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Vierzehntes Kapitel.
Samariterdienst.

Der einst in jener dunklen Sturmesnacht
Zu den Aposteln in die Kammer trat,
Kam auch zu mir. Der Eisenriegel starrt'.
Die Schwelle lag verlassen, kalt und hart.
Es klopft'. Doch keiner ließ den Gast herein –
Da trat er durch verschloss'ne Türen ein.
Im Morgenglanz lag eine neue Zeit,
Tauperlen blitzten, Glanz war ihr Geschmeid,
Die Lerche stieg, den jungen Tag zu grüßen, –
Ich aber fragt' nicht nach der Sonne Licht,
Ich schaute in ein heil'ges Angesicht
Und huldigte zu meines Gottes Füßen!

 

»Nun, gnädige Frau, Sie haben meinen Besuch gewünscht?« begrüßte Professor Linde Juliane Wächter, die blaß und verweint in einem eleganten Morgenkleid auf dem Ruhebett lag. Er reichte ihr die Hand. »Ich sehe zu meinem Bedauern, daß es Ihnen nicht gut geht!« Fragend ging sein Blick über sie hin.

In ihre Wangen war unter seinen Worten dunkle Röte gestiegen. Wollte er sie nicht verstehen?

Sie bat ihn, Platz zu nehmen.

Noch waren die Folgen des gestrigen Tages nicht überwunden, aber die Angst hatte sie trotz ihres Zustandes zum Handeln getrieben. Eine innere Stimme sagte ihr: ›Der Schwergekränkte kehrt nur zurück, wenn einer ihn ruft!‹ Ja, sie wußte es, nicht nur ihre heiligsten Rechte hatte sie preisgegeben, sondern mit dem Herzen des Sohnes gespielt. Als ihre Augen über den leeren Platz irrten, wo er auf ihre Mutterliebe gewartet, war's über sie gekommen mit entsetzlicher Klarheit: ihr eigen Fleisch und Blut hatte sie verleugnet.

Furchtbare Stunden lagen hinter ihr. Nie hatte das Gewissen sie so gemartert. Vergangenheit und Gegenwart standen auf und wiesen drohend auf die Schatten der Zukunft. Düstere Wahngebilde erregten die Phantasie: Tiefsinn, Selbstmord des Sohnes. Alles hätte sie darum gegeben, ihre Schuld ungeschehen machen zu können. Der Gedanke an ein Unglück beraubte sie fast der Sinne. Sie verfluchte den Alkohol und griff fünf Minuten später zur Flasche. In einem Atem verurteilte sie ihr Tun und sprach sich frei. Aber das Gewissen behielt die Oberhand. Die Mutterliebe siegte. Unbarmherzig ging sie mit sich ins Gericht. –

Die Erinnerung nahm die Frau bei der Hand und führte sie durch die blühenden Gärten des Weibes.

»Weißt du's noch,« flüsterte sie, »wie zum erstenmal Mutterhoffnung durch deine Seele zog? Du faßtest nicht ihre Wonnen und rüstetest heimlich die Wiege! Alle Berge blühten, der Mai zog durchs Land – du aber saßest mit glücklichen Augen daheim und träumtest vom Erntesegen des hohen Sommers – – –

Die Zeit ging, wie goldgelbe Seide rauschte das Korn. Unter deinem stillen Fenster klangen Rosenlieder, während du drinnen mit dem Tode rangst. Da tat dein Kind den ersten Schrei, und in seliger Müdigkeit schlossest du die Augen – – –

Denkst du noch der Stunden erfüllter Sehnsucht? In dem stillen verschleierten Gemach sah ich dich sitzen, dein Büblein an der Brust. Wo ist der Meister, der des Weibesglücks tiefste Schönheit dem Leben ablauscht? Nur Mutterliebe kennt die Fülle glühender Innerlichkeit, die Zartheit der Farben – – –«

Die Stimme brach ab. Ein Seufzer verwehte. Durch den dunklen Raum geisterte es: ›Hast du's vergessen?‹

Da hatte sie's verzweifelt in die todstille Mitternacht hinausgeschrien: »Nein, nein, bei allem, was mir heilig ist, ich hab's nicht vergessen! Der da ist schuld!« Im Halbschlaf wies sie ins Leere. Glühte nicht dort im schlanken Kelch ein dämonisch schöner Trunk? Der Tröster, der Sorgenbrecher – der verfluchte! Schein und Trug barg der Alkohol – Gift! Warum verordneten die Ärzte ihren Kranken Wein? Weil sie ihn selber liebten? Weil er Schmerzen verscheuchte, die kein Mittel bannte? Und der verwirrte ruhelose Geist warf Sein und Schein, Recht und Unrecht, Pflichterfüllung und Leichtfertigkeit durcheinander.

