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Achtes Kapitel.
Nebel.

Wer nicht das Stahlgewand der Wahrheit trägt,
Verscherzt das höchste Eigengut: die Seele.

 

Juliane Wächter hatte eine Untugend: sie ließ warten. Entweder zog sie sich an oder frühstückte oder sie war bei der Anprobe oder sonst in Anspruch genommen. In dem Augenblick, wo man nach ihr fragte, war sie nie zu sprechen. Menschen, die viel Zeit hatten, besahen sich ihren hübschen Empfangsraum, andere wurden ungeduldig. Ihr Schwager Konstantin ging einfach nach Hause, wenn sie ihn länger als zehn Minuten auf die Probe stellte, und Frau von Irrgang hatte die viel jüngere Schwägerin schon oft darauf aufmerksam gemacht, daß ihr Benehmen als Nachlässigkeit empfunden wurde. Auch Professor Linde hatte mehr als einmal seine kostbare Zeit umsonst geopfert und sie in nicht mißzuverstehender Weise gebeten, eine bestimmte Stunde für die Erledigung der vormundschaftlichen Angelegenheiten mit ihm zu vereinbaren. Aber die Frau war unverbesserlich.

Heute, wo er absichtlich ohne vorherige Abmachung kam, war's ihm nicht unlieb, daß er warten mußte. Denn General Wächters Prophezeiung ging in Erfüllung. Er hatte noch keine zwei Minuten in dem dämmernden Raum gesessen, als nebenan im Speisezimmer das elektrische Licht in einer rot verschleierten Lampe aufblitzte und ein leichter Schritt über den Perser huschte. Durch die halbgeöffnete Tür sah er die fünfzehnjährige Magna an den Tisch treten und die Portweinflasche ergreifen. Der Seide purpurner Widerschein umschimmerte das feine goldblonde Köpfchen, auf dem zarten Gesicht lag ein warmer Ton. Die ganze Erscheinung hatte etwas ungemein Liebliches, Kindliches, nichts von dem frühreifen sicheren Wesen moderner junger Mädchen.

Das Butterbrot war bald verzehrt, aber von der Portweinflasche konnte sie sich nicht so schnell trennen. Zwei Gläser hatte sie getrunken. Nun liebäugelte sie mit dem dritten. Sie schien jedoch kein ganz gutes Gewissen zu haben. In ihrem Kindergesicht kämpfte es. Aber die Lust siegte. Sie füllte das Glas.

Linde schwankte einen Augenblick, was er tun solle. Zwischen Mutter und Tochter wollte er nicht treten. Überraschte er aber sein Mündel in diesem Augenblick, so war Frau Wächter bloßgestellt. Andererseits konnte er unter den obwaltenden Verhältnissen schwer umhin, mit Magna selber zu sprechen.

Er überlegte noch, da öffnete sich die Tür, und Juliane trat ein.

»Im Dunklen, Herr Professor?« Sie drehte das Licht an. »Entschuldigen Sie, daß ich warten ließ! Bitte, behalten Sie Platz!« Sie war blaß und erregt und blickte nervös nach dem Speisezimmer hinüber. »Magna, mach' doch die Tür zu!« Mit einem unsicheren Blick setzte sie sich Linde gegenüber.

Der machte kurzen Prozeß.

»Gnädige Frau, ich habe soeben eine Entdeckung gemacht, die mich außerordentlich befremdet und überrascht! Sie haben mir Ihr Wort gegeben, den Kindern keinen Wein zu verabfolgen, und was muß ich sehen? Magna schenkt sich eben im Speisezimmer das dritte Glas Portwein ein! Mißverstanden konnten Sie mich nicht haben, sonst hätten Sie mir schwerlich ein bindendes Versprechen gegeben. Darf ich bitten, mir den Vorfall zu erklären?«

Sein scharfer, beinahe befehlender Ton reizte sie. Aber sie beherrschte sich.

