Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.
Siegfried Lindes Tochter.

Die Liebe fragt zuletzt nach eignem Glück.

 

»Ich freue mich, daß Mutter sich endlich entschlossen hat, heute nachmittag Frau von Irrgang zu besuchen,« sagte Ursula Linde und strich das dunkle Haar aus der Stirn. »Sie kommt immer ganz erfrischt zurück. Schade, daß wir so weit voneinander wohnen! Hoffentlich verfehlen sie sich nicht!«

Sie trat ans Fenster und hielt ein Küchentuch gegen das Licht. »Wenn ich mich verheirate, möchte ich eine Schwiegermutter wie Frau von Irrgang haben! Keine von unsren alten Damen ist wie sie! Vater spricht immer von ihrer schneeweißen Jugend, damit ist alles gesagt!«

Hochaufgerichtet stand sie da, die schlanke Gestalt vom Glanz der Spätherbstsonne umspielt.

Siegfried Lindes Älteste war ihres Vaters Ebenbild, gesund an Leib und Seele. Die klaren Züge hatten etwas Gereiftes, die Augen den festen Blick des Arztes. Ihr ganzes Wesen atmete jene liebliche Hausmütterlichkeit, die oft den ältesten Töchtern großer Familien eigen ist. Eine Schar jüngerer Geschwister war ihrer Obhut anvertraut, die zarte Mutter wesentlich durch sie entlastet. »Ein deutsches Mädchen, wie es leibt und lebt,« hatte ein Freund ihres Vaters geurteilt, als er sie zum erstenmal, von der kleinen Gesellschaft umringt, am Kaffeetisch gesehen, und Linde selber dachte beim Anblick seiner Ältesten oft an Werthers Lotte.

Sie legte das Tuch zusammen. »Endlich ein heiles! Die Kriegsseife hat unsere ganze Wäsche verdorben. Aber daß du mir beim Stopfen helfen willst, ist doch gegen jede Verabredung, Ilse!«

Die Angeredete hob den Blick von der Arbeit. Sie machte einen älteren Eindruck als ihre Freundin, in Wahrheit war sie jünger. Ein großer Schmerz hatte seine tiefe Spur in das madonnenhaft schöne Gesicht gezeichnet, und die Einsamkeit der Seele, die wunschlos ihr totes Glück bewacht, gab dem jungen Weibe etwas Frauenhaftes. Fremde hielten sie für eine Witwe. Ilse von Stürmer war Hermann Wächters Braut.

»Ich helf dir doch gern,« sagte sie freundlich.

Ursula stand noch immer am Fenster.

»Da geht Asta Mandel mit ihrem Bräutigam, Assessor Freiland!« Sie blickte einem hochgewachsenen Paar nach.

»Ach! Seit wann sind die verlobt?«

»Noch nicht lange.« Sie trat an den Tisch. »Ich begreife nicht, daß Frau von Mandel die Verlobung zugegeben hat. Asta ist viel zu schade für ihn! Er ist kein anständiger Mensch.«

»Kein anständiger Mensch?«

»Nein,« sagte sie hart.

Ursulas dunkle Augen flammten. »Er hat ein armes verwachsenes Mädchen auf dem Gewissen. Das genügt für mich. Ich erfuhr es durch ihre Mutter eine Stunde nachdem ich ihm einen Korb gegeben! Nie hab ich so Gottes Bewahrung erfahren! Man weiß ja gar nicht, wie gut man's hat, Ilse! Hätten uns nicht beide Eltern von klein auf gelehrt, wahre Werte vom Schein zu unterscheiden, hätte Mutter mich nicht vor allem rechtzeitig aufgeklärt, ich wäre wahrscheinlich auf den Menschen hereingefallen. Denn ich will's nicht leugnen, ich hatte viel für ihn übrig. Aber als ich ihn einmal mit einer jungen Schauspielerin beobachtete – – –« Sie schürzte verächtlich die Lippen.

»Wunderbar, wie ein Mensch sich oft durch einen Blick oder eine Äußerung verrät,« sagte Ilse gedankenverloren.

