Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.
Dem Ziele nah

»Ruth!« Robert Brierly sprang mit all' seiner früheren Elastizität die wenigen Stufen zur Veranda hinauf, wo das junge Mädchen mit einem Buch beschäftigt allein saß. Er ließ sich an ihrer Seite auf einem Holzschemel nieder. »Ruth, ich habe soeben ein Billett von Ferrars erhalten,« sagte er in unterdrückter Erregung. »Er scheint seinen Plan geändert zu haben, denn er will, daß ich Herrn Meyers begleite.«

»Heute?«

»Ja. In einer halben Stunde.«

Ruth schüttelte verwundert den Kopf. »Wie sonderbar, nachdem er so vorsichtig gewesen ist!«

»Ich will Dir sein Schreiben vorlesen,« entgegnete Robert, das Briefchen hervorziehend; »es ist sehr kurz und bündig. Hör' zu:

Lieber Brierly! Kommen Sie mit Meyers, aber sorgen Sie, daß Sie nicht beobachtet werden, wenn Sie Herrn Haynes Bureau betreten. Er wird schon wissen, was mit Ihnen zu tun. Wenn ich nicht der ärgste Stümper in meinem Berufe bin, so werden Sie noch heute ein freier Mann sein, der ungehindert ohne Furcht vor Mörderdolchen seines Weges gehen kann und der in den Besitz seines Eigentums – eines großen Vermögens – gelangt ist.

Ferrars.«

»Ruth,« fragte Brierly zögernd, als er zu Ende gelesen, »verstehst Du, was das heißen soll?«

»Besser wie Du,« entgegnete sie mit heißen Wangen. »Deine Gedanken waren so völlig damit beschäftigt, Charlies Mörder zu finden, daß Ferrars Dir nicht noch eine neue Aufregung verursachen wollte. Überdies ließ sich ja auch nichts Bestimmtes sagen, bis Herr Meyers hier in England weitere Nachforschungen angestellt hatte. Aber eine Ahnung hattest Du doch davon?«

»O gewiß, teilweise durchschaute ich auch ihre wohlgemeinte List. Wird es ein großes Vermögen sein, Ruthie?« Er fragte es zaghaft, indem er ihre Hand ergriff.

»Ein sehr großes,« versicherte sie.

»Wenn es das ist,« entgegnete er, »so werde ich es Dir in aller Eile, in aller Unterwürfigkeit zu Füßen legen.«

Mit einer heftigen Bewegung entriß ihm Ruth ihre Hand und schob ihren Stuhl von ihm fort. »Robert Brierly,« rief sie mit flammendem Blick, »wenn Du es wagst, mir ein Vermögen anzubieten, wenn Du erst um mich wirbst, nachdem Du jenes verhaßten Geldes sicher bist, dann heirate ich Dich nicht! Nein! Niemals!«

Sie sprang auf, doch er kam ihr zuvor und hielt sie zurück. »Ruthie! O, Du sollst mir nicht entschlüpfen, denn noch in dieser Minute werbe ich um Deine Hand. Angesichts solch einer Drohung muß ich mich vorsehen. Und wenn Du doch fortläufst, rufe ich es Dir laut nach, daß Frau Meyers und Hilda es im Zimmer hören. Schnell, Geliebte, willst Du die Meine werden? Ich lasse Dich nicht los, bis Du ja gesagt hast.«

Ruth lachte jetzt hell auf. »O Du kleiner Esel!« rief sie scherzend. »Als ob wir nicht schon seit Jahren verlobt gewesen wären! Ich wenigstens war es.« –

Eine halbe Stunde später stand Ruth zum Ausgehen angekleidet vor ihrem Verlobten, der sich anschickte, mit Herrn Meyers in die City zu fahren.

»Nun, wohin Ruth?« fragte der Advokat.

»Ich gehe mit Ihnen,« lautete die entschlossene Antwort. »Reden Sie es mir nicht aus, ich will gehen. Herr Ferrars dürfte auch nichts gegen mein Kommen einzuwenden haben, denn – er wird mich gebrauchen können.«

Und so fuhren sie gemeinsam zur Stadt.

Rechtsanwalt Haynes saß bereits um halb zwei vor seinem Schreibtisch, während schräg über an einem kleineren, halb durch einen Ofenschirm verdeckten Pult eine zweite Person saß. Nicht weit von ihr befand sich das mit grünen Vorhängen versehene Bücherregal, hinter dem sich eine Tür in den Nebenraum öffnete.

