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Zweites Kapitel.
Gemeingefährlich.

Wer die Natur als Gottes Schöpfung ehrt,
Wird nicht durch das Natürliche beschwert.
Denn wer das Leben schaut mit reinen Sinnen,
Der weiß, wo Schmutz und Sündendienst beginnen.

 

»Bitte, Herr Professor, einen Augenblick!«

Ein kleiner untersetzter Arzt im weißen Operationsmantel kam eilig hinter Linde her, der soeben das Amalienstift verlassen wollte.

Der Angerufene wandte sich um. »Ah, Sie sind's, lieber Trautmann, was steht zu Diensten?«

Die Herren schüttelten sich die Hände.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Zeit in einer persönlichen Angelegenheit kurz in Anspruch nehme,« erwiderte der Oberstabsarzt. »Ich würde Sie begleiten, kann aber noch nicht fort!«

Sie traten in das Ärztezimmer.

»Es handelt sich nämlich um den Besuch einer Dame, den Sie aller Wahrscheinlichkeit nach in diesen Tagen zu erwarten haben,« begann er, sich Linde gegenübersetzend, aufs neue, »Wie Sie wissen, bin ich Vormund der Mandelschen Töchter. Ich habe niemals Schwierigkeiten mit der Mutter gehabt, trotz einer gewissen Engigkeit der Auffassung. Daß diese Engigkeit plötzlich so unbequeme Formen annehmen würde, hätte ich allerdings nicht für möglich gehalten. Vor einigen Tagen hielt der Assessor Freiland um das älteste Fräulein von Mandel an. Selbstverständlich erklärte ich der Mutter, erste Bedingung sei ein ärztliches Zeugnis über Vorleben und Gesundheitszustand, von einem mir persönlich bekannten Kollegen ausgestellt. Wollen Sie mir glauben, daß jetzt ein Kampf bis aufs Messer losging? Es sei eine geradezu beleidigende Zumutung, die man an einen Ehrenmann wie Freiland nicht stellen dürfe usw. Es nützte nichts, daß ich Frau von Mandel auf meine vormundschaftlichen Pflichten hinwies, daß ich ihr lang und breit auseinandersetzte, daß ich, von dieser Forderung absehend, ein Versäumnis auf mich laden würde – immer wieder kam sie mit ihrem ›Ehrenmann‹ und ihrer ›tadellosen Persönlichkeit‹. Ich bat sie schließlich, doch einmal ganz von allem Persönlichen abzusehen. Ich kennte den Assessor ja gar nicht und hätte keinen Anlaß, an seinem Ruf zu zweifeln – wohinter ich allerdings, unter uns gesagt, ein Fragezeichen setze – aber ich würde die eigene Tochter keinem Fremden anvertrauen, viel weniger mein Mündel. Ob sie mich nicht verstand oder nicht verstehen wollte, weiß ich nicht, um so klarer wurde mir, daß Herr Freiland den Damen ganz gehörig den Kopf verdreht hat. Jeder weitere Kampf wäre aussichtslos gewesen. Ich legte also die Vormundschaft nieder. Das hatten sie nicht erwartet. Die Alte zeigte sich verschnupft, die Junge verlegen. Aber ich erklärte: ›Entweder – oder!‹ Schließlich konnte ich mir doch nicht von den beiden auf der Nase herumtanzen lassen!«

Linde lachte. »Das wäre ja noch schöner!«

Der Oberstabsarzt strich über sein schwarzes Haar.

»Aus einer Bemerkung glaube ich schließen zu müssen, daß Frau von Mandel Sie als Verwandten ihres verstorbenen Mannes bitten wird, die Vormundschaft zu übernehmen. Die jüngere Tochter ist erst siebzehn Jahr, sie kommt also nicht um die Sache herum. Aber zu wem soll sie gehen? Verstehen kann man's, wenn es ihr weniger peinlich ist, Ihnen diese Bitte auszusprechen als einem Fremden! Für alle Fälle wollte ich Sie darum von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen, zumal Frau von Mandel eine sehr lebhafte Phantasie besitzt, die leicht mit ihr durchgeht.«

