen Sie selber mit ihr!«

Dankbar umfaßten die knöchernen Finger seine Hand. Über das verwelkte Gesicht rannen Tränen. Sprechen konnte er nicht.

Die bronzene Standuhr auf dem Kamin schlug zehn. Da nahm Siegfried Linde die schwere Bürde von den greisen Schultern und trug sie in die Kammer des jungen betrogenen Weibes.


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