Aber das Gewissen ließ sich nicht narren. Es nahm ihr das Wort vom Munde und gab's ihr zurück.

»Bei allem, was dir heilig ist?« höhnte es. »Was ist dir heilig? Nichts! Des höchsten Dienstes hast du dich geweigert, die Stätte, da sich das Leben am reinsten und feinsten gestaltet, ließest du verwahrlosen! Wann hast du der Mutterschaft Würde, wann die Werte der gottgewollten Eigenschöpfung des Hauses, des Heims im tiefsten Sinne erkannt? den Adel der Arbeit, ob des Kopfes oder der schwieligen Hand, gesegnet, so sie für Gott und in Gott getan? Hast du je des Herrenwortes gedacht: ›Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden!‹? Überall, wo ein Weib die Schwelle der Heimat hütet, soll die wärmende belebende Glut leuchten und locken. Warum erlosch dein Feuer?«

Dann war's still. Sprühte im Kamin der letzte Funke oder blitzte der Wein im Kristall? Wohin sie schaute, sah sie den Giftkelch schimmern.

Sie kehrte sich zur Wand, um den Bildern der Nacht zu entrinnen. O, sie wußt' es wohl, warum das Herdfeuer erlosch. Den Höllentrunk hatte sie hineingeschüttet. Da starb die Flamme. Dunkel ward das Haus. Durch die Kammern wehte schweifender Nebel, über die Wiege des Kindes strich er und legte sich erkältend auf Weibessehnsucht und Mutterglück.

Ein halbvergessenes Wort zog ihr durch den Sinn: ›Manneskraft erträgt eine Zeitlang Zweifel und Gottesferne. Die Frau, die ihren Herrn verwarf, geht mit dem Allerheiligsten des Glaubens ihrer gottgewollten Eigenart verlustig. Das Feuer ihres Herzens erlischt, die Liebe erkaltet, die Sonne geht unter.‹ Da wandte sie sich aufschluchzend von der Trümmerstätte ab. Eine große, große Sehnsucht hob die gebrochenen Schwingen.

Aber des Gewissens ewige Lampe brannte über unvergebener Sünde, und eine Stimme raunte: »Laß dir nicht die Sinne blenden! Siehst du die Schlange nicht, die sich um den Giftkelch windet? Hörst du nicht ihr versucherisches: ›Sollte Gott gesagt haben?‹ Der Trunk ist eine Schuld. Oder zählst du dich zu den Unseligen, deren entnervter Wille keine Selbstzucht kennt, deren schwankende Sinne nie ihren Meister fanden? In dem Augenblick, wo du dich krank sprichst, bekennst du dich unfrei und klagst dich einer Schwäche an, unwürdig deiner Frauenehre. Denn du verschriebst dich nicht ungewarnt dem Alkohol. Der dir den Schleier des dunklen Geheimnisses lüftete, war der Edelsten einer unter den Hütern der Gesundheit des Weibes. Bis zur Stunde widerstrebst du ihm. Der aber deinem Herzen am nächsten stand, forderte in der Todesstunde deinen heiligen Eid, das Gift zu meiden. Du brachst den Schwur. Wer soll dich denn zwingen, wenn nicht du selbst? Vergiß es nicht: der menschliche Wille ist frei. Nur wer eigenmächtig das gottgeschenkte Eigengut veräußert, erniedrigt sich zur Kreatur. Du bist auf dem Wege dazu. Schon beginnt die Zersetzung – um deine Sinne buhlt der Weingeist. Deinem heiligsten Besitz droht Vernichtung. Was bleibt dir, wenn dein Geist der Lüge verfällt, wenn Weibesreinheit und Frauenwürde in den Staub getreten werden? Schon streift dein Schleier den Boden – hüte dich!« – – –

Der Morgen kam.