»Da habe ich Sie allerdings mißverstanden, Herr Professor,« sagte sie scheinbar ruhig. »Ich glaubte, Ihren Worten entnehmen zu sollen, daß Sie den täglichen regelmäßigen Genuß schwerer Weine und Biere für die Kinder nicht wünschten. Das habe ich durchgeführt. Ich teile Ihre Auffassung und würde auch ohne Ihre Anordnung ebenso handeln.« Sie lächelte liebenswürdig. »Daß die Kinder auch ausnahmsweise keinen Tropfen Wein trinken sollten, wußte ich nicht.«

Er sah sie fest an. »Ich hatte völlige Abstinenz verlangt, und sie wurde mir von Ihnen zugesichert, gnädige Frau! Meine Stellung zur Alkoholfrage war Ihnen bekannt. Sie wußten ganz genau, unter welcher Bedingung ich die Vormundschaft übernahm. Von Ausnahmefällen war keine Rede zwischen uns. Wären Sie nicht auf meine Wünsche eingegangen, hätte ich mein Amt sofort niedergelegt.«

Sie sah sich in die Enge getrieben. Seine Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, war unausstehlich.

»Ich hatte verstanden, daß Ihre Anordnung sich auf Frühstück und Mittag bezöge,« erklärte sie eigensinnig. »Ist es denn wirklich nötig, den Kindern den Wein auch als Kräftigungsmittel ganz zu entziehen? Magna ist so bleichsüchtig, vielleicht darf ich bitten, das in Betracht zu ziehen! Es handelt sich doch nur um zeitweilige Ausnahmen!«

Der Arzt hatte sie im Auge behalten. Wußte sie, daß sie log oder wußte sie's nicht?

»Wir haben seinerzeit zwei Stunden über die Gefahr der Alkoholvergiftung gesprochen, und Sie haben mich Ihrer vollen Zustimmung versichert,« sagte er mit schwer verhaltener Erregung. »Hätte es sich um ein paar hingeworfene Bemerkungen gehandelt, so würde ich ein Mißverständnis gelten lassen, aber ich könnte Ihnen Ihre eigenen Worte wiederholen,« er zuckte die Achseln, »ich verstehe Sie nicht!«

Sie wich ihm aus. »Die Violinstunde strengt Magna so an, sie kommt immer mit tiefen Schatten unter den Augen nach Hause.«

»Gnädige Frau, das gehört nicht hierher,« entgegnete Linde bestimmt. »Ich muß feststellen, warum Sie Ihr Versprechen nicht gehalten haben! Wenn Sie hinter meinem Rücken das Gegenteil von dem tun, was wir verabredeten, kann ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten. Ein Vormund muß sich darauf verlassen können, daß alles geschieht, was er anordnet, wozu ist er sonst da?«

Sie antwortete nicht. Er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Aber er traute ihr nicht. Bei der Frau war alles Manöver.

»Die Hauptsache ist, daß vollste Aufrichtigkeit zwischen uns herrscht,« fuhr er fort. »Ich möchte Sie daher bitten, mir ganz offen zu sagen, ob Sie etwas gegen meine Person als Vormund einzuwenden haben. Ich bin jederzeit bereit, zurückzutreten.«

Da brach sie in Tränen aus. »Nein, nein, ich denke nicht daran! Ich bin solchen Auseinandersetzungen nur noch nicht gewachsen!« Sie drückte das Taschentuch an die Augen.

War das Hysterie oder Komödie? Die Frau gab wahrhaftig dem feinsten Psychiater noch Rätsel auf.

Aber Siegfried Linde sagte sich: ›jetzt oder nie!‹ und griff zu.

»Gnädige Frau,« begann er ernst, »Sie würden ganz anderen Auseinandersetzungen gewachsen sein, wenn Sie nicht selber an Alkoholvergiftung litten! Ich bin zwar nicht Ihr Hausarzt, kenne Sie aber genug, um zu wissen, daß Ihnen eine Gefahr droht, der Ihr Körper nicht gewachsen ist. Sie werden sich erinnern, daß ich Sie schon einmal warnte. Damals haben Sie nicht auf mich gehört. Wenn Sie sich weiter der Einsicht verschließen, kann ich Sie nicht hindern, muß aber, wie gesagt, auf bedingungsloser Abstinenz meiner Mündel bestehen.«

Juliane Wächter hatte ihre Tränen getrocknet. Mühsam kämpfte sie ihren Ärger nieder. Es war wirklich ein starkes Stück, daß der Professor sich derartig in ihre persönlichen Angelegenheiten mischte. Sie hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber vorsichtig und klug, wie sie war, bezwang sie sich. Ein Bruch mit Linde wäre ihr im höchsten Grade peinlich gewesen. Außerdem konnte es keinen gewissenhafteren Vormund geben. Sie hätte sich ins eigene Fleisch geschnitten, wenn sie sich mit ihm entzweit hätte.