Die andere nickte. »Wenn er geahnt hätte, daß ich ihn beobachtete! Du hättest ihn sehen sollen! Ich sage dir, er war wie ausgewechselt. Die Haltung, die ganze Art sich zu geben, vor allem der Gesichtsausdruck war nicht wiederzukennen. Dabei forderte Fräulein Libau sein Benehmen in keiner Weise heraus. Als ich ihn nachher mit anderen Damen sah, hatte er wieder sein gewöhnliches Gesicht aufgesetzt und war ganz der alte. Aber ich konnte die nachlässige Haltung, mit der er vor der Libau stand, und seine unverschämte Vertraulichkeit nicht vergessen. Der Mensch war mir widerlich geworden. Heute kann ich's nicht fassen, daß ich ihn einmal gern hatte.«

Ilse stützte den feinen Kopf in die Hand. »Liebe macht blind, wenn ihr nicht sehr gründlich der Star gestochen wird.«

Ursula nickte. »Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, daß ich nicht besser aufgepaßt habe. Jetzt sehe ich immer den gierigen Blick, den er auf Fräulein Libau richtete. Merkwürdig – warum sah ich ihn nicht früher? Du hast recht!«

»Hast du denn wirklich Vertrauen zu ihm gehabt? Ich meine ein so unbegrenztes Vertrauen, wie die Ehe es fordert? Solchen Leuten gegenüber wird man doch gewöhnlich einen heimlichen Zweifel nicht los, trotz der Anziehungskraft, die sie oft auf einen ausüben. Glaubst du nicht, daß Gott dies Mißtrauen in uns gelegt hat, um uns vor Schlimmem zu bewahren?«

»Ganz gewiß. Mutter sagt, es sei der Selbsterhaltungstrieb des reinen Weibes, dessen gesundes Empfinden sich durch das Gemeine abgestoßen fühlt!«

»Mit dem Selbsterhaltungstrieb des reinen Weibes hat es allerdings auch seine Bewandtnis! Asta ist doch hereingefallen!« meinte Ilse. »Sie ist allerdings noch sehr jung.«

»Und hat eine unglaublich unvernünftige Mutter! – Mir scheint, sie haben die ganze Sache sehr übereilt. Bedenke doch, wie lange ist es her, daß Freiland sich um mich bemühte! Daß Frau von Mandel Asta richtig beeinflußt hat, glaube ich keinenfalls, denn ich weiß, daß sie es für unanständig hält, über sittliche Gefahren zu sprechen. Sie ist zu zimperlich! Als ob man sich dadurch beschmutzte, daß man eine Frage, die doch schließlich erörtert werden muß, ruhig und sachlich durchspricht! Na, ja, alle Mütter können nicht so sein wie meine. Asta wird sich noch wundern!« Ein Zug reinsten Mitgefühls lag auf dem lieblichen Gesicht.

Ilses blaue Augen ruhten sinnend auf der Freundin. ›Dich möcht ich als Mutter sehen,‹ flog's ihr durch den Sinn.

»Ursel,« sagte sie in ihrer schlichten natürlichen Art, »Asta tut mir ja schrecklich leid, aber vor allem freue ich mich, daß der Kerl dich nicht gekriegt hat! Dazu wärst du wirklich zu schade gewesen!«

Ein glockenhelles Lachen antwortete ihr. »Zu schade? Liebste Ilse, für so wertvoll halte ich mich nicht, aber ich danke Gott auf den Knien, daß er mich vor diesem Schicksal bewahrt hat!«

»Ich wundere mich nur, daß Asta nicht durch die Unterhaltung mit dir hellhörig geworden ist! Eine Verlobung kann man, wenn's sein muß, wieder auflösen. Sie kennt dich doch und mußte sich sagen, daß du nicht ohne Grund so über einen Menschen sprechen wirst!«

Ursula lächelte. »Du sagst doch selbst: Liebe macht blind. Das trifft bei Mädchen wie Asta besonders zu. Und ich kann's ja selber nicht leugnen, daß Freilands Persönlichkeit etwas Bestrickendes für mich hatte. Er ist ein Blender und hat ihr und ihrer Mutter den Kopf verdreht. Da die beiden keine Frage grundsätzlich behandeln können, sind sie hereingefallen. Ich bin ganz überzeugt, daß Dr. Trautmann sie gewarnt hat. Es ist zu auffallend, daß er gerade in diesem Augenblick die Vormundschaft niederlegte. Magdalene Trautmann erzählte es mir. Den Grund nannte sie nicht, und ich fragte natürlich nicht danach. Aber es ist doch ganz klar, daß da etwas vorgefallen ist.«

Beide schwiegen.

