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Fünftes Kapitel.
Nachtblind.

Herr! laß unser Volk nicht nachtblind werden!
Durch der Dörfer Traum, durch die dämmernde Stadt,
Durch des Waldes feiernde Herrlichkeit,
Über deutschen Acker und deutsche Saat
Zieht der Landesfeind.
Er tritt in die Hütten in Engelsgestalt,
Er braucht in den Kammern Teufelsgewalt,
Er beugt sich zur Wiege mit tödlichem Kuß,
Die Seele des Weibes versengt sein Gruß,
Er bindet den Starken, er lähmt seine Kraft,
Er vergiftet Deutschland! –

Herr! laß unser Volk nicht nachtblind werden! –
Keine Mannesfaust, die dem Nebelgezücht
Zornbebend ins höllische Antlitz schlägt!
Kein Weib, das zitternd sein Kindlein deckt,
Keins, das nach Glauben und Heimat frägt,
Das in brennender Scham seinen Schleier rafft,
Keins, das die schweifenden Sinne strafft – –.
Erlosch deines Geistes Feuer auf Erden? – –
Herr! laß unser Volk nicht nachtblind werden!

 

»Ja, mein lieber Gilbhard, das ist eine sehr ernste Sache! Daß da nicht alles in Ordnung ist, habe ich natürlich gemerkt. Eine kerngesunde kräftige Frau sieht nicht so vor der Entbindung aus. Und dann zwei Fehlgeburten so schnell nacheinander! Das muß einen besonderen Grund haben.« Professor Linde lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück und blickte teilnehmend auf sein Gegenüber. Er kannte den Mann als einen durchaus nüchternen und anständigen Menschen, der sich durch fleißige Arbeit sein Brot verdiente. Ab und zu hatte er ihn beschäftigt und war stets zufrieden gewesen. Auf die Frau hatte seine Mutter, bei der sie als Mädchen gedient, immer große Stücke gehalten. Einige Tage, nachdem Ursula ihm die Gilbhardsche Angelegenheit vorgetragen hatte, suchte er, unter dem Vorwand, eine Maurerarbeit zu bestellen, die Leute auf. Er traf die Frau allein zu Hause, der Mann war auf Arbeit gegangen. Marie Gilbhard sah schlecht aus und machte kein Hehl aus ihrem leidenden Zustand. Aber mit keiner Silbe deutete sie die Ursache an oder sprach Vermutungen aus. Der Arzt merkte sofort, daß die Frau ihren Mann schonte. Die Frage konnte daher nur oberflächlich erörtert werden. Aber als er ging, wußte er genug.

Am anderen Nachmittag trat August Gilbhard zur Arbeit an. Die Gartenmauer, die schon vor dem Kriege schadhaft gewesen, bedurfte dringend einer Ausbesserung. Zu anderer Zeit wäre er in ein bis zwei Stunden damit fertig gewesen, heute kam er nicht von der Stelle. Als der Professor nach der Sprechstunde in den Garten kam, war er noch nicht fertig.

Linde wußte sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Das war alles andere als Drückebergerei, es war die Scham des unverdorbenen Menschen, der in einer unglücklichen Stunde der Versuchung zum Opfer gefallen war. Er glaubte sich nicht zu täuschen. So sah kein Wüstling aus. Und er kam dem Mann zu Hilfe, indem er ihn aufforderte, nach beendeter Arbeit zu ihm zu kommen, er wolle ihn gleich bezahlen.

Punkt sieben klopfte August Gilbhard an die Tür des Sprechzimmers.

Immer deutlicher, trat's zutage, welche Überwindung den Mann dieser Gang gekostet hatte. Dazu war ihm seine etwas schwerfällige Natur im Wege. Er kam und kam nicht vorwärts. Dem lebhaften Professor wollte fast die Geduld reißen, wie die Katz' um den heißen Brei ging er um den peinlichen Gegenstand herum. Als Linde ihm sagte, die Fehlgeburten müßten einen besonderen Grund haben, fragte er, ob seine Frau nicht schon als Mädchen ein Leiden gehabt haben könne, das jetzt zum Ausbruch gekommen sei, oder ob vielleicht die Möglichkeit bestünde, daß sie sich irgendwo eine ansteckende Krankheit zugezogen. Als der Arzt seine Fragen verneinen zu müssen glaubte, saß er einen Augenblick ganz still da und drehte die Mütze verlegen in den Händen.

Dann kam's. Schwerfällig, als würgte er an den eigenen Worten.

