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Viertes Kapitel.
Kinder der Heimat.

Sag, warum bist du in Sturm und Streit
Hinab in das Dunkel der Gassen gegangen?
Deinen Schleier seh ich am Hoftor hangen,
Am Straßenrand liegt dein Purpurkleid –
Heimat, o Königinne!

Ums Morgengrauen kommst du nach Haus!
Den Leib geschändet, vergiftet die Seele,
Im weißen Antlitz die Qualen der Hölle,
Verwahrlost, zertreten – das Lied ist aus!
Heimat, o Königinne!

 

Aus der Bodenluke des Professorenhauses klang der Ton eines Waldhorns. Leise und scheu, als dürfe die Heimat seinen Flügelschlag nicht hören, schwebte das Vaterlandslied mit verhaltener Sehnsucht in die Dämmerung hinaus.

O Deutschland, hoch in Ehren!

Ursula Linde stand in der Haustür und lauschte. Ein Zug weher Bitterkeit legte sich um den feinen Mund, und die dunklen Augen wurden feucht.

Oben stand ihr junger Bruder mit seiner großen Heimatliebe. Er durfte sie nicht laut werden lassen, denn es wohnte eine im Haus, deren wunde Seele den Klang des deutschen Hochgesanges nicht ertrug. Aber das Waldhorn blinkte und lockte. Da klomm der Bub die enge Stiege zum First empor, wo man die Abendsonne hinter den Wäldern vergluten sah und die ersten Sterne in die rohgezimmerte Kammer schauten. Die Mutter war ausgegangen und würde so bald nicht heimkehren. Und wenn er ganz leise spielte, würd' man's unten überhaupt kaum hören. Er durft' es schon wagen. Alles konnt' er mitansehen, nur nicht das heiße bitterliche Weinen seiner Mutter. Zuerst hatte er sie nicht ganz verstanden. Sie trauerte um die Heimat, als hätte man sie zu Grab getragen. Und sie war doch nicht tot. Schwerkrank war sie, aus tiefen Wunden blutend, aber sie lebte! Wenn ihr Herzschlag auch kaum vernehmbar war, wenn er auch bisweilen aussetzte. Die Heimat lebte!

Vor hundert Jahren, als eine verblendete Regierung ihre deutschnationale Verbindung auslöste, sangen die Burschenschaftler das erhebende Lied:

Wir hatten gebauet ein stattliches Haus ...

Das war die Zeit der Schande, da man Ernst Moritz Arndt seines Amtes zeitweilig entsetzte und Fritz Reuter ins Gefängnis sperrte. Und heute? Gegen die Schmach von 1918 waren jene Tage ein Kinderspiel. Aber trotzdem: was damals Tausende sangen, bestand heute noch zu Recht, denn jeder wahrhaftige Deutsche durfte sich den trutzhaften Schluß zu eigen machen:

›Das Haus ist zerfallen –
Was hat's denn für Not?
Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott!‹

Noch gab's echte Deutsche. Tausende, Hunderttausende. Das wußte die Mutter doch. Aber in gewissem Sinne hatte sie recht. Die Freiheit von 1813 trug andere Züge. Damals kämpften die Edelsten für deutsches Recht, heute herrschte die Straße. Das Vaterland war zertrümmert, und ehe die verödete Heimat wieder aufgebaut war, konnten Jahrzehnte ins Land ziehen. Mit Recht bangten die deutschen Mütter um ihre Kinder, wie sollten sie sie vor dem Geist des verwahrlosten Vaterlandes schützen? Heimatliebe, Frömmigkeit und Ordnung waren zum alten Eisen geworfen, und der sogenannten Freiheit fehlten Ehre und Zucht. Als der Vater mit dem heranwachsenden Sohn über die unter ihrer Schmerzenslast zusammengebrochene Mutter sprach, hatte er ihn in die Abgründe des völkischen und sittlichen Verfalls schauen lassen. Wie richtig hatte er die Menschen im einzelnen und allgemeinen in Deutschlands Schicksalsstunde beurteilt!