»Besten Dank, lieber Kollege. Aber glaubt sie denn, daß ich auf das ärztliche Zeugnis verzichten werde? Dann hat sie sich gründlich verrechnet! Ganz von meinem persönlichen Standpunkt abgesehen, habe ich nicht nur oft Gelegenheit gehabt, Freiland im Verkehr mit Damen zu beobachten – ich weiß auch sonst manches über ihn, was nicht für seine Person spricht. Im Vertrauen gesagt, hat meine älteste Tochter ihm vor einigen Monaten einen Korb gegeben. Sie interessierte sich eine Zeitlang für ihn, ein gewisses Etwas in seiner Person muß sie aber wohl zur Vorsicht gemahnt haben. Kurz und gut, als er anhielt, sagte sie, ehe die Frage überhaupt erörtert war, ohne sich zu besinnen, nein. Wir haben uns gefreut. Die Antwort zeugte von dem kerngesunden unverdorbenen Empfinden eines reinen Weibes, das rechtzeitig wahre Werte vom Truggold unterscheiden lernte. Für das Mädel spricht's und für die Mutter!«

Der frohe Stolz des Besitzenden klang aus seinen Worten. Er nickte dem anderen zu: »Also ganz unter uns!«

Der Oberstabsarzt reichte ihm die Hand über den Tisch. »Besten Dank, Herr Professor! Selbstverständlich behandle ich die Angelegenheit streng vertraulich! Nach all den Klagen und Vorwürfen tut einem solch starke Lebensauffassung gut, zumal wenn man sie bei Frauen findet.«

»Nicht wahr?« rief der andere. »Es wäre mir auch nicht im Traum eingefallen, von der Sache zu reden, aber ich sagte mir: man braucht so etwas, wenn man von allen Seiten angegriffen wird; besonders wenn die Sache in einer so großen Familie spielt! ›Die Onkels, die Tanten, bekannt und verwandt – – ‹ Schließlich denkt man selber noch, man sei zu schroff gewesen!«

Trautmann lachte. »Ja, beinahe.«

Es klopfte. Ein freundliches Gesicht sah herein.

»Ich komme sofort, Schwester Agathe.« Der Oberstabsarzt erhob sich und reichte dem Kollegen die Hand. »Also nochmals besten Dank, Herr Professor!«

»Bitte, bitte, ganz auf meiner Seite! Es ist immer sehr angenehm, auf solche Überfälle vorbereitet zu sein.«

Sie trennten sich.

Fünf Minuten später wanderte der Professor durch den Stadtgarten. Jeden Tag freute er sich, daß der Weg von der Viktoriastraße zum Amalienstift durch die Anlagen führte. Wie ein großer Park verloren sie sich in Wäldern und Wiesen, und der Mann, den Unruhe und Arbeit auf Schritt und Tritt begleiteten, empfand die tiefe Einsamkeit und unberührte Frische der Natur als ein Gottesgeschenk. Abgesehen von der Zeit mit Frau und Kindern war der stille Spaziergang seines voll besetzten Tages schönster Augenblick. Sorgen und Lasten fielen ab, eine andere Welt tat ihm ihre Pforten auf. –

Heute lag ein Schatten auf der Stirn des Wanderers, und er achtete der Schönheit des Weges nicht. Seine Sinne hielten einen Gedanken umklammert, der nicht in die Herrlichkeit des Spätherbsttages paßte. Er hätte ihn erwürgen mögen. Aber er trotzte menschlicher Kraft. Wer dennoch den Kampf mit ihm aufnahm und ins Leben trug, mußte sich mit aller Qual und Not, allen Widerständen und Härten, allen Opfern an Herzblut, die er forderte, abfinden.