»Herr Professor, Sie wissen ja doch, was meine Frau fehlt! Darum will ich's lieber gleich sagen. Ich bin immer 'n ordentlicher anständiger Mensch gewesen und hab' mir nie 'rumgetrieben, Herr Professor kann sich bei meine Eltern erkundigen. Ich bin immer 'n guter Sohn gewesen. Ins Wirtshaus bin ich sehr selten gegangen, und Verkehr mit Weibern hab' ich erst recht nich gehabt. So was is mir immer widerlich gewesen. Ich kann's auch heute noch nich begreifen, wie's menschenmöglich war, daß ich an das Frauenzimmer geraten bin.« Er fuhr mit dem sauberen blau und weiß karierten Taschentuch über die feuchte Stirn. »Herr Professor, ich will Sie genau beschreiben, wie die Sache sich zugetragen hat. Sie können meinen Bekannten, den Maurer Hotorp fragen, ob ich die Wahrheit sage. Denn der hat mir mitgenommen. Womit ich nich sagen will, daß er schuld is. Denn schließlich kann ich doch allein auf mir aufpassen.« Verlegen sah er vor sich nieder. »Es war kurz eh' wir Hochzeit machen wollten. Da begegnet mir eines Abends Hotorp, was ja meine Frau ihren Bruder sein Schwager is, und quängelt solange, bis ich mit ihn ins Wirtshaus gehe. Ich war ja im ganzen wenig gewohnt, vor allen keinen Schnaps, Herr Professor! Das Zeug stieg mich darum auch gleich furchtbar zu Kopf. Dabei hatten wir gar nich viel getrunken. Als wir weggehen wollten, kamen 'n paar Bekannte, und wir ließen uns breitschlagen und blieben da. Es war mir ja eigentlich nich recht, aber allein mocht' ich nich weggehen. Es wurde drei, bis wir loszogen. Als wir in die Langestraße bogen, kamen uns 'n paar Frauenzimmer entgegen –« er wandte sich ab. »Na und in den angetrunkenen Zustand is das Unglück geschehen, Herr Professor! Ich hab' die paar Gläser Schnaps mit 'ner schweren Syphilis bezahlt. Denn nüchtern wär' ich der Person nie zu willen gewesen.«

Er starrte vor sich hin. Die Tränen rannen über das gutmütige Gesicht.

»Wir haben dann die Hochzeit aufgeschoben und 'ne ganze Weile gewartet,« fuhr er in gedrücktem Ton fort, »aber es war doch wohl zu früh ... Meine Frau is seit unsere Verheiratung immer kränklich. Die beiden Fehlgeburten kamen sehr schnell nach'nander und haben ihr schrecklich mitgenommen, und jetzt is es bald wieder soweit!« Stöhnend vergrub er das Gesicht in den Händen.

Professor Lindes Blick ruhte auf der kräftigen Gestalt des Mannes, der wie gebrochen dasaß, und durch seine Seele zog's: ›muß das sein?‹ Wahrhaftig, der Ärmste hatte recht, die paar Gläser Schnaps waren teuer bezahlt. Hier der Mann von noch nicht dreißig Jahren, dessen Gesundheit auf Jahre hinaus, vielleicht für immer gebrochen war, dort die einst so blühende Frau, die sich mit siechem Leibe und zertretener Mutterhoffnung durchs Leben schleppte! Er ließ die Gedanken ein paar Jahre zurückwandern. Was waren das für Menschen gewesen! Und es kochte in ihm auf, wie immer, wenn er das prachtvolle Material verwüstet und die edle germanische Rasse geschändet sah. Geredet und geschrieben worden war viel über Volksgesundheitspflege, doch die Tat hatte in den seltensten Fällen hinter den Worten gestanden. Man predigte wohl die Wahrheit, aber man richtete sich nicht nach ihr. Die Vogelstraußpolitik vor dem Kriege suchte auch auf sittlichem und sozialem Gebiet ihresgleichen. Wer vom deutschen Verfall sprach, wurde als Schwarzmacher verschrien und an den Pranger gestellt. Den Höhepunkt erreichte die schönfärberische Gefühlsduselei in der ersten Kriegszeit, als die purpurne Lohe eines gewaltigen nationalen Aufschwungs über Deutschland flammte. Wies ein wahrhaftiger Volksfreund warnend auf mancherlei Strohfeuer und Scheinwerte, so pfiff man ihn aus. Und wie stand's in Wahrheit? Damals war ein fortgeschrittener starker Zersetzungsprozeß einwandsfrei festgestellt – heute verfaulte Deutschland bei lebendigem Leibe. Wo blieb der Arzt, der den Schnitt wagte? Ein Großer mußte es sein, ein ganz Großer, ein Lebenskünstler, von Gott gesandt! Einer, der Luthers Erbe und Bismarcks Vermächtnis in geweihten Händen trug! Einer mit schwertgewohnter Hand und stählerner Seele, ein Führer! Ein Mann, der die Mörder der deutschen Volksseele kannte und mit ihnen abrechnete! – Was heute am Steuer des Reiches saß, kannte sie nicht. Man war taub und blind geworden. Nachtblind. Sonst wär's nicht soweit gekommen. Denn man mochte sagen, was man wollte: der schlimmste Feind – tausendmal schlimmer als die Feinde in Ost und West – der Landesfeind war der Alkohol. Der war König von Teufels Gnaden in Deutschland. Es gab keine Not, keine Schande, keine Volksseuche, die nicht den Giftkeim des Alkohols barg. Am hellen Tage schritt Beelzebub durch das unglückliche Land, und man nahm ihn auf als einen edlen Gast. Der Alkohol erwürgte Mann und Weib und tötete das Kind im Mutterleibe. Er zertrat Zucht und Sitte und alles, was heilig war. Der Alkohol mordete Deutschland.