Als Ferrars gekommen war, ohne sich unkenntlich gemacht zu haben, hatte sich Haynes darüber gewundert. »Es ging nicht,« erklärte ihm der Detektiv. »Ich habe inzwischen Entdeckungen gemacht, die mir ermöglichen, eine unangenehme Angelegenheit rasch zu erledigen. Eine Verkleidung würde mir jedoch dabei hinderlich sein.«

Er begab sich dann in das Zimmer hinter dem Büchergestell, wo er Meyers, Brierly und Ruth Glidden traf. Letztere trat rasch auf ihn zu. »Herr Ferrars,« sagte sie so leise, daß nur er es verstehen konnte, »es fiel mir im letzten Augenblick ein, ich könnte hier von Nutzen sein, da sie allein kommt. Sie vertrauen mir doch?«

Ferrars drückte ihr die Hand. »Ich danke Ihnen für diese Vorsorge und vertraue Ihnen unbedingt.« Er besprach sich noch mit Meyers und Brierly und kehrte alsdann zu Haynes zurück, um seinen Platz an dem schmalen Pult einzunehmen.

Am Morgen schon hatte er dem Inspektor Hirsch mitgeteilt, wo ihn etwaige Telegramme während des Tages treffen konnten. Eine Viertelstunde vor der mit Frau Latham verabredeten Zeit traf eine Meldung von Hirsch ein. »H. L. und eine Dame auf dem Weg zu Dr. Haynes.«

»So – so!« nickte Ferrars, dann wandte er sich zu dem Anwalt. »Ist Ihr Bureaudiener zuverlässig?«

»Durchaus.«

»Dann instruieren Sie ihn bitte, eine Handvoll Polizisten herzuschaffen, sobald er den nächsten Besucher hereingelassen hat. Die Dame kommt nämlich nicht allein – sie bringt den Mann mit. Aus welchem Grunde weiß ich nicht. A propos, wohin führt die Tür aus dem Hinterzimmer?«

»In einen Seitenkorridor.«

»Gut. Sobald die Erwarteten hier sind, werde ich von dort hinausschlüpfen, um zu sehen, ob mein Vertrauensmann auf seinem Posten ist.«

Der Bureaudiener meldete jetzt Frau Latham und rasch begab sich Ferrars an sein Pult, sich geflissentlich im Schatten haltend. Die Dame, die nun eintrat, war ganz in Grau gekleidet. Sie trug das weiße Haar hochgesteckt, wodurch das Gesicht länglich erschien. Die anscheinend dunklen, tiefliegenden Augen waren von einer goldgeränderten Brille verdeckt. Durch den feinen grauen Schleier sah man einen leicht eingefallenen Mund, auch einzelne Runzeln; Kinn und Wangen aber zeigten noch jugendliche Rundung. Sie hatte eine starke Figur, die auch unter dem mit Stahlperlen verzierten Mantel, den eine dicke Halsrüsche abschloß, hervortrat. Auf dem hochfrisierten Kopf saß ein zierliches Pariser Hütchen aus Veilchen und Stahlperlen und die schmalen Hände steckten in tadellos sitzenden perlgrauen Handschuhen.

»Ich habe mir erlaubt, den Bruder meines verstorbenen Gatten mitzubringen, Herr Haynes,« sagte sie nähertretend, und ihren Begleiter vorstellend fügte sie hinzu: »Herr Harry Latham.«

Der große, brünette Mann hinter ihr trat vor und reichte dem Advokaten mit weltmännischer Höflichkeit die Hand. »Meine Schwägerin glaubte, man würde meiner vielleicht betreffs der Identifizierung bedürfen. Ich hoffe, daß meine Anwesenheit Sie nicht stört, anderenfalls – –«

»Sie sind durchaus willkommen, mein Herr,« fiel Haynes rasch ein. »Bitte, nehmen Sie Platz! Wir werden die kleinen Formalitäten bald erledigen. Sie haben doch die Papiere mitgebracht, Frau Latham?«

Die Dame, die während seines Gespräches mit ihrem Schwager einen mißtrauischen Blick auf den wenig sichtbaren Schreiber geworfen hatte, entnahm einer kleinen Tasche, die sie bei sich führte, ein Bündel Papiere, sie auf den Schreibtisch legend. Diesen Augenblick benutzte der Advokat, seinen Schreiber zu entlassen, der sich so eilends durch die Tür neben seinem Pult entfernte, daß Frau Latham keine Gelegenheit hatte, sein Gesicht zu sehen. Sie setzte sich Haynes gegenüber, griff nach dem Päckchen, dessen Umschnürung sie löste, und die Blätter einzeln dem Anwalt reichend, sagte sie: »Hier sind alle nötigen Beweisstücke, mein Trauschein sowie der meiner Mutter, verschiedene Familienpapiere, Briefe, die sich auf Privatangelegenheiten der Prisleys beziehen, eine Testamentsabschrift des ersten Hugo Prisley und eine solche meines Großvaters. Sie werden finden, daß die Papiere vollgültig und in Ordnung sind. Aus formellen Gründen würden Sie dieselben vielleicht prüfen wollen?« fügte sie mit fragendem Blick hinzu.

Der Anwalt nahm eines der Blätter und durchflog die erste Seite.