So lenkte sie ein. Magna solle keinen Wein mehr bekommen. Walter rühre ja so wie so keinen Alkohol an.

»Ich selber,« setzte sie hinzu, »werde mich wohl kaum an völlige Abstinenz mehr gewöhnen können. Dazu muß man jünger sein. Außerdem habe ich etwas Wein zur Stärkung meiner schlechten Nerven nötig. Herr Doktor Trautmann hat ihn mir ja auch nicht verboten.«

Linde nickte. »Trautmann ist kein ausgesprochener Gegner des Alkohols, obgleich er die Gefahr durchaus nicht grundsätzlich leugnet. Aber ihre ganze Tragweite erkennt er nicht ...«

»Weil er sich selber nicht vom Wein trennen kann!« warf sie ein.

»Das ist möglich. Aber wie dem auch sei, gnädige Frau, ich glaube, daß er Ihnen täglich höchstens ein Glas leichten Tischwein gestatten würde. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß mich nur die warme Anteilnahme an Ihrem traurigen Geschick treibt, diese Frage anzuschneiden. Aber Sie sind die Mutter meiner Mündel, und darum sage ich Ihnen ganz offen: ich bin in Sorge um Sie. Wieviel Sie trinken, weiß ich nicht, aber daß Sie zuviel trinken, ja daß Ihr Zustand allerstrengste Abstinenz fordert, sehe ich als Arzt. Und darum sage ich Ihnen: Sie sind gefährdet!«

Die herzliche, mitfühlende Art verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Zorn verflog, wie ein gescholtenes Kind hörte sie ihm zu, als er ihr nochmals in großen Zügen die Gefahren des Alkohols erklärte.

»Ich kann mich heute leider nur kurz fassen,« erklärte er, »da ich noch eine Kranke besuchen muß. Aber ich werde mir erlauben, Ihnen eine kleine gemeinverständliche Abhandlung, eine Zusammenfassung der Hauptpunkte zu schicken, ein Heftchen von wenig Seiten – die Kinder können es auch lesen. Ein anderes Mal sprechen wir eingehender darüber! – Nur eins möchte ich heute noch erwähnen. Sie sagten vorhin, Ihre schlechten Nerven bedürften des Alkohols zur Stärkung. Das ist ein ganz gefährlicher Irrtum. Der Alkohol wird Ihre Nerven niemals stärken, denn er ist der Hauptentstehungsgrund für die Erkrankungen des Nervensystems und des Gehirns.«

Sie seufzte. »Ich bin oft so herunter, Herr Professor, daß ich nicht weiß, wie ich ohne die kleine Anregung fertig werden soll. Meine Widerstandskraft ist wie gelähmt.«

»Das glaube ich gerne. Der Alkohol lähmt die Widerstandskraft, und was fast noch schlimmer ist, die Willenskraft. Die scheinbare Willenserregung, die der Willenslähmung voraufgeht, ist alkoholischer Betrug. Das Gift verändert und verschlechtert das Blut. Darum ist gerade der tägliche gewohnheitsmäßig mäßige Wein- und Biergenuß so verhängnisvoll, weil der Alkohol den Kreislauf des Blutes durch den ganzen Körper mitmacht. Das Gift gelangt also überall hin, bis in die Fuß- und Fingerspitzen. Daß das in bezug auf unsre Rasse durch die Zerstörung der Keimzellen eine Volksgefahr bedeutet, sagte ich Ihnen schon früher. Wir haben ja leider alle miteinander die Wahrheit über den Alkohol viel zu spät erfahren. Sie ist geradezu niederschmetternd. Von den Fällen schneller tödlicher Vergiftung, die ja leider keine Seltenheit sind, will ich schweigen. Das Erschütterndste sind für mich immer die Folgen des sogenannten ›mäßigen‹ Alkoholgenusses gewesen. Wir Ärzte begegnen ja nur zu oft diesen traurigen Fällen. Meistens sind wir machtlos. Denn wer glaubt uns, solange die Folgen nicht sichtbar sind? Wenn der Körper zerrüttet ist, sollen wir helfen. Oder man bringt uns Kinder, denen die schwere Erbschaft das Leben schon im Keim vergiftet hat.« Er zuckte die Achseln. »Man faßt es nicht, daß all das Elend nicht abschreckender wirkt! Ich kann nur sagen, als ich als junger Arzt die Folgen des Alkoholgenusses am eigenen Leibe verspürte und ein paarmal solch ein zertretenes Familienglück mitangesehen hatte – als ich mir in jedem dieser Fälle sagen mußte: ›das hat der Alkohol und nur der Alkohol getan,‹ da war ich mit der Frage fertig. Seitdem bin ich abstinent.«

Forschend sah er sie an, als erwarte er eine Entgegnung. Ihre Lippen zuckten, aber sie schwieg.