Aber am Regierungstisch wurden dem hungernden Volke mitten im Kriege Tausende von Zentnern Gerste entzogen, um das Leben der Brenner und Brauer zu fristen und den Mob bei Laune zu erhalten.

Ein Seufzer schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Die Forderung des Augenblicks trat an ihn heran. Unerbittlich, grausam. Herr Gott im Himmel, warum mußte immer wieder der Gerechte mit dem Ungerechten leiden? Die ganze Schuld des Mannes bestand in seiner Unvorsichtigkeit. Und nun war's nicht genug, daß er die eine durchzechte Nacht mit schmutziger Krankheit am eigenen Leibe bezahlte, daß sein junges Weib aller Wahrscheinlichkeit nach nie ganz genesen, geschweige ein gesundes Kind zur Welt bringen würde – nein, er sollte auch noch aus berufenem Munde sein Urteil hören. Und was für eins! Linde hatte das Gefühl, daß die volle Wahrheit diesen durchaus anständigen gutherzigen Menschen zerschmettern müsse. Umging er sie aber, so war ihm nicht zu helfen.

Da klang die traurige Stimme an sein Ohr: »Herr Professor, is meine Frau noch zu retten?« Die blauen Augen hingen an den Lippen des Arztes.

»Mein lieber Gilbhard,« sagte Linde, »das kann ich Ihnen vor der Untersuchung nicht sagen. Aber ich verspreche Ihnen, was geschehen kann, soll geschehen, um Ihnen Ihre Frau zu erhalten. Zunächst möchte ich einiges von Ihnen hören, vor allem, wie Sie heute zur Frage des Alkoholgenusses stehen. Wie war's im Kriege damit und wie ist's jetzt?«

August Gilbhard wurde rot.

»Herr Professor, es is nie wieder soweit mit mich gekommen, wie damals, als Hotorp mir ins Wirtshaus schleppte! Ich bin niemals wieder betrunken gewesen, und die Frauenzimmer hab ich keinen Blick gegönnt. In die Etappe will das was heißen, Herr Professor!« Er holte tief Atem. »Aber was ganz abstinent is, bin ich nich, das is ins Feld zu schwer durchzuführen! Allein die Hänseleien von die Kameraden! Das ewige Kaffeegesöff wird einem auch über. Man braucht draußen öfter 'n herzhaften Schluck, als zu Hause.«

Linde hatte ihn ruhig angehört. »Und jetzt?« fragte er.

»Jetzt?« Gilbhard sah zur Erde. »Herr Professor, jetzt is die Sache auch wieder schwierig, wir Maurer trinken alle unser Glas Bier. Nich gleich über'n Durscht, Gott bewahre! Wir haben Leute, die noch keinen Rausch gehabt haben. Aber der Maurer arbeitet noch mal so gut mit Bier! Da is nich dran zu rütteln. Und man wird auch anders angesehen bei die Kameraden. Herr Professor, das bißchen Bier kann doch nich schaden!«

Linde lehnte sich im Stuhl zurück und sah den anderen fest an: »Wollen Sie gesund werden oder wollen Sie elendiglich zugrunde gehen?«

August Gilbhard fuhr zusammen. »Aber natürlich möcht' ich gesund werden, Herr Professor!«

»Dann hören Sie mich an. Die erste Bedingung ist vollständige Enthaltsamkeit. Alkohol darf für Sie in keiner Form mehr vorhanden sein. Meiden Sie ihn nicht, so sind Sie rettungslos verloren!«

Der Mann erwiderte nichts. Er dachte an die Kameraden. Das Wirtshaus wollte er gerne meiden, aber ohne einen Tropfen Bier auf Arbeit gehen? Man machte sich ja lächerlich.

