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Elftes Kapitel.
Ueberlistet

Der Mai war vorüber, die Junirosen standen in voller Blüte. Eine drückende Schwüle lastete auf der Stadt und machte den Aufenthalt in den Straßen fast unerträglich. Vielleicht war es diese Schwüle, vielleicht auch ein anderer Grund, weshalb Robert Brierly so müde und abgespannt aussah, als er die Junggesellenwohnung Ferrars betrat. Die beiden in Charakter und Lebensstellung so verschiedenen Männer hatten sich eng befreundet, trotzdem das Geheimnis, das Charles Brierlys Tod umgab, noch ebenso unaufgeklärt war wie in den ersten Tagen nach dem tragischen Vorfall.

»Eh, Brierly, was führt Sie bei dieser tropischen Hitze hierher?« fragte Ferrars, der bequem in einem Schaukelstuhl saß, eine Havanna rauchend.

Der Angeredete warf seinen Strohhut aufs Sopha, setzte sich dem Detektiv gegenüber und erwiderte unvermittelt:

»Ich möchte mich eigentlich nicht mit Ihnen zanken, Ferrars, allein mich quält etwas, worüber ich eine Erklärung von Ihnen verlangen muß.«

»Von mir?« entgegnete Ferrars gleichmütig. »Na, denn nur heraus mit der Sprache!«

Brierly räusperte sich. »Hm – wissen Sie, Ferrars, daß ich seit meiner Rückkehr von Glenville beständig überwacht werde?«

»Überwacht?« wiederholte der Detektiv scheinbar erstaunt. »Wieso?«

»Nun, irgend jemand beobachtet mich, verfolgt mich Tag und Nacht.«

»Pah! Einbildung!« lachte Ferrars.

»Durchaus nicht,« widersprach Brierly. »Und das ist noch nicht alles,« fuhr er fort, sein Gegenüber scharf fixierend, als wolle er die Wirkung seiner Worte beobachten, »ich habe entdeckt, daß ich von verschiedenen Seiten überwacht werde.«

Ferrars Gesicht blieb undurchdringlich. »Wollen Sie sich nicht etwas deutlicher erklären?« fragte er gelassen.

»Nun gut. – Sie sollen alles erfahren. Anfangs, als ich von Glenville zurückkehrte, ging ich wenig aus; nachher jedoch bemerkte ich, besonders des Abends, daß mir jemand nachging.«

»Wann war das?«

»Etwa eine Woche nach meiner Rückkehr. Ich ging eines Abends in den Lyceum-Klub. In der Nähe des Einganges lungerte ein Mensch herum, der mir für den Augenblick auffiel. Er stand noch dort, als ich nach kurzer Zeit wieder herauskam.«

»Wahrscheinlich ein Vagabund.«

»Möglich. Zwei Bekannte, denen ich begegnete, nötigten mich, mit ihnen in den Klub zurückzukehren und so wurde es ziemlich spät, bis ich den Heimweg antrat. In die stilleren Straßen gelangt, merkte ich, daß mir jemand auf der anderen Trottoirseite nachging und als der Betreffende an einer Laterne vorüberglitt, erkannte ich denselben Mann, der schon einige Stunden früher am Eingang des Klubs gestanden hatte.«

»Haben Sie ihn seitdem wiedergesehen?«

»Ihn oder einen anderen. Bei Nacht kann man sich ja leicht unkenntlich machen. Auf jeden Fall werde ich beständig überwacht und verfolgt.«

»Können Sie sich den Grund dazu denken?« warf Ferrars ein.

»Leider kann ich ihn nicht erraten,« lautete die ärgerliche Antwort. »Vielleicht ist es ein ähnlicher wie der Ihrige, denn Sie suchen mich geflissentlich von allem fern zu halten, wenn ich nicht in Ihrer oder John Meyers Begleitung bin. Habe ich nicht recht? Stehe ich nicht geradezu unter Ihrer und Meyers Vormundschaft?« Brierly stieß die letzten Worte in fast heftigem Ton hervor.