Da erhob er sich. »Also, meine gnädige Frau, ich werde Ihnen die kleine Abhandlung schicken. Wenn Sie mehr lesen wollen, steht Ihnen meine Alkoholliteratur gern zur Verfügung. Zunächst erfahren Sie durch das Schriftchen, was wir alle über den Alkohol wissen müssen.«

In ihren Zügen begann es zu arbeiten, als hätte die Unterhaltung doch etwas in ihr aufgewühlt.

»Ich verstehe nur nicht, warum so viele Ärzte den Alkohol als Stärkungsmittel verordnen?« sagte sie.

»Wir verordnen Alkohol bei Schwächezuständen, z. B. nach großen Operationen zur Belebung der Herztätigkeit. Daß er heute noch von vielen Ärzten als Stärkungsmittel verordnet wird, möchte ich bezweifeln.«

Frau Wächter schwieg. Ihr Gesicht war undurchdringlich, wie immer, wenn sie sich im Widerspruch mit etwas befand.

Heimlich beobachtete sie der Arzt. Ob er wieder in den Wind geredet hatte?

Ihre Züge waren schlaffer als vorhin, der Glanz in den dunklen Augen erloschen. Nahm sie etwa auch noch Morphium? Jedenfalls stand eins für ihn fest: die Frau lechzte in diesem Augenblick nach dem gewohnten »Stärkungsmittel«. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen, würde sie beim Südwein Trost suchen und – für eine flüchtige halbe Stunde finden. Er unterdrückte einen Seufzer. Leicht war seine Aufgabe nicht. Wenn er nur gewußt hätte, wieweit man ihr trauen durfte! Ob dies schwankende schillernde Wesen Berechnung oder Angewohnheit war? Nichts reizte ihn mehr, als diese Art, die sich immer auf der Grenze von Unklarheit und Lüge bewegte. Er wußte ja nicht einmal, ob der Kampf, der sich in diesem Augenblick auf ihren Zügen wiederspiegelte, echt war. Jedenfalls galt's vorsichtig zu Werke gehen. Ganz allmählich wollte er ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken suchen. Sie selbst mußte die Überzeugung gewinnen: du stehst vor dem Ruin. Sonst war ihr nicht zu helfen. Aber wann würde sie so weit sein?

Sie schien noch immer nicht mit sich im reinen. Das Ureigenste, Edle, das in jedem echten Weibe schlummert, rang mit falscher Scham und Unwahrhaftigkeit. Verletzte Frauenwürde bäumte sich gegen das Manneswort auf, das sie ihres Schimmers entkleidete. Die Leidenschaft forderte: ›er oder ich!‹ Und der Geist, der die Ärmste mit unsichtbaren Ketten gefesselt hielt, raunte: ›du folgst einem blinden Toren!‹ Aber der Glanz des entscheidenden Augenblicks lag hell auf ihrem Wege, und eine Stimme mahnte: ›denk an deine Kinder, an Enkel und Urenkel, an dein Volk, das aus tiefen Wunden blutet – sie rufen dich!‹ Und als würde die unsichtbare Warnerin redegewaltig, klang's an ihr Ohr: »Vergessen Sie nicht, daß Sie Mutter sind!«

Wann hatte sie zuletzt solch schlichtes herzliches Wort von Manneslippen gehört? Sie zuckte zusammen. Er, dessen Herzen sie am nächsten stand, hatte einst dieselbe Mahnung an sie gerichtet. Bittend, flehend, mit brechenden Augen und versagender Sprache warb der Sterbende um ihre Mutterliebe. Es zerriß ihr die Seele, nie hatte sie einen schwereren Kampf gekämpft. Und dann gab sie ihm ein heiliges Versprechen und – brach es.