Joachim Linde lieble seine Mutter über alles. Der bloße Gedanke, einmal nicht von ihr verstanden zu werden, war ihm unerträglich. Darum war er dem Vater von Herzen dankbar für das Vertrauen, das er in ihn setzte. Niemals sollte sie denken, daß ihr Junge sie nicht verstand. Mehr noch als früher wollte er versuchen, ihr die gefallenen Heldensöhne zu ersetzen und ihr zuliebe zu tun, was er ihr von den Augen absehen konnte. Vor allem wollte er ein rechter deutscher Mann werden. Seines Vaters Vorbild sollte ihm stets vor Augen stehen. Eine größere Freude konnte er ihr nicht machen, er wußte es. »Ein ganzer Mann und ein ganzer Christ,« so hatte sie ihn genannt, als sie in einer stillen Stunde den Sohn ermahnte, dem Vater nachzueifern.

Wochenlang hatte das Waldhorn gerastet. Die Mutter verließ ja das Haus nicht. Aber am ersten Tage, als sie ausging, trug er es frohlockend zur Dachkammer empor. In der offenen Bodenluke stand er, bis sie außer Hörweite war. Dann klang das schöne geliebte Lied in den sterbenden Tag hinaus.

Ursula Linde kannte die zarte rücksichtsvolle Sohnesliebe des Bruders, aber sie wußte auch, wie die deutsche Knabenseele für das Vaterland glühte. Der Kampf der letzten Wochen war ihr nicht verborgen geblieben. Joachim war außergewöhnlich musikalisch veranlagt, die Kunst ein Teil seiner selbst. Seine Freude vertraute er ihr an; im Schmerz flüchtete er sich zu ihr. Aber der Gram seiner Mutter ließ die Vielgeliebte verstummen. Muttertränen sind heilig.

Gedankenverloren trat Ursula ins Haus. Hoffentlich vergaß er über dem Heimatliede nicht Zeit und Stunde. Sie sah auf die Uhr. Die Mutter konnte jeden Augenblick zurückkommen. Ihre Nerven hatten in den letzten Wochen genug Anlaß zur Vorsicht gegeben. Für alle Fälle wollte sie gleich zu Joachim hinaufgehen.

Auf der Diele traf sie den Vater im Begriff auszugehen. Er schien es sehr eilig zu haben.

»Sage Mutter, wenn sie nach Hause kommt, ich könnte nicht zum Abendbrot zurücksein,« rief er ihr im Vorübergehen zu, »Major Wächter ist eben gestorben!«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Sie aber stand wie betäubt in dem behaglichen Raum.

Major Wächter gestorben!

Im August hatte sie ihn zuletzt gesehen. Damals merkten nur Eingeweihte, daß er schwer leidend war. Das Bild des feinen liebenswürdigen Mannes stand vor ihr, als sei es gestern gewesen. Die armen Kinder! Er war ein so guter Vater gewesen. Wie hatten sie an ihm gehangen!

Sie zog ihre Jacke aus.

Was war denn das? Da hing ja Mutters Hut und Mantel!

Sie erschrak. Oben klang feierlich das Lied der deutschen Burschenschaftler.

Sie hatte es doch gleich gedacht, daß der Junge alles über seiner Musik vergessen würde. Ob die Mutter im Wohnzimmer war?

Sie lief die Treppen hinauf. Nirgends eine Spur von der Heimgekehrten!

Eine heiße Angst kam über sie. Kaum begrabene Sorgen wurden lebendig. Wie ein Gespenst stand jener Abend vor ihr, wo die zarte Frau bei der Nachricht von dem schweren nationalen Zusammenbruch ohnmächtig geworden war. Trübe Wochen folgten. Die sonst so Willensstarke konnte sich nicht aufraffen. Lähmend lag die deutsche Not auf Herz und Gemüt.