Ursula griff nach ihrer Arbeit. Ilse blickte verträumt hinaus. Wie Erwartung lag's über ihrer zarten Schönheit.

Ursula Linde sah sie an. Sekundenlang begegneten sich vier Augen. Dann war sie an der Seite der anderen. »Ilse, liebe Ilse!« Sie streichelte das schmale Gesicht. »Ilse, ich hülf dir ja so gern, aber wir wissen noch immer nichts!«

»Seit meinem letzten Hiersein sind fast zwei Jahre verstrichen,« schluchzte die Braut.

»Damals war Krieg. Da ging es tausend und aber tausend Frauen und Bräuten wie dir. Wir wissen ja nicht einmal, ob Hermann noch in Amerika ist, oder ob er den Krieg mitgemacht hat.«

»Wir wissen überhaupt nichts, Ursel! Seit er nach Amerika ging, ist jede Spur von ihm verwischt. Ich glaube kaum, daß er seinen Eltern schreibt.«

Ursula sah sie fragend an. »Du hast Wächters nicht aufgesucht?«

»Nein. Du weißt ja, wie die Dinge stehen. Hermanns Vater ist schwerkrank. Die Mutter hat mich immer abgelehnt. Ich war ihr nicht reich genug. Sie war's auch, die unsere öffentliche Verlobung hinderte. Man konnte das ja verstehen, weil Hermann das Examen nicht bestand. Aber hart war's. Später haben Wächters nie nach mir gefragt oder mich aufgefordert, zu ihnen zu kommen.« Sie zuckte die Achseln. »Aufdrängen kann ich mich ihnen natürlich nicht, dazu bin ich zu stolz.«

Ursula hatte sich neben sie gesetzt und, den dunklen Kopf in die Hand gestützt, nachdenklich vor sich nieder gesehen. Jetzt richtete sie den Blick voll auf die andere. »Ilse, weißt du, daß ich immer das Gefühl habe, daß hinter der ganzen Sache etwas Besonderes steckt?«

Die großen Augen sahen sie erschrocken an.

»Ich meine natürlich nichts Ehrenrühriges,« fügte sie rasch hinzu. »Aber ich kann's nun einmal nicht glauben, daß Hermann aus Dummheit oder Faulheit durchs Examen gefallen sein soll. Was war er für ein fleißiger begabter Junge! Er ist nie auf der Schule sitzen geblieben und hat sein Abitur gut bestanden. Auch als Student hörte man nichts von ihm, daß er bummelig gewesen wäre, wie nett und frisch war er immer, wenn er zu uns kam. Vater kennt ihn ja so genau. Er sagt, er verstünde es einfach nicht!«

In Ilses Augen standen Tränen.

»Ich hab dir doch nicht weh getan?« rief Ursula erschrocken.

Die Braut schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich danke dir für das, was du mir sagtest, wenn nur endlich Licht in die Sache käme. Hermann ist eine so vornehme Natur. Ich habe immer das Gefühl, er verließ das Elternhaus wegen einer schweren Kränkung. Daß ein Mensch wie er sich dann verbittert zurückzieht, ist ja kein Wunder!«

Sie griff hastig nach ihrer Arbeit. Ursula sah, wie sie mit den Tränen kämpfte.

»Hast du denn in der ganzen Zeit auch auf Umwegen nichts von ihm gehört?« fragte sie endlich.

»Nicht das Geringste. Wenn ich gewußt hätte, wo er sich aufhält, hätte ich ihm geschrieben. Mein Vormund wäre freilich dagegen gewesen, aber ich hätt's doch getan. Nur um zu wissen, ob er lebt, ob ...« Es ging über ihre Kraft.

Einen Augenblick schwiegen beide.