Es kam, wie es kommen mußte. Wer Wind sät, erntet Sturm. Das gebrochene Wort zermürbte sie. Es hetzte sie in ihrer tiefen Witwentrauer hierhin und dorthin, es trieb sie zur Flasche und riß ihr das halb geleerte Glas vom verdurstenden Munde. Es folterte sie in der Stille einsamer Winternächte und begleitete sie in ihren grauen Tag. An Händen und Füßen band es sie und knebelte ihr die Sinne. Ihr armseliges Wort, das sie in falschem Selbstvertrauen gegeben und leichtfertig gebrochen, wandte sich wider sie und marterte Leib und Seele. Es nützte nichts, daß sie hier eine Klausel machte und dort eine, es blieb bestehen: sie hatte dem Sterbenden gelobt, dem Alkohol zu entsagen und ihr Wort gebrochen. Nun erfuhr sie's: ›reicht man dem Teufel den kleinen Finger, so nimmt er die ganze Hand.‹

Ob er, der seine Freundestreue auf Weib und Kind des Toten erstreckte, ihre Seelenkämpfe ahnte? Sie sah ihn mit verschleiertem Blick an. Kam er, die Schiffbrüchige der Sturmflut zu entreißen?

Seltsam, daß die sonst so verschieden gearteten Männer in der vielumstrittenen Frage einmütig vor ihr standen. Denn restlose Klarheit herrschte ihres Erachtens in der Alkoholfrage nicht. Und sie klammerte sich an ihre kerngesunden Vorfahren.

Aber das Wort Siegfried Lindes ließ sie nicht los, und die Mutterliebe raunte: ›sie rufen dich!‹

Zwei Gewaltige rangen um ihre Seele: der Geist aus der Tiefe und der Streiter des Lichts.

Ein leichter Schwächeanfall machte sich bemerkbar. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen. Wäre sie nur erst wieder allein! Es gab Stunden, wo sie ihr gebrochenes Wort und all ihr Elend vergaß, wo sie keiner störte! Die Witwe liebte diese Stunden. Sie saß im Erker und verträumte die Zeit. Der Südwein schimmerte duftend im Kristall. Die Seele ward leicht, Sorgen und Nöte verflogen. Über dem Alltag lag's wie ein Rosenwunder. Dann erschien ihr auch jene schlimme Stunde und die Unterredung mit dem sterbenden Manne in anderem Licht. Wäre sie damals nicht so erregt gewesen, sie hätte die Frage gar nicht so ernst aufgefaßt. Jahraus, jahrein hatten sie beide ihren Wein getrunken, auch die Kinder waren daran gewöhnt. Daß plötzlich keiner mehr auf den Tisch kommen sollte, mochte darin seinen Grund haben, daß der Zustand ihres Mannes jeden Alkoholgenuß verbot. Vielleicht steckte auch Linde dahinter. Bei Lichte besehen, war das feierliche Versprechen ganz überflüssig gewesen. Es genügte vollständig, wenn sie mäßig war. Wäre ihr Mann in jenen Tagen nicht oft halb bewußtlos gewesen, sie hätte eingehend mit ihm darüber sprechen können. Er hätte ihr sicher zugestimmt. Sie wußte es genau. Und die Frage schrumpfte zu einer nebensächlichen Kleinigkeit zusammen, und die Schuld verblaßte. Juliane Wächter hatte allen Grund, diese Dämmerstunden zu lieben – – –

Die weiche Regung war verflogen. Sie hatte ihre Haltung wiedergefunden. Liebenswürdig fragte sie nach Lindes Gattin. Aber über seine Antwort huschte sie hinweg. Nie war ihm das Sprunghafte ihres Wesens so aufgefallen wie heute. Er ging mit dem Gefühl, daß sie froh war, den lästigen Besucher los zu sein.

Auf der Diele traf er Magna. Sie machte dem Vormund einen zierlichen Knix und reichte ihm die Hand.

»Ich habe Ihrer Mutter eben gesagt,« redete er das junge Mädchen an, »daß Sie weder Wein noch Bier mehr trinken dürfen, Magna! Es scheint ein kleines Mißverständnis bestanden zu haben, wonach ich Ihnen ausnahmsweise erlaubt hätte, Wein zu trinken. Das ist ein Irrtum. Ich habe es ausdrücklich verboten und kann keine Ausnahmen gestatten. Es freut mich, daß ich Sie treffe und es Ihnen selber sagen kann. Ich weiß, Sie werden sich genau nach meinen Anordnungen richten.«

»Gewiß, Herr Professor! Ich trinke keinen Schluck mehr, wenn Sie es verbieten,« antwortete die Kleine wohlerzogen. Aber in den blauen Augen stand eine Enttäuschung.