Professor Linde ließ das Gespräch mit dem Kollegen keine Ruhe. Äußerlich gesehen handelte es sich um die alte Binsenwahrheit einer fast selbstverständlich gewordenen Unebenheit im Wesen der deutschen Frau. Aber wer seines Volkes Zukunft auf sorgender Seele trug, wer tiefer blickend des Lebens Fragen grundsätzlich behandelte und mit fein geschärften Sinnen Land und Leute beobachtete, der sagte sich, so oft er dieser Frauengestalt begegnete, daß sie, bewußt oder unbewußt ihrer Pflicht vergessend, mitarbeite an dem dunklen Werk heimlicher Volksvergiftung. Was half's, wenn der Staat eingriff und das Heer der Geschlechtskrankheiten unter gesetzliche Aufsicht stellte – solange die Wächterinnen des Hauses und der Familie versagten, arbeitete die Seuche in unzähligen unterirdischen Gängen weiter. Fand ein Volkskenner den Mut zu sachgemäßer Warnung, so bekamen sie Krämpfe oder warfen den unerzogenen Menschen über Bord. Und das zu einer Zeit, wo Deutschland aus tiefen Wunden blutend am Boden lag, wo alles auf die Treue ankam, die den zertretenen Garten pflegte und dem Aufbau des werdenden Neulands ihre Kräfte weihte! Zum Tollwerden war's! Da stand man als Arzt und sittlich denkender Mensch, der sein Vaterland liebte, ohne dem Unheil steuern zu können! Der Zorn kochte in ihm auf, wie immer, wenn er dem Gedanken Raum gab. Er konnte und wollte nicht nachgeben, viele Tropfen höhlten den Stein. Noch immer erschienen Frauen wie die Baronin Mandel in seiner Sprechstunde – mochten sie kommen! –

Er hatte des Weges nicht geachtet. Erst als ein Zweig seine Hand streifte, merkte er, daß er den schmalen Waldpfad verloren.

Wie schön die stille Wildnis war! Kein Lüftchen regte sich. Rostbraune Farne, bereiftes Brombeergerank, leuchtende Ahornblätter boten in malerischem Durcheinander den Anblick eines vergessenen Parkwinkels. Ein Bild ungestörten Lebens war's trotz der nahen Scheidestunde.

Er seufzte. Die Natur hielt das Ihre heilig – nur der Mensch mißbrauchte sein Pfund.

Über die Wiesen klang der Ruf der Uhren.

Er fuhr empor. Um drei hatte er Sprechstunde.

*

Frau von Mandel hatte nicht auf sich warten lassen. Neben seinem Schreibtisch sitzend, trug sie Professor Linde ihr Anliegen vor.

Sie tat ihm leid. Gleich nach den ersten Worten war ihm klar, daß es vielleicht weniger die Aussicht auf den reichen Schwiegersohn war, die sie den folgenschweren Fehler begehen ließ, als die eigne Kinderstube. Und wieder sah er, wie tief alte vererbte Auffassungen wurzelten.

Bedauernd hatte sie ihm erzählt, daß Oberstabsarzt Trautmann wegen einer Meinungsverschiedenheit die Vormundschaft niedergelegt habe. Asta sei noch nicht mündig, und Olga habe eben erst ihr siebzehntes Jahr vollendet. Sie sei in großer Verlegenheit, wen sie bitten solle, an Trautmanns Stelle zu treten. Ob er ihr als Vetter ihres verstorbenen Mannes den großen Gefallen tun wolle?

Nun mußte der wunde Punkt berührt werden. Er kannte die Naturen, die durch ihre Erziehung für das sachlichste Gespräch über geschlechtliche Fragen verdorben waren. Aber sie mußte ihn zum wenigsten anhören, mußte vor allem ihren Irrtum einsehen, wenn er ihrem Wunsche entsprechen sollte. Er erklärte ihr also, daß er, ohne über den Zwischenfall unterrichtet zu sein, die Vormundschaft nicht annehmen könne.

Sie war dunkelrot geworden. Aber rasch gefaßt, berichtete sie kurz, worum es sich handelte. Doktor Trautmann habe seine Zustimmung zu Astas Verlobung nur unter der Bedingung geben wollen, daß man ein ärztliches Zeugnis von Freiland verlange. Darauf habe sie nicht eingehen können.

Er hörte sie ruhig an.

»Und warum beanstandeten Sie die Trautmannsche Forderung, gnädige Frau?« fragte er, als sie geendet.