Ferrars bemerkte recht gut die Mißstimmung des jungen Mannes, blieb jedoch völlig ruhig. »Erlauben Sie mir mal erst eine Gegenfrage,« sagte er sich vorbeugend. »Betrachten Sie John Meyers als Ihren erprobten Freund?«

»O ja, in des Wortes vollster Bedeutung.«

»Und glauben Sie auch, daß ich trotz meines scheinbaren Mißerfolges all' meine Zeit, Gedanken und Kräfte Ihrer Angelegenheit gewidmet habe?«

»Gewiß, ich weiß das,« versicherte Brierly. »Sie haben Ihr Möglichstes für mich getan. Doch nun beantworten Sie mir die eine Frage, die mich unablässig quält: »Weshalb werde ich von allen Seiten ausspioniert, beobachtet, verfolgt? Warum lassen auch Sie und Meyers mich nicht aus den Augen? Vor einigen Wochen konzentrierte sich Ihr ganzes Interesse auf Glenville; dort suchten Sie die Anhaltspunkte, die Lösung für das schreckliche Ereignis, und doch sind Sie seit Ihrer Rückkehr hierher nicht ein einzigesmal wieder hingegangen, – selbst nicht für Ihre persönlichen Interessen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Ferrars, sich in seinen Sessel zurücklehnend.

»O, Sie wissen recht gut, was ich meine,« entgegnete Brierly mit leichter Verlegenheit. »Entschuldigen Sie meine Indiskretion, aber mir schien, daß Sie sich lebhaft für Frau Jamieson interessierten.« Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er hastiger fort: »Ich – ich habe soviel über Ihre und Meyers Handlungsweise nachgegrübelt, daß ich mir schließlich eingeredet habe, Sie hätten mich im Verdacht.«

Bei dieser Erklärung sprang Ferrars jäh von seinem Sitze auf.

»Mensch, haben Sie den Verstand verloren? Wie kommen Sie auf solch hirnverbrannten Gedanken? Geradezu lächerlich! Und was mein Interesse für Frau Jamieson anbetrifft, so leugne ich dasselbe zwar nicht, gebe Ihnen aber die Versicherung, daß alle meine persönlichen Gefühle und Interessen zur Zeit hinter der Erledigung Ihrer Angelegenheit zurückstehen müssen. Ich verließ Glenville nur, um Ihnen zu folgen und aufzupassen, damit Sie meine Pläne nicht durch irgend eine Unbesonnenheit verdürben.«

»Ich bin Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet,« gestand Brierly zu, »obgleich ich immer noch nicht verstehe, weshalb Sie mich geradezu mit einer Mauer umgeben.«

Ferrars lachte leise vor sich hin, indem er seinen Platz wieder einnahm. »Sie haben die Situation ganz richtig bezeichnet, Brierly,« sagte er. »Wir wollten eine Mauer aufrichten, zwischen Ihnen und dem Schurken aufrichten, der Ihren Bruder ermordet hat. Still! Lassen Sie mich ausreden! Sie erzählten mir doch einmal, Ihr Bruder sei von Straßenräubern überfallen worden, kurz ehe er nach Glenville ging.«

»Ja.«

»Nun sehen Sie – das wurde mein erster Fingerzeig. Es bestätigte eine der wenigen Schlußfolgerungen, die auf den Fall zu passen schienen. Ich war meiner Sache jedoch noch nicht sicher, denn in Glenville fand ich keine Beweise für meine Vermutung. Trotzdem zog ich Herrn Meyers ins Vertrauen, teilte ihm meine Wahrnehmungen mit und bewog ihn, Sie nicht aus den Augen zu lassen, bis ich selbst hierher kam.«

»Doch weshalb? Weshalb?« unterbrach ihn Brierly ungeduldig.

»Weil ich glaubte – und auch jetzt noch glaube, daß jener Straßenräuberüberfall ein erster Anschlag gegen das Leben Ihres Bruders war. Meiner Ansicht nach muß der verbrecherische Plan von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Vielleicht war's ein Racheakt, vielleicht die Folge eines Familienzwistes. Wie schon bemerkt, das Motiv konnte ich bisher nicht ergründen, wohl aber sagte ich mir, das Drama sei noch nicht zu Ende. Deshalb folgte ich Ihnen hierher. Und ich bin froh, daß ich es tat, denn bevor ich noch achtundvierzig Stunden Ihr Schatten gewesen war, hatte ich den Beweis, daß Sie von anderer Seite beobachtet und verfolgt wurden. Ich habe mir viel Mühe gegeben, dem Manne nachzuspüren, der Sie – jedenfalls in feindlicher Absicht – überwacht.«

»Und – was fanden Sie?« fragte Brierly gespannt.