Mit zerrissener Seele fand sie der Arzt, der wie wenige das Wesen der Frau kannte. Ein Blick in die zerstörten Züge, ein paar tastende Fragen, und er wußte genug. Nicht nur die grause Not hatte die Unglückliche zerbrochen – der einst durch verschlossene Türen zu seinen Jüngern kam, war in die verödete Kammer getreten und hatte in einsamer Mitternacht das Gold von den Schlacken gereinigt. Nun graute der Morgen. Da winkte der Meister dem Handlanger. – – –

*

Es war keine leichte Stunde für die beiden Menschen. Die an den Mann gestellte Forderung war Samariterdienst im tiefsten, schwersten Sinne; die Frau, die um Sein oder Nichtsein ihres Allerheiligsten rang, brauchte ihre ganze Kraft zu rückhaltloser Beichte.

Aber von Siegfried Linde hatte einmal ein Freund gesagt, er habe etwas Seelsorgerliches an sich. So nur war's zu erklären, daß die gemarterte Seele, die niemand ihre Not schauen ließ, sich dem Arzt offenbarte. Nicht mit dem ruhigen klaren Vertrauen, wie gestern der Sohn. Zuviel Undank und Unaufrichtigkeit hatten ihr den Weg zu dem Manne versperrt, der ihr in selbstlosester Weise auf ihrem Witwenwege beistand. Juliane Wächters stolzer Natur ward die tiefe Demütigung doppelt schwer. Vielleicht war's die erste in ihrem Leben. Doch die Mutterliebe gebot, und das Gewissen sprach ihre Forderung heilig. Als sie dann hörte, daß er's gewesen, der dem Sohn am Scheidewege mit Rat und Tat geholfen, löste sich der Bann. Unter heißen Tränen bat sie ihn um Verzeihung.

In tiefer Bewegung hörte er sie an.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, liebe gnädige Frau,« sagte er in seiner schlichten herzlichen Art; »es hat mich nur geschmerzt, Ihre Not mitansehen zu müssen, ohne Ihnen helfen zu können!«

»Weil ich nicht wollte«, klagte sie. »Wie oft haben Sie versucht, mich von dem unseligen Laster zu befreien. Aber es widerstrebte mir, Sie in mein Seelenleben blicken zu lassen, weil ich fühlte, daß Sie um meine Schuld wußten. Eine innere Stimme sagte mir, mein verstorbener Mann habe Sie nicht nur um die Übernahme der Vormundschaft gebeten, sondern Ihnen auch seine Sorge um mich ans Herz gelegt. Hab ich recht?«

Er hielt ihre heiße zuckende Hand in seiner kühlen ruhigen. »Ja,« sagte er ernst.

»Daß Sie Mitwisser meiner Schuld waren, reizte mich aufs äußerste,« fuhr sie fort. »Mein Mann hat mir später auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, keinen Alkohol mehr anzurühren,« ihre Stimme bebte, »im Zorn hierüber habe ich mein Wort gebrochen!«

Sie hielt inne, von ihren Gefühlen überwältigt.

»Ich hab's nicht fassen und glauben wollen, daß der Alkohol den ganzen Menschen in Fesseln schlägt, Herr Professor! Das ist mein Unglück gewesen! Was ich verloren habe, kann ich Ihnen nicht sagen – mein Herz ist eine Wüste, für manches, was zur tiefsten Eigenart des Weibes gehört, habe ich kein Empfinden mehr. Es ist schrecklich – aber vieles, dessen ich mich sonst schämte, läßt mich heute völlig kalt.« Wieder stieg eine dunkle Blutwelle in ihr Gesicht – sie wandte sich ab.

Erschüttert blickte er sie an. Er fühlte, das schwerste kam noch.