»Über die Alkoholfrage selbst sprechen wir noch einmal eingehend in den nächsten Tagen.« Er nickte ihr freundlich zu. »Grüßen Sie Walter!«

»Danke sehr, Herr Professor!«

Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber der Respekt vor dem Vormund schloß ihr den Mund.

»Nun?« fragte er ermunternd, »was haben Sie auf dem Herzen?«

Der Backfisch wurde dunkelrot. »Darf ich auch keinen alkoholfreien Wein trinken?«

»Nein, Magna, vorläufig nicht. Erst wollen wir uns diese Genüsse mal ganz abgewöhnen. Ein junger gesunder kräftiger Mensch braucht keinen Wein. Trinken Sie lieber Milch – falls sie augenblicklich zu haben ist – und wenn Sie durstig sind, ein Glas frischen Pumpenheimer!« Er klopfte sie auf die Schulter. »Das ist viel gesünder!«

Und ehe sie sich besinnen konnte, war er hinaus.

Erstaunt blickte sie ihm nach. Was war das für eine Geschichte! Von einem Mißverständnis hatte er gesprochen? Als der Professor die Vormundschaft übernahm, hatte er ihr und Walter jeden Alkoholgenuß verboten. Seit vierzehn Tagen gab die Mutter ihr Wein mit der Bemerkung, Linde habe es, da sie so bleichsüchtig sei, ausnahmsweise erlaubt. Der Wein sei alkoholfrei. Sie konnte den Vermerk allerdings nicht auf der Flasche finden. Und nun sollte sie nichts mehr bekommen. Das war hart. Sie war immer so müde. Und der Südwein schmeckte so schön. Warum tat man denn Gift hinein? Der reine Traubensaft war doch an sich schon ein Genuß!

Langsam stieg sie die Treppen hinan in ihr Stübchen. Und während sie Hut und Mantel ablegte, philosophierte sie weiter. Was war das für ein sonderbares Mißverständnis! Sie konnte sich gar nicht denken, daß der Professor sich unklar ausgedrückt haben sollte! Das war nicht seine Art. Aber die Mutter war in letzter Zeit oft so merkwürdig gewesen! So wechselnd! Gar nicht wie früher. Sie vergaß so viel. Und zuweilen erzählte sie Sachen, die nicht wahr waren, oder drehte sie um. Magna hatte manchmal geradezu Angst vor ihr.

Vergeblich grübelte sie über den Fall nach. Schon vor ihres Vaters Tode hatte sie oft den Eindruck gehabt, daß mit der Mutter nicht alles in Ordnung sei. Aber sie kam der Sache nicht auf den Grund. Fragen mochte sie keinen, höchstens Walter. Es widerstrebte ihr, über die Mutter zu sprechen. Andererseits war sie zu klug und zu ehrlich gegen sich selbst, um alles gut zu heißen, was Juliane tat. Sie behielt's nur für sich. Niemand außer dem Bruder ahnte, wie das kleine Ding unter den Launen und schlechten Angewohnheiten seiner Mutter litt.

Magna hatte sich ans Fenster gesetzt und sah auf das matt erleuchtete Straßenbild nieder. In ihren Augen standen Tränen. Sie hing mit großer Liebe an Juliane. Einen Schatten auf ihrem Bilde ertrug sie nicht. Aber schwerer und schwerer legte sich die lähmende Erkenntnis auf ihr Kindergemüt, daß der Mensch, der ihr ganzes ungeteiltes Vertrauen besaß, wieder und immer wieder die Wahrheit verletzte. Wie war's möglich? Hätte das jemals einer von ihrer schönen vergötterten Mutter gesagt, sie hätte ihn ins Gesicht geschlagen! Und nun mußte sie selbst die furchtbar traurige rätselhafte Erfahrung machen und konnte sie nicht wegleugnen, wenn sie nicht gegen sich selbst unwahr werden wollte. Oft wußte sie nicht aus noch ein. Julianens verändertes Wesen verwirrte und ängstigte sie namenlos. Sie konnte sich keinen Vers daraus machen. Und ein Ahnen, ein dunkles Ahnen stieg in der jungen Seele auf und trieb die tastenden Sinne ins Uferlose.


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