»Es ist entweder der Mörder selbst oder sein Helfershelfer.«

»Großer Gott!« rief Brierly bestürzt aus. »Aus welchem Grunde stellt der Mensch mir nach? Ahnen Sie es nicht?«

Ferrars zuckte die Achseln. »Wir können uns viele Gründe ausdenken, ohne den richtigen zu finden. Ich habe aber das Gefühl, als müsse die eigentliche Ursache in Ihrer Familiengeschichte – väterlicher – oder mütterlicherseits – zu entdecken sein.«

Über diesen Punkt konnte Brierly ihm nicht die geringste Auskunft geben, da er sich nie für die Familienchronik interessiert hatte. So gab Ferrars es auf, näheres von ihm zu erfahren. Ehe Brierly sich verabschiedete, stellte er noch eine Frage an den Detektiv. »Ist der Mann, der mich von Ihrer Seite aus bewacht, einer von Ihren Bluthunden? Er hat mich schon mehr als einmal mit seinen aufdringlichen Beobachtungen geärgert.«

Ferrars lachte. »Jawohl, Hicks ist mein Mann oder, wie Sie es so schön bezeichnen, mein Bluthund, er liegt Tag und Nacht auf der Lauer.«

Brierlys Gesicht verfinsterte sich. »Der Gedanke, in solcher Weise umstellt zu sein, ist mir schrecklich,« sagte er in mißmutigem Ton. »Wollen Sie der Sache nicht ein Ende machen, Ferrars? Ich bin ja jetzt gewarnt und vermag mich selbst zu schützen. Sie täten mir wirklich einen Gefallen, wenn Sie Hicks abberufen und Ihre kostbare Zeit anderen Dingen widmen wollten. Lieber sperre ich mich ein, als mich so unter Kuratel zu wissen. Hält man mich denn für solch einen Feigling oder Dummkopf, daß ich nicht mit einem im Hinterhalt lauernden Gegner fertig würde?«

Diese Rebellion kam Ferrars recht ungelegen; dennoch gab er dem Verlangen des jungen Mannes nach, denn er sagte sich, Brierly sei kein Kind und fühle sich vermutlich in seiner Ehre gekränkt. Er berief also Hicks von seinem Posten ab, war aber nicht wenig überrascht, zu entdecken, daß auch der feindliche Wächter zu gleicher Zeit verschwand und sich volle acht Tage nicht sehen ließ.

Noch sann er über dieses Manöver des versteckten Gegners nach, als der gefürchtete Schlag wie ein Blitz aus heiterem Himmel niederfiel.

Es war ein Sonntagabend. In der aristokratischen Straße, in der John Meyers wohnte, herrschte sabbatliche Stille, nur hie und da ein Spaziergänger, der sich auf dem Heimweg befand.

Robert Brierly, den sein väterlicher Freund bei sich aufgenommen hatte, damit er sich nicht zu vereinsamt fühle, war an diesem Abend allein zu Haus, da die Meyers einen Besuch machten.

Brierly hatte dem Detektiv das Versprechen geben müssen, abends nie ohne Begleitung auszugehen oder in diesem Fall einen Wagen zu nehmen, der ihn an der Türe abholen mußte.

Nun waren am Morgen Briefe von Hilda und Dr. Barnes gekommen, über deren Inhalt er gern mit Ferrars gesprochen hätte. Da er ihn zudem seit vier Tagen nicht gesehen, so kam ihm der Gedanke, ihn aufzusuchen. Die Dienstboten hatten jedoch alle ihren freien Sonntag und Brierly hätte deshalb, laut der Abmachung, warten müssen, bis ein leerer Wagen oder ein Schutzmann als Begleiter am Hause vorüberkam. Dazu fehlte ihm aber die Geduld.