»Heute nacht fiel mir ein Wort ein,« fuhr sie mit matter Stimme fort. »Ich hatte es einmal irgendwo gelesen. Nun ward's lebendig: ›Manneskraft,‹ sagt es, ›könne eine Zeitlang Zweifel und Gottesferne ertragen, aber die Frauenseele, die ihren Herrn verwerfe, gehe mit dem Allerheiligsten ihres Glaubens ihrer gottgewollten Eigenart verlustig!‹« Sie richtete sich kerzengerade auf. »Das trifft auf mich zu! Wie Schuppen fiel mir's von den Augen! – Ich bin nie sehr religiös gewesen, die strenge Rechtgläubigkeit meines Elternhauses stieß mich ab. Aber ich schüttete das Kind mit dem Bade aus – sonst hätte die schlichte Frömmigkeit meines Mannes mir zum Segen werden müssen! Glauben Sie nicht, ich sei angesichts der Trümmerstätte in meinem Herzen plötzlich eine andere geworden – nein! Aber ich habe in der schwersten Nacht meines Lebens, als alles in mir in Stücke brach, erfahren, daß ich einen brauche, der stärker ist, als mein armseliger gebrochener Wille, stärker als die besten größten Menschen, einen, den ich auf den Knien anbete!« Sie schlug die Hände in heißem Weinen vors Gesicht. »Warum hat's mir keiner gesagt, daß ich ihn haben muß, daß ich im Tod und Leben nicht ohne ihn fertig werde? Auch mein Mann warnte mich nicht. So nicht. Mit besonderer Betonung der unbedingten Notwendigkeit übernatürlicher Kampfeskräfte nicht. Nun ja, er war eine feine weiche Natur! Ein Mensch, der sich in Gottes Willen fügte, ehe er ihn kannte. Ich hab' ihm das Leben oft schwer gemacht. Immer und in allen Dingen setzte ich meinen Kopf durch. Es mochte sein, was es wollte. Da gab er schließlich nach. Hätte er mich nur in der Alkoholfrage grundsätzlicher aufgeklärt! Als er mir schwerleidend sagte: ›Aus eigener Kraft kommst du nicht davon los,‹ da glaubte ich an eine Sinnestäuschung, eine Verwechslung. Niemand sagte mir, daß es ums Ganze gehe – um Leib und Seele! Alle machten mich auf die schweren gesundheitlichen Folgen des Alkoholgenusses aufmerksam, auf Vererbung und Volksvergiftung, aber keiner, keiner sprach von der schwersten Gefahr, die gerade uns Frauen droht, von der Verheerung des Charakters, von der grenzenlosen Eitelkeit, von – von –« sie rang um das Wort, blaß bis in die Lippen – »von der – schamlosen – Verlogenheit!« Erschöpft sank sie in die Kissen zurück. »Jetzt ist's zu spät!«

Linde hatte sie ruhig angehört. »Ich habe auf diesen Vorwurf gewartet, gnädige Frau,« sagte er. »Denn nächst Ihrem verstorbenen Mann trifft er mich. Sie wissen, wie ich zum Christentum stehe, daß ich die Religion nicht nur als Weltanschauung für mich in Anspruch nehme, sondern den Offenbarungsgedanken als unveräußerlichen Besitz erfasse, als die unerschütterliche Tatsache ewiger Heilsgewißheit. Das Wort: ›Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!‹ ist der Fels, auf den ich mich in Zeit und Ewigkeit gründe. Damit stehe und falle ich. Mehr brauche ich nicht. – Ich hätte Ihnen den Rat geben können, die Kraft für den Kampf des Lebens da zu suchen, wo ich sie suche und finde. Aber das hätte gerade Ihnen nichts genützt, da Ihrer ganzen Persönlichkeit das Entlehnte nicht entsprochen hätte. Mein Rat hätte aller Wahrscheinlichkeit nach nur Ihren Widerspruch gereizt. Ehe nicht Ihr religiöses Kartenhaus zusammenstürzte und Ihr eigenes Können versagte, ehe Sie sich vor allem nicht selbst bankerott erklärten, war keine Aussicht, daß Sie frei wurden. So sagte ich mir. Ich habe recht behalten.«

Juliane Wächter senkte den Blick. »Es ist zu spät für mich,« sagte sie traurig. »Wer es fertig bringt, sein eigenes Kind zu verleugnen – – –«

In seine Augen trat ein warmer Glanz. »Wer es fertig bringt, nicht nur vor Gott, sondern, was tausendmal schwerer ist, vor Menschen seine Schuld zu bekennen, der ist auf dem besten Wege dazu, seinen Meister zu finden!« Er sah vor sich nieder. »Gnädige Frau, ich gehöre zu den Menschen, die nicht viel über das Allerheiligste der Seele reden können. Worte machen's auch nicht. Nur eins möchte ich Ihnen noch sagen, nicht nur als Arzt, sondern als Mensch und überzeugter Christ, daß Sie gesund werden können an Leib und Seele, ganz gesund!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin zu tief verstrickt. Bedenken Sie doch, Herr Professor: der Trunk mit all seinen unseligen Folgen, mein gebrochenes Wort, das schlechte Beispiel, das ich meinen Kindern gab, und jetzt Hermann – – –« ihre Stimme brach, »er wird mir nie verzeihen!«