Die großen braunen Augen sahen hilflos zu ihm auf.

»Warum? Herr Professor, es war doch in jeder Hinsicht ganz unmöglich, Herrn Doktor Trautmanns Bedingung zu erfüllen. Ich hätte ja das Lebensglück meines Kindes in leichtsinnigster Weise zerstört. Welcher Ehrenmann läßt sich eine derartige Zumutung gefallen? Assessor Freiland jedenfalls nicht. Er würde sich schwer gekränkt zurückgezogen haben. Der Mann hat einen viel zu vornehmen Charakter, ich kenne ihn ganz genau. Vor allem mußte ich aber doch an meine arme Asta denken – das Kind wäre ja zugrunde gegangen!«

Sie senkte die Wimpern. Der klare, scharf beobachtende Blick des Arztes nahm ihr jede Sicherheit. Ihr Ton änderte sich. Sie wurde scharf. Er mußte unwillkürlich an Trautmanns Kampf bis aufs Messer denken.

»So sehr ich es bedaure, daß Herr Oberstabsarzt Trautmann die Vormundschaft niedergelegt hat, so muß ich doch gestehen, daß ich seine Handlungsweise geradezu unglaublich finde,« rief sie erregt. »Mein Himmel, wie kann man so einseitig und so – unvorsichtig sein! Wenn alle Vormünder so wären, würde manches Glück zerstört!«

Sie holte tief Atem.

Er aber sagte sich: ›Fährst du jetzt nicht mit einer Zwischenfrage in den anschwellenden Redestrom, so plätschert sie zwei Stunden in diesem Fahrwasser herum!‹

»Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Wie ich das meine?« Sie sah ihn groß an. »Verehrter Herr Professor, das ist doch klar! Ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihre Töchter um jeden Preis verheiraten wollen, aber mit Wissen und Willen, nur auf eine durch nichts berechtigte Vermutung hin eine derartige Gelegenheit vorübergehen lassen – das kann ich nicht!«

Er seufzte heimlich. Trautmann konnte froh sein, daß er die los war. Leicht hatte er's nicht gehabt.

Jedenfalls galt es ein starkes Geschütz auffahren.

»Gnädige Frau,« begann er aufs neue, »ich glaube, wenn wir uns in dieser wichtigen Angelegenheit verständigen und der Gegenpartei gerecht werden wollen, müssen wir die Frage von Grund aus untersuchen. Ein paar hingeworfene Bemerkungen würden nur zu Mißverständnissen führen, was ich, abgesehen von Ihren persönlichen Wünschen, auch um der Sache selbst willen beklagen würde. Darf ich mir noch eine Vorfrage erlauben?«

Sie hatte ihm mit flimmernden Augen zugehört. »Bitte,« sagte sie gepreßt.

»Hat mein Kollege eine Aufklärung Ihrer Fräulein Tochter über sittliche Gefahren, insbesondere die Gefahr der Geschlechtskrankheiten für geboten gehalten?«

»Ja, er hat sie sogar verlangt. Ich habe es aber abgelehnt, Asta aufzuklären, weil ich sie für zu jung halte.«

»So.« Er lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und sah sie fest an. »Gnädige Frau, ich habe aus Ihren Worten den Eindruck, daß Sie über die Riesengefahr, die uns durch die Geschlechtskrankheiten droht, zum mindesten ungenügend unterrichtet sind, sonst könnten Sie nicht so sprechen und handeln. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe machen will. Ich möchte Sie nur angesichts der wichtigen Entscheidung warnen, obgleich ich mir sage, daß mein Kollege es nicht versäumt haben wird.« Er lächelte fein. »Aber was Hinz nicht fertig bringt, gelingt bisweilen Kunz. Ich kenne den Grundsatz, Frauen und vor allem junge Mädchen in möglichster Unkenntnis über dergleichen Dinge zu erhalten; besonders in altadligen Familien hat er seine Anhänger. Dieser Grundsatz ist falsch. In ein brennendes Haus, wo ihm der Tod sicher ist, läßt keiner sein Kind – der Gefahr des furchtbarsten lebenslänglichen Siechtums setzt man in unzähligen Fällen nicht nur die einzige Tochter, sondern Enkel und Urenkel, ganze Geschlechter aus. Gibt es Widersinnigeres und – Unsittlicheres? Wir sind ja, Gott sei Dank, in der Frage der Aufklärung junger Mädchen im großen Ganzen einen guten Schritt weiter gekommen. Trotzdem begegnet man immer noch ungezählten Müttern, die den alten Standpunkt vertreten. Man sollte es in unsrer Zeit nicht für möglich halten, und doch ist es so! Das muß anders werden.« Er sah vor sich nieder. In die hohe Stirn grub sich eine Falte. »Wenn diese Frauen ahnten, was sie anrichten! Geht's doch letzten Endes um nichts Geringeres als unsere Rasse!«