»Je mehr ich mich in seine Lage versetze, kann ich's verstehen, daß Hermann schweigt,« begann Ursula endlich aufs neue. »Er will deinem Glück nicht im Wege sein.«

Mit rascher Bewegung wandte der blonde Kopf sich um. »Meinem Glück?«

»Ja, Ilse, deinem Glück! Es ist meiner Ansicht nach ganz unmöglich, daß ein vornehm denkender Mensch in solcher Lebenslage anders handelt, vermutlich hat er dir damals geschrieben, und der Brief ging verloren, wer kann das wissen! Daß er aber – so wie die Dinge lagen – dein Leben nicht an seines ketten wollte, davon bin ich überzeugt. Er hätte mit leeren Händen vor dich treten müssen, das tut kein rechter Mann. Und ihr waret noch nicht öffentlich verlobt. Kein gewissenhafter Mensch würde anders denken und handeln, verlaß dich drauf! So, wie ich Hermann kenne, glaube ich aber bestimmt, daß ein Brief an dich verloren ging.«

Ilse starrte, den Kopf in die Hand gestützt, auf den Boden. Der Gedanke, den Ursula ihr entwickelte, überraschte und erschreckte sie. Aber sie hatte recht. Die Lindes hatten alle eine so feine kluge und gute Art, die Fragen des Lebens durchzudenken. »Er nimmt die Sache, wie sie ist, einfach beim Wickel, krempelt sie um und um und ist damit fertig,« hatte ihr Onkel, als er einmal in einer schwierigen Angelegenheit mit Professor Linde zu verhandeln hatte, gesagt. Ob's mit dem Fertigwerden immer so einfach war, schien Ilse etwas fraglich. Aber Menschen wie Linde mit ihrem starken gestrafften klaren Sinn machten das Härteste innerlich ab und ließen keinen Menschen ihre Not sehen. Das wollte sie ja auch, nur bisweilen, wenn die Wunde wieder aufbrach, hatte sie doch das Bedürfnis, sich Rat und Trost zu suchen. Sie hatte oft das Gefühl, daß sie zu jung und unfertig für das schwere Erleben war. Einen ausgereiften Menschen forderte es, ihr aber war, kaum zum Weibe erblüht, die harte Last auf die schwachen Schultern gelegt worden. Fast hatte die Not sie zerbrochen. Sie hatte sich mit ihrer Kunst nach Leipzig geflüchtet. Ihre außergewöhnliche musikalische Begabung half ihr über manche schwere Stunde hinweg. Aber sie schaffte den Schmerz nicht aus der Welt. Die Kunst erlöste sie nicht. Wenn die Arbeit des Tages hinter ihr lag, bannte die Einsamkeit ihre Sinne, und die Sehnsucht durchwandere der Jahre Dämmerung. Wie bald war der Rauhreif auf ihr blühendes Gärtlein gefallen! Zuerst war's der Hochmut jener schönen welterfahrenen Frau, die der Waise ihre Mutterliebe versagte, der Kampf des Sohnes um die Geliebte, der sich schwer auf ihr zartes Gemüt legte. Dann kam der niederschmetternde Schlag. Während einer Hochgebirgsreise mit ihrem Vormund erfuhr sie auf Umwegen durch entfernte Verwandte, daß Hermann nach Amerika gegangen sei. Von Wächterscher Seite kein Wort. Der Major war ein schwerkranker Mann, die Kinder von der Mutter beeinflußt. Auch ihre Hoffnung, von Lindes Näheres zu hören, erfüllte sich nicht. Sie wußten nur, daß der junge Referendar kurz nach dem zweiten vergeblichen Versuch, das Assessorexamen zu machen, Europa verlassen hatte. Das war alles. Und kein Lebenszeichen von dem Langgeliebten. Daß die quälende Ungewißheit Leib und Seele zermürbte, war kein Wunder!

Sie richtete sich auf. »Du hast recht, Ursel,« erwiderte sie tonlos. »Daß ich mir das nicht selber gesagt habe! Der Schmerz macht befangen!«

Ursula antwortete nicht. Einem großen Leid gegenüber war ihr das menschliche Wort immer zu arm erschienen. Sie sah die Freundin nur mit ihren schönen dunklen Augen an, als wollte sie sagen: ›Was gäb' ich drum, könnt' ich dir helfen?‹

Und die andere verstand sie. –

Wie ein rosenroter Schleier lag's über dem dämmernden Garten, und die wehenden Zweige der Birken schimmerten wie flüssiges Gold.

Durch den Abendfrieden klang der Ruf der Uhren.

Ilse horchte auf. »Ich muß nach Hause. Onkel Albrecht erwartet mich.« Sie erhob sich.

»Ich bringe dich durch den Garten,« schlug Ursula vor.

Sie half der Freundin in den Mantel und schlüpfte in eine Sportjacke.