»Er hat Ihnen verziehen und wartet nur, bis Sie ihn rufen!«

»Herr Professor, ich habe mein eigen Fleisch und Blut aus Eitelkeit und falscher Scham verleugnet,« sagte sie gequält. »Das vergißt ein Kind nicht.«

»Aber das vergibt ein Kind. Und wenn es, wie Ihr Sohn, nicht nur leid- und welterfahren, sondern auch als Kenner und Gegner des Alkohols heimkehrt, so sieht es nicht nur verzeihend, sondern auch verstehend und darum vergessend auf die Fehler der Eltern. Denn es kennt ihre Entstehungsursachen. Hermann wird Vergeben und Vergessen um so leichter werden, weil er die zweifellose Folge des Alkoholgenusses in Ihrer gestrigen Handlungsweise erblicken wird. Er wird Schuld und Krankheit trennen.«

»Aber, Herr Professor, ich bin doch nicht krank! Sie selbst nannten in meinem Falle den Trunk eine Schuld.«

»Ich habe nie geleugnet, daß Sie krank sind, gnädige Frau! Daß Sie es wurden, ist allerdings die Folge einer Jahre zurückliegenden Schuld. Dagegen ist Ihre Handlungsweise lediglich die Frucht der Alkoholvergiftung. Bitte, trennen Sie diese beiden Punkte so scharf wie möglich. Es ist dringend nötig um der inneren Klarheit willen. Sie sind schuldig an der Entstehung Ihrer Krankheit, denn Sie wurden gewarnt. Andererseits war Ihnen die ganze Tragweite der Gefahr wohl kaum bekannt. Sie werden sich erinnern, daß ich Sie vor Jahren auf die Folgen des Alkoholgenusses aufmerksam machte. Ich stand damals nicht unter dem Eindruck, daß Sie von einer unmittelbaren Gefahr bedroht waren, hielt es aber für meine Pflicht, Sie aufzuklären, wie ich jeden aufkläre, der Wein oder Bier trinkt. Hätte ich weiter gesehen, so hätte ich viel ernster und eindringlicher mit Ihnen gesprochen. Als wir diesen Winter auf die Frage zurückkamen, fühlte ich, daß Sie mir ablehnend gegenüberstanden. Trotzdem erörterte ich die Sache eingehender. Die persönliche, tiefinnere Seite zu berühren, verbot mir damals nicht nur der Takt, sondern das Bewußtsein mangelnden Vertrauens Ihrerseits. Auch erkannte ich, daß der Zeitpunkt gekommen war, wo menschliche Hilfe allein versagte. Darum wartete ich. – Aus diesem allen ersehen Sie, gnädige Frau, warum ich für die gestrigen Vorgänge eine Entschuldigung habe. Lassen Sie uns ganz offen miteinander reden als Menschen, die sich ihrer Sündhaftigkeit bewußt sind. Das erleichtert uns die Auseinandersetzung. Bitte, denken Sie nur nicht, daß ich mich für besser halte, als Sie! Gott hat mich bewahrt, das ist alles. Eins soll dem anderen seine Last tragen helfen. Als Gottes Handlanger. Die Hauptsache tut er selbst. Bei Ihnen, liebe gnädige Frau, hat er sie in dieser Nacht getan. Und nun schickt er mich, daß ich Ihnen weiter helfe. Darum bitte ich Sie herzlich, nehmen Sie meinen geringen Dienst an. So darf's nicht weitergehen. Sie müssen wieder Freudigkeit zum Leben gewinnen, zu Ihrer Arbeit, Ihrem schönen gesegneten Beruf als Mutter. Und Sie werden es mit Gottes Hilfe. Ich sagte es schon: ganz gesund sollen Sie werden an Leib und Seele. Dazu aber gehört zuerst völlige Abstinenz, und zwar sofort. Am besten gehen Sie gleich in eine Kuranstalt. Ich kann Ihnen eine ganz vorzügliche empfehlen. Ein mir befreundeter hervorragender Arzt leitet sie. Ein Prachtmensch, der ganz in seinem Beruf aufgeht. Auch die Frau ist sehr anziehend und kümmert sich viel um die Kranken, obgleich sie einen Haufen Kinder hat.«

Er hielt inne. Forschend ruhte sein Blick auf ihr.

Sie lag still da. Eine Träne nach der anderen rann über das abgespannte Gesicht.