Der Arzt las ihm die Enttäuschung vom Gesicht ab.

»Ich gebe zu, es ist schwer für Sie,« sagte er. »Aber wir dürfen nicht vergessen, es handelt sich um Leben und Gesundheit. Wir haben darum nach dem Wert des Alkohols zu fragen, ob er ein Giftstoff oder ein Nährstoff ist. Beides zugleich kann er nicht sein. Unanfechtbare wissenschaftliche Versuche haben aber bewiesen, daß er ein regelrechter Giftstoff ist, denn er zerstört unter anderm die Keimzellen. Einem gesunden Menschen verabfolgt man kein Gift als Nahrungsmittel, geschweige einem Kranken. Der geringste Alkoholgenuß würde Ihr Leiden verschlimmern und eine Heilung ausschließen. Dem Gesunden wie dem Kranken kürzt regelmäßiger Alkoholgenuß das Leben. Einzelne Ausnahmen bestätigen nur die allgemeine Regel.«

Gilbhard war sprachlos. Hätte er das geahnt! Davon hatte er ja nie etwas gehört! Aus einem christlichen Elternhaus kommend, hielt er den Rausch für unanständig. Daß mäßiger Alkoholgenuß gefährlich sei, hatte er nicht gewußt. Im ganzen Kriege, also vier Jahre lang, hatte er täglich, wenn auch nur in geringen Mengen, das Gift genossen und sich derart daran gewöhnt, daß er nicht wußte, wie er davon lassen sollte.

»Herr Professor, wenn ich mir das man abgewöhnen kann,« meinte er kleinlaut.

»Aber Gilbhard, Sie werden doch wissen, was Sie wollen! Bedenken Sie, was für Sie und Ihre Frau auf dem Spiel steht! Es ist unter allen Umstanden nötig, daß Sie völlig enthaltsam leben, sonst stehe ich für nichts ein!«

Gilbhard nickte versonnen.

»Im übrigen möchte ich Ihnen raten, einen Spezialisten aufzusuchen. Bei Doktor Bechtold in der Gustavstraße sind Sie in vorzüglichen Händen.«

Der Maurer war wie vor den Kopf geschlagen. Vor allem schien er wenig Vertrauen in die eigene Willenskraft zu setzen.

»Vielleicht lesen Sie etwas über die Alkoholfrage,« sagte der Professor freundlich. »Es ist immer gut, wenn man über solch wichtige Dinge genau unterrichtet ist. Ich habe verschiedene kleine Schriften, die ich Ihnen geben kann.«

Er erhob sich und trat an den Bücherschrank. »Hier! Besonders empfehle ich Ihnen diese beiden Hefte: ›Die Gefahren des Alkohols‹ und ›Deutschland und der Alkohol‹. Dann vor allem die Blätter des ›Blauen Kreuzes‹. Das ›Weiße Kreuz‹ wird Ihnen bekannt sein.«

Gilbhard schüttelte den Kopf.

»Es führt den Kampf gegen die Unsittlichkeit und arbeitet daher naturgemäß mit dem ›Blauen Kreuz‹ Hand in Hand,« erklärte Linde. »Auch den Guttemplerorden, der ähnliche Bestrebungen wie das ›Blaue Kreuz‹ vertritt, kann ich aufs wärmste empfehlen.«

Der Maurer sah in die Blätter. Die Überschriften fesselten ihn.

»Verzeihung, Herr Professor, sind Sie auch Mitglied von die Vereine?«

»Ja.«

»Dann trinken Sie niemals Wein?«

»Nein. Höchstens wenn mir ein guter Freund mal ein Glas alkoholfreien vorsetzt.«

»Auch kein Bier?«

»Nein.«

Mit stiller Ehrfurcht blickte Gilbhard in die klaren Züge.