Sie fuhr auf. »Aber Herr Professor, Sie wollen doch nicht etwa den Vorwurf gegen mich erheben, daß ich mich als Vertreterin meines Standpunktes der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten schuldig mache?« rief sie außer sich.

»Den Vorwurf erhebe ich gegen jeden, der Ihren Standpunkt vertritt, gnädige Frau,« entgegnete er mit tiefem Ernst. »Wer die rechtzeitige Aufklärung der Jugend versäumt und sich im Fall einer Heirat ungenügend oder gar nicht über Vorleben und Gesundheit des Mannes unterrichtet, macht sich mitschuldig an der Verseuchung unserer Rasse. – Es tut mir leid, persönlich werden zu müssen, aber die Frage schneidet zu tief in unser Volksleben ein. Jeder, der seine Töchter, ohne den Schwiegersohn zu kennen, in die Ehe hineinrennen läßt, kann es nicht nur erleben, daß sie von unheilbarer schmutziger Krankheit befleckt werden, daß eine Fehlgeburt der andren folgt, sondern auch, daß die Nachkommenschaft, soweit sie lebend das Licht der Welt erblickt, eine Auslese von Kranken, Krüppeln, Idioten und – Verbrechern darstellt. Gehen Sie einen Schritt weiter, und Sie haben das verseuchte aussterbende Volk vor sich. Ich sollte meinen, wir sind durch unser großes nationales Unglück schwer genug gestraft und sollten alles tun, um unsere Lage nicht noch zu verschlimmern. Denn was ich eben anführte, ist in keiner Weise übertrieben. Die Tatsache schwerster Vererbung steht fest. ›Es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären.‹ Wer aber ihr Hehler wird oder die Warnung versäumt, macht sich der gleichen Schuld teilhaftig, wir haben eben Pflichten, die scheinbar nur unsre kleine Umwelt betreffen, die aber weit über den eignen engen Kreis hinausgehen, weil sie von höchster sozialer, sittlicher und – ewiger Bedeutung sind.«

Sie schüttelte halb entsetzt, halb verständnislos den Kopf.

»Von ewiger Bedeutung?«

»Ja, gewiß, gnädige Frau! Und nun verzeihen Sie, wenn ich schon wieder persönlich werde.« Warm und herzlich klang's. Aus jedem Wort sprach wahrhaftige Menschenfreundlichkeit. »Sie wollen Ihr Christentum doch nicht nur im Munde führen? Sie gehen zur Kirche, Sie sind in allen möglichen Vereinen und wohltätigen Veranstaltungen, ist das alles nur Firnis? Sie verurteilen jedes Sittlichkeitsverbrechen, jeden Mord! Ist es etwa kein Mord, wenn ein ganzes Geschlecht, durch schwerste Blutvergiftung zum leiblichen und geistigen Siechtum verdammt, langsam dahinstirbt – was sage ich – bei lebendigem Leibe verfault? Ein Geschlecht, das berufen ist, Ewigkeitsarbeit zu tun und seine Kinder zu Gott zu führen? Ist das kein Mord, gnädige Frau? – Ich meine, jede andere Auffassung müßte man als geradezu gemeingefährlich bezeichnen! Darum wird sich auch kein Mann, dem Kopf und Herz auf der rechten Stelle sitzen, durch die Forderung des ärztlichen Zeugnisses beleidigt fühlen, im Gegenteil, er wird vor der Mutter den Hut abnehmen, die diesen Schritt tut. Denn sie fand den Mut dazu nicht nur um ihres Kindes, sondern um ihres Volkes willen. Nur ein weltfremder Eigenbrödler oder ein Ehrenmann zweifelhafter Art kann eine Beleidigung darin erblicken – ein Mensch mit gesunden Sinnen und reinem Gewissen nie!«