Zierliche weißgestrichene Gitterzäune trennten die Gärten. Unbeengt schweifte der Blick ins Weite.

Da klangen junge Stimmen aus dem Nachbargarten herüber. Ein rotes Mäntelchen schimmerte durch die Büsche.

Ursula stand still. »Das sind die kleinen Bachfelds,« sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Laß uns mal hören, was die sich erzählen! Ich habe niemals eigenartigere Kinder gesehen. Sie haben oft Einfälle, auf die kein Mensch kommt.«

Leise traten sie an den Zaun.

Ein reizendes Zwillingspärchen hockte, Burgen bauend, auf einem Sandhaufen. Die Gesichter glühten, die kleinen Hände starrten von Sand. Besonders das Mädchen war ganz bei der Sache. Bei dem Jungen, der fortwährend auf das Schwesterchen einredete, ging die Arbeit langsamer vonstatten.

Plötzlich sprang er auf, wischte den Sand am Russenkittel ab und setzte sich auf die Gartenbank. »Ich mag nicht mehr!«

Er gähnte und reckte die Glieder. »Komm doch auch, Lilla, wir wollen uns was erzählen!«

Sie stand auf. Die Fingerchen gespreizt, beschaute sie ihr Werk. Dann ging sie langsam auf den Jungen zu, kletterte auf die Bank, hob vorsichtig ihr Mäntelchen auf und lehnte sich blinzelnd zurück.

»Nachher besuche ich Mutti und die kleine Schwester,« erklärte sie wichtig. »Vater hat es erlaubt. Du darfst auch mit, wenn du sehr leise bist, Erich.«

»Ich bin viel leiser als du!«

Sie zog die Stirn kraus. »Jungens sind immer laut.«

Er antwortete nicht. Sein kleines besinnliches Gesicht war auf die Sandburg gerichtet. Ein rotes Fähnchen flatterte lustig vom Turm.

Lilla beobachtete ihn. Unter den langen Wimpern schielte sie zu ihm hinüber.

Aber die Ehrenkränkung schien keinen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Ein glückliches Lächeln umspielte seinen Mund. Er sah zu den verhangenen Fenstern empor, wo die Mutter mit dem neugeborenen Schwesterchen lag.

»Du,« sagte er bedächtig, »der liebe Gott hat doch furchtbar viel zu tun. All die winzigen Öhrchen und Näschen, und die vielen kleinen Finger – was muß das für 'ne Arbeit sein!«

Sie lachte überlegen. »Unsinn, der hat doch 'ne Fabrik.«

Und das zierliche Persönchen setzte sich kerzengerade hin und machte ein Gesicht, darin mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit geschrieben stand: ›Was bist du für 'n dummer Junge!‹

Erich sagte nichts mehr. Als hätte ihn ein kalter Wasserstrahl getroffen, saß er da.

Leise gingen die beiden Lauscherinnen weiter.

»Die sind ja reizend,« sagte Ilse, als sie außer Hörweite waren. »Ich weiß nicht, wer mir besser gefällt, der Junge oder der Racker von einem Mädel! Der arme kleine Kerl hatte genug!«

Ursula lachte. »Ja, die Lilla hat's faustdick hintern Ohren!«

Sie standen an der Gartenpforte.

»Kann ich gleich hier hinausgehen?« fragte Ilse. »Der Weg durch die Viktoriastraße ist bedeutend länger. Ich muß mich beeilen, wenn ich pünktlich zurück sein will.«

Ursula zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete. »Ich komme bald zu dir, du bleibst doch noch etwas?«

»Acht Tage. Länger halt ich's nicht ohne Arbeit aus.«

»Das kann ich verstehen.«

Ilse reichte der Freundin die Hand. »Auf Wiedersehen, Ursel!« Sie nickte ihr zu. »Ich muß noch immer über die Fabrik lachen.«

Sie trennten sich.

›Gut, daß sie noch Sinn für Humor hat,‹ dachte Ursula Linde und schritt den Gemüsebeeten zu.