»Darf ich mir die Frage erlauben,« mischte sich Harry Latham ein, »wie bald – vorausgesetzt, daß alles stimmt – meine Schwägerin in den vollständigen, unbestrittenen Besitz der Erbschaft gelangen kann? Meine Zeit ist nämlich sehr in Anspruch genommen und –«

»O, ich glaube, nach dem heutigen Tage wird man Ihrer nicht mehr bedürfen,« unterbrach ihn Haynes, »und wenn die Erbberechtigung Ihrer Schwägerin erwiesen ist, kann die Dame sofort Besitz von ihrem Eigentum ergreifen. Madame,« wandte er sich zu Frau Latham, »würden Sie mir wohl erklären, weshalb Sie Ihre Ansprüche auf solch eine glänzende Erbschaft nicht früher geltend gemacht haben?«

»Das ist eine lächerliche Frage,« erwiderte sie mit halbem Lächeln. »Ich hielt mich anfangs gar nicht für erbberechtigt, da ein gewisser Hugo Prisley der Jüngere und dessen Erben das Vorrecht hatten. Ich wartete daher ab, ob sich dieselben melden würden, da ich nicht beanspruchen wollte, was mir nicht zukam.«

»Und Sie glauben, daß besagte Erben nicht mehr existieren? Selbstredend müssen dafür die Beweise erbracht werden.«

»Natürlich!« gab sie mit leichter Verlegenheit zu. »Ich habe weder Mühe noch Unkosten gescheut, um Gewißheit zu erlangen. Mit Hilfe einiger Freunde ließ ich auch in Amerika nachforschen, wohin Hugo Prisley vor Jahren gegangen war. Man hat nie wieder von ihm gehört.«

»Erhielten Sie völlige Sicherheit über das Schicksal der amerikanischen Nachkommen Hugo Prisleys?«

»Ja. Durch einen Zufall hörten wir von einem Gliede dieser Familie und konnten so die Spur weiter verfolgen. Es waren noch drei Personen vorhanden, eine Mutter mit zwei Söhnen. Sie starb bereits vor Jahren.«

»An Schwindsucht,« ergänzte Harry Latham.

»Ganz recht,« bestätigte seine Schwägerin. »Die beiden Söhne starben ebenfalls rasch hintereinander.«

»Ah! Und Sie können deren Tod nachweisen?«

»Wenn nötig, sehr leicht,« lautete die kaltblütige Antwort.

»Dann bleibt nur noch eine, Sie betreffende Frage,« erklärte Haynes. »Für den Fall, daß Ihre Ansprüche bestritten würden – könnten Sie über jeden Zweifel erhaben beweisen, daß Sie Bessie Cramer und der letzte Sprößling der englischen Prisleys sind, daß Ihre Mutter eine geborene Prisley war?«

»Selbstverständlich!«

»Sie könnten auch beweisen, daß Herr Gaston Latham nur einmal verheiratet gewesen ist?«

Statt Frau Latham antwortete ihr Schwager. »Würde Ihnen mein Wort, als des einzigen Bruders ihres Gatten, der Zeuge der Trauung war, genügen? Ich kannte Bessie Cramer schon als ganz junges Mädchen.«

Ohne diese Worte zu beachten, wandte sich Haynes zu seiner Klientin. »Ich bedaure Ihnen sagen zu müssen, Madame, daß die amerikanischen Erben sich inzwischen gemeldet haben.«

»Es sind keine vorhanden,« behauptete Frau Latham.

Haynes zuckte die Achseln. »Erst gestern erhielt ich den Besuch eines amerikanischen Advokaten, eines Herrn Meyers. Kennen Sie ihn?«

»Ich kenne überhaupt keine Amerikaner,« erwiderte die Dame in schroffem Ton.

»Sie waren auch nie jenseits des Ozeans?«

»Nein.«

»Nun – Herr Meyers hat Ansprüche erhoben!«

»Für wen?«

»Für – ich glaube der Name ist Brierly. Doch – es wäre wohl das beste, Sie hörten den Herrn selbst.« Er drückte auf die Klingel neben seinem Schreibtisch und befahl dem eintretenden Bureaudiener, Herrn Meyers hereinzubitten.

»Hier muß eine Täuschung oder ein Irrtum vorliegen,« mischte sich Harry Latham wieder ein. »Die Brierlys sind tot.«

»Jawohl!« stimmte seine Schwägerin bei. »Das kann bewiesen werden.«

»Desto schlimmer für Herrn Meyers und seine Ansprüche,« bemerkte Haynes gelassen.

»Wozu ist es nötig, daß ich ihn sehe?« fragte die Dame ungestüm.

»Das läßt sich nicht umgehen,« erklärte der Anwalt. »Er ist der Vertreter der Erben und besteht auf den erhobenen Ansprüchen.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Advokat Meyers trat, den Hut in der Hand, ins Zimmer.

*

 


 << zurück weiter >>