Die Baronin antwortete nicht. Blaß, mit zusammengepreßten Lippen saß sie da. Diese Auseinandersetzung ging über ihre Kraft. Dagegen war ja der Kampf mit Trautmann ein Kinderspiel! Daß der feine liebenswürdige Linde sich so entpuppen würde, hätte sie nicht für möglich gehalten. Wie konnte man derartig verallgemeinern und vor allem so persönlich werden! Er meinte es ja gut, aber streng genommen ging die Sache sie überhaupt nichts an. Daß solch traurige Vererbungen vorkamen, wollte sie gerne glauben, aber in ihren Kreisen gehörten sie doch zu den Seltenheiten. Niemals hatte sie von solch grauenhaften Dingen in vornehmen Familien gehört. Oder doch? Bewahre! Dann handelte es sich eben um etwas anderes. Wie viele schreckliche ansteckende Krankheiten gab es auf der Welt, von denen der Laie keine Ahnung hatte. Die Verantwortung wäre ja auch unerträglich gewesen. In dem Punkt ging der gute Linde überhaupt viel zu weit, besonders in seiner Vermengung zeitlicher und ewiger Werte. Es war doch ein Fehlgriff gewesen, ihn um die Annahme der Vormundschaft zu bitten. Und die Frau, die sich nicht in die Seele des kerndeutschen Mannes und wahrhaftigen Idealisten hineinversetzen konnte, dachte: ›Den Gang hättest du dir sparen können!‹ Aber jetzt mußte sie bleiben; er sollte nicht glauben, daß sie die Waffen streckte. Vielleicht setzte sie auch doch noch ihre Meinung durch, oder er gab zuletzt nach, trotz seiner Entgleisung von vorhin. Er konnte doch nicht ganz vergessen, daß er eine Dame vor sich hatte. Durch ihren vertrauensselig harmlosen Sinn schwirrte ein krauses sprunghaftes Spiel – –

Aber der Kämpfer für deutsches Volkstum gab seine Sache nicht so schnell verloren.

»Gnädige Frau,« begann er aufs neue, »Sie begründeten vorhin Ihre Ablehnung des ärztlichen Zeugnisses mit dem Hinweis auf ein zerstörtes Lebensglück und fügten hinzu: ›Meine Tochter würde daran zugrunde gehen!‹ Ist Ihnen jetzt klar, wer ihr Lebensglück, vorausgesetzt, daß Geschlechtskrankheit bei dieser Verbindung in Frage kommt, zerstören würde und woran Ihre Tochter zugrunde ginge? Ich weiß, ich erscheine Ihnen sehr hart, aber es ist meine heilige Pflicht, dem Irrtum, dem Sie verfallen sind, mit allen Mitteln entgegenzutreten. Darum müssen Sie mich anhören. Sie sind in mütterlichster Weise um Ihre Tochter besorgt. Ich möchte Sie daher gleich über einen Punkt beruhigen. Ein gut erzogenes, rechtzeitig aufgeklärtes Mädchen geht nicht an der ersten Enttäuschung im Liebesleben zugrunde. Dafür bürgt das feine gesunde Empfinden des reinen Weibes mit seiner Ablehnung des Gemeinen. Ich kann mich z. B. in Fällen, wo diese Dinge zutrafen, keines Selbstmordes erinnern. Wenn ich dagegen an eine durch Syphilis zerstörte Ehe denke – – –«

Forschend sah er sie an.

Das Gesicht zur Seite gewandt, kämpfte sie mit sich. Aber ihre Fesseln waren zu stark. Worte sprengten sie nicht. Dazu bedurfte es der ehernen Gewalt schwersten Erlebens.