»Herr Professor,« sagte sie traurig, »ich weiß, wie treu Sie's meinen und kann Ihnen nicht genug für Ihre Güte danken. Aber ich fühle, es ist etwas in mir zerbrochen. Das heilt nicht wieder.«

Er lächelte. »Trauern wir nicht oft im Leben Scherben nach, und wenn wir das Unglück näher beschauen, ist der scheinbare Verlust Gewinn? Es gereicht unsrem inneren Menschen nicht zum Schaden, wenn wir einsehen, daß wir wieder von vorne anfangen müssen.«

Sie schluchzte auf. »Das ist's ja nicht! Gerne fing ich von vorne an. Aber ich kann es nicht glauben, daß Hermann mir vergibt, nicht nur das von gestern – ich hab' ja sein ganzes Lebensglück auf dem Gewissen! Erst paßte meiner mütterlichen Eitelkeit die unbemittelte Braut nicht – dies reizende Mädchen, das wie geschaffen war, den Jungen glücklich zu machen – und jetzt – jetzt schämte ich mich heimlich meiner alten Schuld und –« wieder wurde sie blutrot. Vergeblich suchte sie nach dem rechten Wort. Endlich kam's stockend mit Dransetzung aller Kraft: »Der Gedanke, daß Hermann, der Not gehorchend, einen Beruf unter seinem Stande ergriffen haben könnte, war mir zu schrecklich! Ich hätt's nicht ertragen, ihn als einfachen Landmann oder Gärtner wiederzusehen.«

»Warum nicht?« Linde sah sie fest an.

Sie wich seinem Blick aus. »Herr Professor, das ist doch verständlich.«

Er schüttelte den Kopf. »Mir nicht, gnädige Frau! Aus dem einfachen Grunde, weil es keine Arbeit gibt, die mich erniedrigt. Im Gegenteil: jede ehrliche Arbeit adelt den Menschen. Die äußere Stellung macht nicht den Edelmann, sondern – um mit der Bibel zu reden – die Haushaltertreue, der Geist, mit dem die Arbeit getan wird. Ob ich Mist fahre oder einen gelehrten Vortrag halte, ob eine Frau die Treppen scheuert oder die Pflichten einer Schloßherrin erfüllt, ist gänzlich gleichgültig, es kommt nur darauf an, wie wir unsre gottgewollte Arbeit vollbringen.«

Sie seufzte. Nachdenklich sah sie vor sich nieder. Es lag eine tiefe Wahrheit in den Worten, wie in allem, was er sagte und tat. Aber die alten Auffassungen waren ihr zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, um sie kurzerhand abzustreifen.

Er merkte, was in ihr vorging.

»Zum vornehmen Menschen gehört in erster Linie die Vornehmheit der Seele,« sagte er freundlich. »Wie oft begegnet uns in den schlichtesten Gestalten unsres Volkes der Edelmann. Besonders das Land bringt solche Typen hervor, Menschen, die im schönsten Sinne Kinder der Heimat sind, denn sie hüten das Vätererbe. Es liegt ein unendlicher Segen in der Berührung mit der Erde, weil sie uns der Natur nahebringt. Und die ist rein. Gerade in unsrer Zeit, wo der Dunst der Städte unsre Jugend vergiftet, kann die Landarbeit nicht hoch genug gewertet werden. Ich selber erwäge für meine Kinder die Frage, und zu meiner Freude fühlt sich keines abgestoßen. Der Gedanke scheint übrigens schon in weiteren Kreisen Wurzel zu fassen. Ich habe verschiedene Herren gesprochen, Professoren und Juristen, die sich nicht entschließen können, ihre Söhne unter den heutigen Verhältnissen studieren zu lassen. Jedenfalls wäre es ein Glück in all dem Unglück, wenn das deutsche Volk es wieder lernte, die Scholle heilig zu halten.«

Er schwieg, und während sein Blick durch die offenstehende Balkontür über die Blütenpracht der Gärten schweifte, zog's ihm durch den Sinn: ›Könnte ich die Herrlichkeit draußen in die kranke verkümmerte Seele tragen!‹ Aber sie brauchte mehr. Ob er das abgebrochene Gespräch wieder aufnahm? Der Gegenstand war zu zart, die Fäden so fein gesponnen – viel zu fein für den erdwärts gerichteten Menschengeist! Trotzdem – hatte er nicht eben erst vom Adel der Arbeit gesprochen? Trug eine das Diadem, so war's die Arbeit an der lebendigen, erlösten Seele! Sollte er sich des heiligsten Dienstes weigern?