Ein grauhaariger Gärtner zog sein Käppchen. »'n Abend, Fräulein Linde!«

Freundlich reichte sie ihm die Hand. »'n Abend, Herr Gilbhard! Wie steht's zu Haus?«

Der Alte stützte sich auf den Spaten. »Danke, Fräulein Linde!« er seufzte. »Wie soll's einem gehen? Unser Auskommen haben wir und danken Gott dafür. Aber der Mensch lebt nu mal nich vom Brot allein. Wer's mitansehen kann, wie's Vaterland sich verblutet, der seh's mit an, Fräulein Linde, ich kann's nicht! Alles wird verschandelt und in'n Dreck getreten, dat is ja schlimmer als Krieg! Treu und Glauben gibt's nich mehr!« Er strich mit der Rechten durchs Haar und blickte über das Ackerland. »Nichts is uns mehr heilig, aber auch rein nichts!« Tränen des Zorns standen in den ehrlichen Augen. Eine tiefe Falte trat zwischen die Brauen. »Und so'n Sauvolk nennt sich deutsch!« Er spuckte aus. »Pfui Deubel! Verzeihung, Fräulein Linde, aber was zu viel is, dat is zu viel!«

Er nahm seine Arbeit wieder auf. Die Schollen fielen. Erdgeruch stieg auf, kräftig und rein.

Gedankenverloren schaute Ursula ihm zu.

Da sah das eben noch so zornige Gesicht ruhig und fast froh zu ihr auf, und die arbeitsharten Hände hoben eine dampfende Erdscholle empor: »Die bleibt uns treu!«

Die Tränen traten ihr in die Augen. Neun Kinder hatte der Mann, von denen die jüngsten noch zur Schule gingen, und in den Kriegsjahren war's ihm blutsauer geworden, seine Familie durchzubringen. Aber er hatte recht. Die Heimaterde hielt, was sie versprach. Sie hatte ihn in harter Zeit ernährt und ernährte ihn heute noch, wo alles aus den Fugen ging. Er aber hielt die Scholle heilig. Das war das Große an dem Manne: die Dankbarkeit gegen die Heimaterde mitten im Sturm und Drang. Eine seltene Edelfrucht. Und sie dachte: ›Hätte Vater das doch gehört!‹

Er war schon wieder beim Graben.

»Wie geht's Ihrer Frau, Herr Gilbhard?« fragte sie.

»Danke für die Nachfrage, Fräulein Linde! Meine Frau is, Gott sei Dank, gesund, wenn sie's auch schwer hat mit die viele Wäsche. Aber was meine Schwiegertochter is, ich meine die Frau von meinen August – ach du lieber Gott« – er machte eine bezeichnende Handbewegung. »Dat is 'ne böse Sache, Fräulein Linde! Manchmal denk ich, es is ihr überhaupt nich zu helfen! Was war's für 'n hübsches gesundes Mädchen – Sie kennen ihr ja, sie hat ja bei Herrn Professor seine Mutter gedient – und jetzt? Ach du meine Zeit! Meinen August darf man's ja gar nicht sagen, der hat gleich die Tränen in die Augen, Fräulein Linde! 's is ja auch schrecklich für den Mann! Er macht sich die bittersten Vorwürfe! Und doch denk ich immer, was er einmal im Rausch getan hat, dat tun andre hundertmal mit klarem Kopf. Im Grunde is er der ordentlichste Mensch von der Welt, er hat eben Unglück gehabt! Hoffentlich is es diesmal 'n lebendiges gesundes Kind!« Er fuhr mit dem Rockärmel über die Augen. »Ich glaub's noch nicht!«

Ursula hatte den Mann verstanden. Sie seufzte. Auf Schritt und Tritt bei Hoch und Niedrig traf man immer wieder auf die Spur eines schleichenden Giftes. Und das zu einer Zeit, wo alles auf die Erstarkung des deutschen Volkes ankam! Es war zum Verzweifeln.

»Soll ich's Vater sagen?« fragte sie in ihrer herzlichen Art.

Er sah sie dankbar an. »Wenn Fräulein Linde das tun wollten! Aber keiner darf wissen, daß ich davon gesprochen hab.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bewahre! Keiner merkt was! Das wird Vater schon so einrichten. Sie haben doch Kaffee bekommen, Herr Gilbhard?«

»Danke, Fräulein Linde! Hier wird keiner vergessen!«

Sie sah auf die Uhr. »Es ist höchste Zeit, daß ich nach dem Abendbrot sehe!«

Freundlich nahm sie von dem Alten Abschied und schritt eilig dem Hause zu.


 << zurück weiter >>