Der feine Menschenkenner erkannte, was sich in der Seele der Frau abspielte, und ein tiefes Erbarmen erfaßte ihn. Was hätte er darum gegeben, ihr die Binde von den Augen reißen zu können!

Da hob sie den Kopf. Ihre Augen schimmerten feucht. Und dann kam's.

»Herr Professor, ich kann doch die reizende kleine Unschuld nicht zerstören! Frau Major Wächter, die doch gewiß maßgebend ist, denkt ebenso. Ihre Magna ist neulich im Stadtgarten in einer höchst bedenklichen Lage gewesen, aber meine Freundin klärt das Kind darum noch lange nicht auf.« Wie eine Entschuldigung klang's.

Da sah er, daß er umsonst gesprochen hatte. Er war am Ende seiner Geduld.

»Dann wird die reizende kleine Unschuld wohl bald daran glauben müssen!«

Sie blickte ihn scheu von der Seite an. »Aber, Herr Professor, Sie verlangen doch nicht im Ernst, daß ich mit meiner Asta von Geschlechtskrankheiten spreche? Ich kann mir nun einmal nicht helfen, ich finde das einfach unanständig! Von so etwas spricht man überhaupt nicht!«

»Soll das heißen, daß Sie eine sachliche Unterhaltung über Dinge, die aus sittlichen Gründen erörtert werden müssen, für unanständig halten?« sagte er scharf. »Dann wundere ich mich, daß Sie noch bei mir sind!«

Sie biß sich auf die Lippen, fand aber keine Entgegnung.

»Unsittlichkeit und Laster können mich nur beschmutzen, wenn ich ihnen selber fröne oder ihr Helfer bin,« fuhr er fort, »niemals, solange ich sie verabscheue und andere davor zu bewahren suche. Es ist mir daher unerfindlich, wie ein sittlich denkender Mensch so urteilen kann.«

»Wer Dreck anrührt, besudelt sich,« rief sie unüberlegt.

Die dunklen Augen Siegfried Lindes flammten sie an. »Bitte sehr, gnädige Frau! Das ist kein Dreckanrühren, wenn ich als Mutter oder Volksfreund oder Arzt oder einfach als Mensch auf ein abgrundtiefes Verderben Hinweise! Sie verdrehen das Sprichwort! Nicht was Sie dafür halten, ist unanständig, sondern die Vogelstraußpolitik, die Sie Ihren Kindern und Ihrem Volke gegenüber treiben, ist im höchsten Grade unsittlich!«

Sie fuhr auf. »Aber Herr Professor, ich muß doch sehr bitten!«

Er beachtete ihren Einwurf nicht. »Ihre Auffassung ist mir hundertmal begegnet!« Er lachte bitter. »Es gibt Damen, die es fertig bringen, kein Sittlichkeitsblatt anzurühren, geschweige einen derartigen Vortrag anzuhören, weil sie allen Ernstes glauben, sich dadurch zu verunreinigen. Wie sie ihrem Volke auf diese Weise helfen wollen, ist mir allerdings schleierhaft! Sonderbare Menschenfreundlichkeit und noch sonderbareres Christentum!«