»Sie müssen sich die Enthaltsamkeit nicht schwerer vorstellen, als sie ist,« sagte Linde, »wenn man etwas für recht erkannt hat, handelt man ganz von selbst danach, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Professor. Aber Sie haben's doch nich nötig, einem Enthaltsamkeitsverein beizutreten!«

»Da ich weiß, daß Alkohol ein Giftstoff ist, habe ich ihn um meiner selbst und um meiner Kinder willen zu vermeiden,« entgegnete Linde. »Gott hat uns nicht einen gesunden Leib geschenkt, damit wir ihn verschandeln, sondern ihn in Ehren halten. Das sind wir nicht nur uns selbst, sondern auch vor allem den Kommenden schuldig – mit einem Wort: dem Vaterlande!«

Gilbhard senkte beschämt den Blick.

»Sie sehen,« fuhr der Arzt fort, »daß die Alkoholfrage durchaus keine rein persönliche ist. Sie geht das ganze Volk an und soll vom ganzen Volke beantwortet werden. Denn unserer Rasse Fortbestehen hängt von der Stellungnahme zu der Alkoholfrage ab. Wer das übertrieben nennt, kennt die Wahrheit über den Alkohol nicht oder will sie nicht kennen. Sie sehen also, ich bin durchaus nicht nur aus Liebhaberei oder Gesundheitsrücksichten abstinent, wenn letztere auch mitsprechen, sondern ich erfülle in erster Linie meinem Volke gegenüber eine äußerst ernste Pflicht. Wir sollen unsres Bruders Hüter sein, darum dürfen wir nicht die Ohren gegen eine Not verschließen, die uns früher verborgen war. ›Neues Wissen verlangt stets neues Gewissen‹ – dieses Wort eines Alkoholgegners trifft den Nagel auf den Kopf. Und eins noch. Es gibt überall Schwache, denen wir den Rücken stärken sollen. Wie leicht ist's gerade auf diesem Gebiet, durch gutes Beispiel zu helfen. Genau genommen habe ich ja selber den größten Vorteil davon.«

Gilbhard sah ihn fragend an.

»Ja, gewiß,« rief der Professor; »wenn mich jemand zum Trinken auffordert, stelle ich mich einfach als Mitglied des ›Blauen Kreuzes‹ vor. Damit ist die Sache erledigt, und ich bleibe ungeschoren. Ich habe niemals Unannehmlichkeiten dadurch gehabt. Bei den Kaisers-Geburtstagsessen habe ich immer mit irgendeinem Säuerling angestoßen, und niemand hat sich darüber angehalten. Ich hätt's auch keinem geraten. Das ist doch auch ganz selbstverständlich,« setzte er hinzu, als er die blauen Augen noch immer staunend und bewundernd auf sich gerichtet sah. »Kein anständiger Mensch versucht, einen anderen wortbrüchig zu machen!«

Heimlich beobachtete er den Maurer.

Gilbhard blickte nachdenklich vor sich nieder.

»Herr Professor,« begann er endlich stockend, »wär das vielleicht was für mich? Ich mein 's ›Blaue Kreuz‹! Herr Professor glaubt doch auch, daß – daß es leichter is, nichts zu trinken, wenn man in'n Verband is, nich wahr?«

»Ja, natürlich ist es leichter. Sie haben gewiß gedacht, die Mitglieder der Abstinenzvereine wären alle früher Säufer gewesen und haben sich dadurch abschrecken lassen, hab ich recht?«

»Jawohl, Herr Professor. Die Ansicht is ziemlich verbreitet. Und ich muß ja auch sagen, angenehm wär's mich nich, wenn man mir für 'n ehemaligen Trunkenbold hielte!«

»Es wäre sehr traurig, wenn ein so weit verzweigter Verein wie das ›Blaue Kreuz‹ sich lediglich aus bankerotten Elementen zusammensetzte,« sagte Linde ernst. »Man kann dieser Auffassung nicht scharf genug entgegentreten. Gewiß sind unzählige frühere Trinker Mitglieder, die heute mit Hilfe der segensreichen Arbeit des Verbandes ein glückliches geordnetes Leben führen. Denn die Rettung dieser Leute ist ja der Zweck solcher Einrichtungen. Aber ein großer Teil besteht aus Männern und Frauen, die, wie ich vorhin schon sagte, durch ihre Mitgliedschaft der guten Sache den Rücken stärken und durch ihre Enthaltsamkeit nicht nur den eigenen Leib gesund erhalten, sondern ihrem Volke dienen wollen. Dasselbe gilt von der Arbeit der Sittlichkeitsvereine. Meine Frau und ich gehören z. B. dem ›Weißen Kreuz‹ als ›unterstützende Mitglieder‹ an.«