Frau Lindes Behandlung war schwierig. Ihre Nerven brauchten Ruhe und nochmals Ruhe. Aber sie verlangte alle Zeitungen und regte sich über die geringste Verheimlichung furchtbar auf. Es kam so weit, daß der Professor seinen Kindern jedes vaterländische Lied, jedes Gespräch über die Zeitereignisse in Gegenwart der Mutter untersagen mußte.

Allmählich besserte sich der Zustand. Aber ganz wich der Druck nicht von der gequälten Seele. Ehrengard Linde litt am tiefsten als Mutter. Was die deutsche Frau unter heißen Tränen als unabwendbare Bürde auf sich nahm, zerbrach die Schultern der Mutter. Wohin sie schaute, war wüstes Land, und die heiligsten Güter lagen zertreten. Das war Deutschlands Erbe an das junge Geschlecht. Die Seele der Mutter wollte verbluten.

Ursula flog die Treppen hinan.

Schwer atmend stand sie vor der Bodentür.

Das Waldhorn war verstummt, aber hell und klar sang eine Knabenstimme:

›Das Haus ist zerfallen!
Was hat's denn für Not?
Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott!‹

Zart wie ein Hauch verwehte der letzte Ton.

Da öffnete sie die Tür.

Wie gebannt verhielt sie den Schritt. Als müsse sie leise umkehren, war's ihr zu Sinn. Aber sie kehrte nicht um. Sie stand und schaute.

Im Rahmen der Dachluke lebte das Bild. Vom Abendhimmel hoben sich haarscharf zwei Gestalten, die sprechenden Blicke einander zugewandt: Mutter und Sohn. Ihr schlanker Frauenarm lag auf den jungen Schultern. Zwei Augen wie ein tiefer stiller Bergsee sahen auf den großen Jungen nieder. Mit einem Blick unbeschreiblicher Liebe und Ehrfurcht erwiderte er den Gruß der Mutteraugen.

Als hätte ein Künstler sein Bestes gegeben und dem Werk seiner Hände die schlichte Schönheit der deutschen Seele eingehaucht, leuchtete das Bild der Mutterliebe, die im Glorienschein durch den Alltag schritt.

Traumverloren stand das junge Weib im Türrahmen.

›Hans Thoma!‹ zog es ihm durch die Seele.

Dann vernahm Ursula die Stimme ihrer Mutter. Die Unrast der letzten Wochen schien verflogen. Ruhig und klar wie der Klang einer Kirchglocke schlug's an ihr Ohr: »Eins wollen wir uns niemals rauben lassen, mein Junge:

›Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott!‹

Sieh, mich freut's, daß du nicht an deiner Mutter irre geworden bist! Manch eine mag in dieser Zeit im Blick auf das Verlorene zusammengebrochen sein. Aber das Versagen der Tragkraft hatte verschiedene Ursachen. Hier war's die Angst vor Verarmung und ungewohnter Arbeit, dort der Gedanke: ›du kannst nicht mehr leben wie früher, es reicht nicht für alles, woran du gewöhnt bist, du kannst nicht mehr reisen, du versauerst im Einerlei des Alltags‹ – Und dann gibt's Frauen, die an Deutschlands Not dahinsiechen, die das Sterben der Heimat nicht mitansehen können. Ist's ein Wunder? Die Seelen unsrer Kinder läßt man verhungern und verdursten, nach unsres Volkes Ewigkeit fragt keiner! Alles Heilige und Hohe wird zertreten, Religion und Sittlichkeit gelten nichts mehr im neuen Deutschland!«

Nun bebte die Stimme der Frau doch.