»Es wird mich wohl niemand fressen,« dachte er, »bis ich den nahen Droschkenstand erreicht habe.« Kurz entschlossen trat er auf die menschenleere Straße, mit beschleunigten Schritten seinem Ziele zusteuernd.

Er hatte nur erst ein kleines Stück Weges zurückgelegt, als ihm ein leerer Wagen entgegenkam, während an der nächsten Ecke ein Polizist auftauchte.

»Da sind sie ja beide!« murmelte Brierly beruhigt, indem er seine Schritte mäßigte. Inzwischen hatte sich ihm der Polizist genähert. »Entschuldigen Sie, mein Herr!« sagte er höflich grüßend, »sind Sie Herr Brierly?«

Der Angeredete bejahte.

»Kann ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen?« fuhr der Beamte fort. »Ich bin erst seit kurzem in diesem Viertel, muß Ihnen aber um Ihrer Sicherheit willen eine Mitteilung machen. Vielleicht gehen Sie ein paar Schritte mit mir, denn ich darf auf meiner Runde nicht stehen bleiben.«

Brierly warf einen unschlüssigen Blick auf den langsam vorüberfahrenden Wagen. »Ich muß zur Stadt,« sagte er zögernd, »und wollte die Droschke da nehmen.«

»O, das will ich gleich besorgen,« erbot sich der Polizist. »Heda, Johnny?« rief er dem Kutscher zu, »der Herr hier will in die Stadt. Drehen Sie um und folgen Sie uns. Und nun will ich Ihnen kurz berichten,« wandte er sich wieder zu Brierly. »Sehen Sie, seit einigen Wochen ist mir ein Mensch aufgefallen, der sich stundenlang hier herumtrieb und besonders Ihr Haus im Auge hielt. Er war von untersetzter Figur und wechselte häufig die Kleidung; ich erkannte ihn aber doch stets, weil ich ihn gleich von vornherein so scharf beobachtet hatte.«

»Können Sie sich nicht etwas kürzer fassen?« unterbrach ihn Brierly ungeduldig.

»Jawohl, mein Herr.« Der Polizist schaute sich um. »Der Kutscher folgt uns – alles in Ordnung. Also ich wollte Ihnen gerade erzählen, wie es uns gelang, den Burschen zu verhaften.«

»Ah!« Brierly lächelte in sich hinein, denn nun konnte er Ferrars das rätselhafte Verschwinden des Spions erklären. »Sie haben den Menschen hinter Schloß und Riegel?« fragte er den Beamten. »Das soll Ihnen etwas einbringen.«

»O, ich verlange keine Belohnung für eine einfache Pflichterfüllung,« lehnte der Polizist bescheiden ab. »Bitte, gehen Sie einen Schritt voran – es kommt jemand.«

Brierlys Gedanken waren so mit dem Gehörten beschäftigt, daß er mechanisch gehorchte. Kaum war er jedoch ein paar Schritte weiter gegangen, als man plötzlich einen schweren Fall und einen jähen Aufschrei vernahm; dann folgten drei Revolverschüsse sowie das Rasseln eines rasch fahrenden Wagens.

So schnell spielte sich dies ab, daß es nur einige Sekunden gedauert zu haben schien.

»Brierly, sind Sie stark verletzt?« Der Mann, der einen zweiten Schlag auf den Wehrlosen verhindert und den falschen Polizisten mit seinem Revolver in die Flucht gejagt hatte, beugte sich über die regungslose Gestalt des Überfallenen.

Der Lärm hatte die Bewohner der umliegenden Häuser herbeigelockt. Von allen Seiten schwirrten die Fragen durcheinander: »Ist er tot? Wie geschah es? War es ein Straßenräuber? Daß so etwas in diesem Viertel passieren konnte!«

Inzwischen war ein diensttuender Polizeibeamter herbeigeeilt. Das Licht seiner Laterne fiel auf den Mann, der den Kopf des Bewußtlosen stützte. »Der Überfallene ist Herr Robert Brierly,« sagte der Samariter; »er wohnt hier in der Nähe bei Advokat Meyers. Man muß ihn sofort hintransportieren. Und jemand könnte vorausgehen, Dr. Gleßner zu benachrichtigen – er wohnt Meyers gegenüber und ist jetzt zu Hause.«