Da kam sie ihm zuvor.

»Herr Professor,« begann sie leise, »Hermann verzeiht mir nicht. Ich kann es nicht glauben. Es steht zuviel zwischen uns. Wenn mir aber der eigene Sohn nicht vergibt, wie kann mir dann Gott vergeben?« Stöhnend barg sie das Gesicht in den Händen.

Er aber fühlte: hier war das Wort zu arm.

Leise erhob er sich und schritt über den weichen Perser zur Tür des Nebenzimmers. Sie war angelehnt.

Hinter dem Vorhang wartete einer.

An dem Kommenden vorüber eilte er auf die Weinende zu: »Mutter, liebe Mutter!«

Sie konnt's nicht fassen, daß er vor ihr stand.

Aber die Freude wollte nicht aufkommen. Bei seinem Anblick wuchs die Schuld ins Riesenhafte. Es war ja nicht möglich, daß er ihr vergab! Linde war zu sehr Idealist, er nahm immer das beste an.

Sie warf einen scheuen Blick in das gebräunte Gesicht. Das waren die Züge, die sie so heiß geliebt mit all ihrer sonnigen Freundlichkeit und Herzensgüte. Nur den festen männlichen Ausdruck hatte sie früher nicht gekannt. Und dieses Sohnes hatte sie sich geschämt!

Sie war am Ende ihrer Kraft, wie mußte er sie verachten! Aber er saß neben ihr auf dem Ruhebett und streichelte ihr tränenfeuchtes Gesicht. So hatte einst der kleine Bub die Mutter gestreichelt, wenn er morgens zu ihr ins Bett kam. Es war lange her, aber sie sah ihren kleinen blondlockigen Hermann im weißen Nachtröckchen neben sich sitzen, als sei's gestern gewesen. Sein schmeichelndes Stimmchen klang an ihr Ohr, sein Kinderliedchen, in feinen hohen Tönen gesungen. Das war in den ersten Jahren ihres jungen Glücks gewesen! Und heute?

Er schien ihre Gedanken zu erraten.

»Mutter,« sagte er, »weißt du noch, wie ich dir als kleiner Junge guten Morgen sagte? Es war der schönste Augenblick des Tages für mich! Laß uns vergessen, was dazwischen liegt und denken, es sei heute gewesen!«

Ihre Lippen zuckten. Sprechen konnte sie nicht. Unverwandt sahen die großen Augen ihn an.

Und der Mann streichelte die Mutter, wie einst das Kind im blonden Ringelhaar.

»Du bist krank gewesen,« sprach er ihr wie einem müden Kinde zu. »Aber wir wollen dich pflegen, daß du bald gesund wirst! Nur quäl' dich nicht mit trüben Gedanken. Ich bin so froh, daß ich wieder bei euch bin; alles andere steht in Gottes Hand!«

Sie atmete schwer. Der innere Kampf war zu hart.

»Hermann, mein Junge!« sagte sie leise.

Die blauen Augen strahlten sie an. »Mutter,« sagte er weich, »ich wußte, daß du mich wieder so nennen würdest! Gestern erkanntest du mich nicht, weil du zu erregt warst und mein Kommen dich erschreckte!« Heiße Sohnesliebe sprach aus seinem Blick. »Sag' noch einmal ›Hermann, mein Junge‹!«

Da zerbrach der letzte eiserne Reifen, der um ihr Herz gelegen, und der Zweifel zerrann, wie Morgennebel in der Sonne. Die Tränen stürzten ihr über die Wangen.

»Hermann, mein lieber, lieber Junge – kannst du mir wirklich verzeihen?«

Er küßte sie. »Laß das,« bat er. »Wir alle haben unsre Schuld vor Gott zu bringen!«

Aber sie konnt's nicht glauben. »Hermann, du ahnst nicht, warum ich dich verleugnet habe – wenn du wüßtest – – –«

Da nahm er ihre beiden Hände in seine. »Ich weiß alles,« sagte er ernst, »denn ich war heimlicher Zeuge deines Gesprächs mit Professor Linde. Er brachte mich mit und ließ mich nebenan warten. Da er die Tür nur angelehnt hatte, hörte ich alles mit an. Zuerst schämte ich mich, Lauscher zu sein, aber – es ließ mich nicht los!«

»Und du kannst mir vergeben?« fragte sie zaghaft.