»Joachim, ich weiß, daß du nie von deiner Mutter gedacht hast, Verarmung und Einschränkung könnten ihr das Herz brechen. Aber das ist mir nicht genug. Du sollst mich auch nicht für mutlos und verzagt halten. Ich geb's zu, ich konnte nicht mehr. Körperlich und seelisch nicht. Der furchtbare Schlag kam zu plötzlich. Und der Gedanke an euch hat mich fast von Sinnen gebracht! Wenn man einer Mutter ihre Kinder nimmt und sie an einem Felsen zerschmettert, wundert sich kein Mensch, wenn sie den Verstand verliert. Geht's aber um ihre Ewigkeit, so verlacht man uns in unsren Nöten. Ja, wir sind weit gekommen. Auf Schritt und Tritt begegnet man diesem zersetzenden Geist, dem nichts, aber auch nichts heilig ist! Und all das Elend kam auf einmal. Das warf mich um. Ich war am Ende meiner Kraft. Darum konnt' ich's auch nicht ertragen, wenn ihr vaterländische Lieder sanget. Denn Glaube und Heimat sind ewige Güter. Wer sie verachtet, verscherzt auch sein himmlisches Bürgerrecht.«

Sie wandte ihm das Gesicht voll zu. »Kannst du's nun verstehen, mein Junge, daß meine Kräfte versagten?«

Auf den reinen Zügen Joachim Lindes lag feierlicher Ernst. »Ja, Mutter, das versteh' ich!« Er wurde rot. »Aber ich hab' immer gewußt, daß du ...« er zögerte.

Aus ihren Augen leuchtete stolze Freude.

»Daß ich mich wieder zurechtfinden würde,« rief sie mit verhaltenem Jubel.

»Ja, Mutter, daß du für immer den Mut verlieren würdest, hab' ich nie geglaubt. Dann wärst du ja nicht unsre Mutter!« Weich und zärtlich klang's.

Sie blickte in die feiernde Herbstnacht hinaus. Der Mond war aufgegangen und warf seinen silbernen Schein in die Dachkammer.

»Wir wollen beten und arbeiten und nicht verzweifeln, Joachim! Und wenn die Zahl derer, die den Geist echter Frömmigkeit und wahrhaftiger Vaterlandsliebe im Herzen tragen, auch klein ist, wollen wir doch nicht den Mut verlieren, sondern für unsre Kinder und Enkel schaffen, solange es Tag ist. Vielleicht wird der Heimat noch einmal eine neue Blütezeit beschert. Wir Alten werden sie wohl nicht erleben, aber was tut's? Wenn nur das Vaterland lebt! Die Hauptsache ist, daß wir treu erfunden werden.«

Die Tränen perlten ihr über die Wangen. Schweigend drückte sie des Sohnes Hand. Ihre Gedanken wanderten.

Vergangene Zeiten stiegen herauf. Bild reihte sich an Bild. Die Tat ward Geschichte. Da keimte in der Seele der deutschen Frau die Hoffnung: die Tage kehren wieder, da es heißen wird ›Das Volk steht auf!‹ Ging der Sturm auch über ihr Grab, wenn er nur losbrach! Noch konnt' und wollt' sie's nicht glauben, daß ihr ganzes Volk reif sein sollte zum Untergang. Aber vielleicht war die Stunde nicht ferne, da die letzten Deutschen den zerfallenden Bau des Reiches verließen, wie einst die kleine Christengemeinde das brennende Jerusalem! Hier wie dort galt's das Bergen ewiger Güter, hier wie dort retteten Auserwählte ihres Volkes Erbe.

Die Frau reckte sich empor. Nein, Luthers Vermächtnis und Kants Schätze gingen nicht unter! Deutschland starb nicht.

»Und unsre Burg ist Gott!« sagte sie leise.

Da neigte Joachim Linde den blonden Kopf über die Hand seiner Mutter und küßte sie.

Nie würd' er diese Stunde vergessen. Sie blieb seiner Jugend heiligstes Erleben. Und wie ein Festgesang zog's durch seine Seele: ›Vater und Mutter!‹ – –

Draußen knarrte eine Stiege. Die beiden Menschen hörten es nicht.

Hand in Hand standen sie und lauschten in die Nacht hinaus.

Ferne Stimmen raunten von einer großen Zeitenwende, und ein deutscher Knabentraum geisterte über mondhellen Landen.


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