Wieder sah er sie an. Die eben noch so erregten Züge hatten etwas Undurchdringliches. Aber er ließ sich nicht irre machen. Panzerte sie sich gegen die Wahrheit, so sollte sie sie wenigstens anhören. Warum nahm sie seine kostbare Zeit in Anspruch? Nun sollte sie ihn auch kennenlernen. Befaßte er sich mit so hochwichtigen Fragen, so geschah's gründlich. Niemand sollte ihm vorwerfen, er habe sie ungewarnt gelassen. Und ohne sich durch ihr verbissenes Gesicht abschrecken zu lassen, fuhr er fort: »Was das unverdorbene gesunde Geschlechtsleben anbetrifft, so vertrete ich, wie gesagt, erst recht diesen Standpunkt. Das Natürliche an sich ist rein und bleibt rein. Trete ich mit unreinen Sinnen an die Natur heran, so bin ich selber daran schuld, wenn sie ihre Reinheit und Frische für mich verliert und mir unnatürlich erscheint. Ich wies vorhin schon darauf hin, daß eine alte Schule für diese Verbildung besonders des weiblichen Charakters verantwortlich gemacht werden muß. Daher das Zurückschrecken vor der Berührung von Fragen, über die unsre Jugend die Wahrheit erfahren muß, wenn sie nicht ein Opfer des Lasters werden soll. Man darf schon kleine Mädchen nicht ganz ungewarnt lassen, geschweige eine angehende Frau und Mutter. Ich stehe auf dem Standpunkt, jüngeren Kindern nicht etwa den Unsinn vom Storch aufzubinden, sondern ihnen an Hand der Naturgeschichte die Entstehung des Menschen im Ei zu erklären. Das genügt für ihr kindliches Verständnis. Der Zeugungsakt wird nicht berührt. Auf diese Art bleibt ihnen das Reine rein, während jede Geheimniskrämerei die Neugier reizt und zu falschen Vorstellungen führt. Aufklärungen durch Dienstboten oder sonstige ungeeignete Personen sind die Folge.«

Er schwieg. Ein paarmal hatte er sich gefragt: ›Hört sie überhaupt zu?‹ Aber dann sah er die schwer verhaltene Erregung in ihrem Gesicht, sah sie heftig den Kopf schütteln: »Da kann ich nicht mit!«

»Halten Sie das wirklich für unanständig?« fragte er.

»Ja, allerdings. Was sollen Kinder von ihrer Mutter denken, wenn sie solche Sachen mit ihnen bespricht, Herr Professor?«

»Ja, gnädige Frau, wenn Sie nicht von dem Gedanken abzubringen sind, daß Ihrer Frauenehre durch die Forderung einer der ersten mütterlichen Pflichten zu nahegetreten wird, so hört meine Weisheit allerdings auf.«

»Bedenken Sie doch, Herr Professor, meine Asta ist wie eine Blume aufgewachsen,« rief sie weinerlich. »Sie ist mit ihren neunzehn Jahren das reine Kind!«

»Liebe gnädige Frau, gerade das bedenke ich. Sie aber vergessen immer wieder, daß Ihre Tochter in einer unvorsichtig geschlossenen Ehe mit neunzehn Jahren unheilbar geschlechtskrank werden kann.«

»Ja – aber das trifft hier doch gar nicht zu. Assessor Freiland ist solch ein anständiger Mensch, den ich seit Jahren kenne. Ich fand es darum auch einfach unmöglich, das ärztliche Zeugnis zu verlangen.«

»Ja, glauben Sie denn, daß ich als Vormund darauf verzichten würde? Ich würde mit derselben Bestimmtheit wie Trautmann auf dem Zeugnis bestehen, einerlei, ob der betreffende Herr Müller oder Schulz oder Freiland heißt.« Er strich über die Tischplatte. »Im übrigen, gnädige Frau, muß ich Ihnen zu meinem Bedauern erklären, daß ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann, weil unsre Grundsätze weit auseinandergehen. Wir drehen uns ja doch nur im Kreise – Sie werden das ja selber einsehen.«

»Aber, Herr Professor!«

Er zuckte die Achseln. Da stand sie auf und reichte ihm die Hand. »Es tut mir leid, daß wir uns nicht einigen können, aber ich hoffe, Sie verstehen, daß ich nicht anders handeln kann.« Ihre Lippen zuckten.

Er sah ihr voll ins Gesicht.

»Nein, das verstehe ich nicht, gnädige Frau! Wenn die Wahrheit klar auf der Hand liegt, schäme ich mich nicht, einen Irrtum einzusehen.«

Sie senkte den Kopf.

»Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie keine allzu schweren Erfahrungen machen,« sagte er, sie zur Tür geleitend.

Dann war er allein.

Mitten im Zimmer stand er und reckte die kräftigen Glieder.

»Donnerstag und Freitag, das war steiniger Boden!«

Er sah auf die Uhr. Fünf!

Und beide Wartezimmer saßen voll.


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