Er strich sanft über ihre zitternden Hände. »Du meinst, zum Vergeben gehöre Verstehen, Mutter! Das finde ich auch. Zum mindesten gehört Verstehen zum Vergessen. Denn vergeben sollen wir als Christen unter allen Umständen. Aber das Verständnis erleichtert es. Und darum bin ich doppelt dankbar und froh, daß ich in Amerika durch einen väterlichen Freund die Wahrheit über den Alkohol erfuhr. Denn ich war auf dem besten Wege, ein sehr trauriges Ende zu nehmen. Und nicht ohne eigene Schuld.«

Juliane schüttelte den Kopf. »Hermann, wer schickte dir wieder und immer wieder Madeira und Kognak?«

»Ich will dich nicht freisprechen, Mutter,« erwiderte er. »Aber vergiß nicht, ich war kein Kind mehr. Außerdem war ich durch einen Studiengenossen, einen treuen zuverlässigen Menschen, der die Wirkung des Alkohols am eigenen Leibe erfahren und seit mehreren Jahren abstinent war, dringend gewarnt worden. Aber ich war eben kein Mann, sondern ein Waschlappen. Darum mußte es so kommen, wie es gekommen ist. Daß ich heute an Leib und Seele gesund bin, ist ein unverdientes Gottesgeschenk – wie sollte ich einen Stein auf dich werfen?«

»Ich tat dir zu schweres Herzleid an,« seufzte sie. »Denk' an Ilse!«

In seine Augen trat ein warmer Glanz. »Gewiß, Mutter, aber wolltest du nicht mein bestes?«

Ja, das hatte sie gewollt. Aber wenn man alles am verkehrten Ende anfing?

»Zu nichts bin ich zu gebrauchen,« klagte sie.

Doch ihr großer Junge schaute sie mit seinen sonnigen Augen so fröhlich an, daß sie nicht mehr wußte, was sie denken sollte.

»Justizrat Lucius war heute morgen bei mir im ›Weißen Hirsch‹,« berichtete er ihr. »Professor Linde, der von meinen Sorgen und Zweifeln wußte, war ohne mein Wissen bei ihm gewesen, und nun suchte mich der rührende alte Herr selber auf. Wie ich so etwas von seiner Nichte denken könne! Seine Hand lege er ins Feuer, daß sie nach wie vor in Liebe und Treue meiner gedenke. Ich warf ein, daß meine Briefe sämtlich unbeantwortet geblieben seien. Er erwiderte, es sei kein einziger eingetroffen. Er könne mich aber nur immer wieder versichern, daß Ilse an mir festhalte. Das beste sei, ich frage sie selber. Er wolle mich in einer ungestörten Stunde benachrichtigen – vielleicht heute noch. Du kannst dir denken, wie froh ich bin, zumal ich seine vormundschaftlichen Sorgen zerstreuen konnte. Ich bin körperlich ganz gesund und habe eine gute Stelle in einem Leipziger Bankhause, so daß ich eine Frau ernähren kann.«

»Dein väterliches Erbe wartet auch auf dich!«

Er nickte. »Ich bin von Herzen dankbar dafür, Mutter. Aber ich kann und will meine Zukunft nicht darauf bauen. Es schmilzt sowieso durch die Vermögensabgabe zusammen, außerdem will ich arbeiten. Wenn ich Millionen hätte, ich könnte nicht die Hände in den Schoß legen. Du hast ja Lindes schönes Wort über die Arbeit gehört. Es ist mir aus der Seele gesprochen.«

Sie nickte still zu seinen Worten. »Nun ist er gegangen, ohne daß ich's bemerkt habe,« sagte sie nach kurzem Schweigen. »Und im Grunde hab ich's doch nur ihm zu verdanken, daß ich dich wiederhabe!«

Ein leises Geräusch ließ sie zur Tür blicken. Zwei junge Gesichter schauten still auf Mutter und Sohn.

Da rief Juliane Wächter ihre beiden Jüngsten herein. »Kommt, Kinder, Ihr sollt euch mit uns freuen!«

Und sie kamen mit strahlenden Augen und fragenden Herzen.

Aber es gibt Dinge, die nur zweien angehören dürfen, die ihre keusche Schönheit verlieren, wenn ein dritter sie schaut – es sei denn Gott.


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