Er legte die Hefte zusammen. »Der Alkohol ist der furchtbarste Feind des deutschen Volkes. Darum ist es unsrer aller Pflicht, geschlossen gegen ihn vorzugehen. Falsche Scham vor Menschen muß man überwinden. Wer sich rein hält, ist der Stärkere. Mögen die andren reden, was sie wollen! – Und was ich noch sagen wollte. Der Anschluß an einen festen Verband und ein Gott und Menschen gegebenes bindendes Versprechen stählen die Widerstandskraft in Versuchungsstunden und lehren die Sünde hassen und lassen. Das haben mir schon viele gesagt, die halb verzweifelt zu mir kamen und mich als Vorsitzenden der hiesigen Ortsgruppe nach den Zielen und Bedingungen des ›Blauen Kreuzes‹ fragten.« Er blickte den anderen mit seinen großen dunklen Augen an, als wollte er sagen: ›Versuch's doch auch!‹

Die herzgewinnende Art verscheuchte die letzten Bedenken.

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Professor,« sagte Gilbhard, sich erhebend. »Ich will's mir überlegen. Und, nich wahr, Sie sagen's keinen?« Die Scham ließ ihm keine Ruhe. Er wandte sich ab.

Da legte ihm Linde die Hand auf die Schulter. »Mein lieber Gilbhard, was Sie mir eben anvertrauten, ist eine Mitteilung, über die ich nicht sprechen darf. Ich würde aber auch, abgesehen von meiner ärztlichen Schweigepflicht, das Geheimnis eines Mitmenschen bewahren. Verlassen Sie sich darauf.«

Der andere drückte seine Hand. In seinen Augen standen Tränen. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber die Bewegung übermannte ihn. Ein Dankeswort murmelnd, ging er hinaus.

Linde war ans Fenster getreten und sah dem Davonschreitenden nach. Ob der Mann wiederkommen würde? Er hatte auf diesem Gebiet viele Enttäuschungen erlebt. Aber der Fall Gilbhard schien ihm nicht aussichtslos. Eine andere Frage war die Heilung der Eheleute. Besonders für die Frau schien ihm wenig Hoffnung zu bestehen.

Er seufzte, wohin man blickte, schaute einen die deutsche Not aus dunklen Augenhöhlen an. Der Krieg hatte sie aufgewühlt, die Revolution wirbelte sie durchs Land, aber der Keim des unsagbaren völkischen Elends hatte seit Jahrzehnten in deutscher Erde gelegen. Nun schoß er ins Kraut ...

Das Herz krampfte sich einem zusammen. Machtlos stand man vor dem Jammer ohnegleichen.

Warum arbeitete man noch? Um die Zeit totzuschlagen? Um jenen grauen Novembermorgen zu vergessen, wo Bubenhände dem Vaterland das Grab gruben?

Es gab Tage, wo Siegfried Linde glaubte, an der Not der Heimat ersticken zu müssen.

Schwermütig blickte er in den winterlichen Garten hinaus. Schneeverweht lag der Platz unter der Linde, wo er an schönen Sommerabenden mit den Seinen gesessen und vom deutschen Endsieg geredet.

Dann welkten die Blätter.

Der Vorhang fiel. Das Stück war aus.

Eine größere Tragödie war nie gespielt worden – –

Deutsche Männer schieden aus dem Leben, weil sie des Vaterlandes Schmach nicht ertragen konnten.

Siegfried Linde hielt aus. Wahre Heimatliebe wurzelt in der Ewigkeit.

Aber seine Tränen versiegten.

*

Der Abendstern schaute leuchtend in den dunklen Erker. Da klang über dem Einsamen eine Mädchenstimme. Rein und unschuldig, als sänge ein Kind, zogen die schlichten Worte durch die Dämmerung:

»Was ich für meine Heimat tu',
Das darf mir nicht das Herz beschweren!
Ob's noch so wenig und gering,
Steht's nur bei Gott dem Herrn in Ehren!

Vielleicht ist es ein kleines Lied,
Ein schlichtes deutsches Wort, das bleibet,
Ein Pflänzlein, das am Gartenzaun
Die ersten jungen Spitzen treibet!

Ich möchte, wenn die Sonn' aufgeht,
Der Heimat frohe Botschaft sagen!
Ich möcht' ihr was zuliebe tun,
Bevor sie mich zu Grabe tragen!«

An die Herzenstür Siegfried Lindes pochte sein Kind, und er schloß ihm auf.


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