»Wie ist das nur zugegangen?« fragte Meyers zwei Stunden später, als Ferrars von seiner Jagd nach dem Attentäter zurückgekehrt war und sich teilnehmend nach dem Verletzten erkundigte. »Wie konnte es geschehen trotz all unserer Vorsichtsmaßregeln?«

»Das kann ich Ihnen leicht erklären,« erwiderte Ferrars in ärgerlichem Ton. »Erstens weil der Feind mich überlistete und dann weil Brierly die Geduld verloren und sich unbesonnenerweise der Gefahr aussetzte.«

»Doch wie?«

Ferrars zuckte die Achsel. »Darüber habe ich nur Vermutungen. War er allein zu Hause?«

»Ja. Meine Frau und ich machten einen Besuch.«

»Er wollte wahrscheinlich in die Stadt fahren und da kein Dienstbote zur Hand war, ging er nach dem nahen Halteplatz. An der ersten Straßenecke traf er den Polizisten, den er, wie ich auch, für den Revierbeamten hielt. Sie sprachen zusammen, mieteten eine leere Droschke, die gerade des Weges kam und überschritten die Straße, wobei der Pseudopolizist eifrig sprach. Ich hatte schon längst befürchtet, daß hinter dem plötzlichen Verschwinden des Spions ein neuer Anschlag stecke und deshalb überwachte ich die drei letzten Abende persönlich Ihr Haus.«

»Ah, jetzt verstehe ich,« nickte Meyers.

»Als ich Brierly mit dem Polizisten weitergehen sah,« fuhr der Detektiv fort, »ahnte mir – ich weiß selbst nicht warum – nichts Gutes. Ich beschloß näher heran zu gehen und hatte eben den Wagen überholt, als der Kerl Brierly niederschlug. Sofort zog ich meinen Revolver hervor, doch schon hatte der Kutscher den andern durch einen Pfiff gewarnt. Er holte zwar noch zu einem zweiten Schlag aus, allein mein erster Schuß, dem noch zwei weitere folgten, trieb ihn in die Flucht. Er bestieg eilig die Droschke, die im Galopp davonjagte. Ob ich den Elenden getroffen habe, weiß ich nicht.«

»Man wird ihn aber sicher einfangen,« bemerkte Meyers. »Die Droschke dürfte zum Verräter werden.«

»Ich bin dessen gar nicht so gewiß,« widersprach Ferrars. »Es ist noch sehr die Frage, ob er gefaßt wird.«

»Wieso?«

»Weil er sicher noch einen zweiten Wagen in Bereitschaft hielt, den er benutzte, nachdem er unbemerkt der Droschke entschlüpft war.«

»Warum denken Sie das?«

»Hm – wenn ich mit einem schlauen Schurken zu tun habe, frage ich mich stets, was ich an seiner Stelle getan hätte. Und ich hätte es sicher so gemacht.«

Der Advokat wiegte den Kopf hin und her. »Es war nicht klug von uns gehandelt, daß wir Robert den Willen taten und ihn freigaben. Der arme Junge! Wie muß er's jetzt büßen! Wäre er nur vorsichtiger gewesen! Aber – am Ende ist's kein Wunder; er hatte die letzten Tage eine solche Unruhe in sich, daß es selbst meiner Frau auffiel.«

»Wissen Sie den Grund?«

»So ziemlich, Sie haben doch wohl schon von Ruth Glidden gehört?«

»Gewiß, die Familie spielt ja eine Rolle in der hiesigen Gesellschaft.«

»Nun, Ruth Glidden und die beiden Brierlys wuchsen wie Kameraden zusammen auf, da ihre beiderseitigen Eltern Nachbarn und eng mit einander befreundet waren. Der alte Glidden hätte seine Tochter gern einem der jungen Brierlys gegeben – allein das Schicksal trat – wie so oft im Leben – störend dazwischen. Der Vater der jungen Leute galt für reich und er war es wohl auch bis ein Jahr vor seinem Tode, als er durch den Krach einer Eisenbahngesellschaft große Summen verlor. Dies wäre nun vielleicht noch kein Hindernis für eine Verbindung zwischen Robert und Ruth gewesen, wäre nicht Glidden gestorben und das junge Mädchen, da es ganz verwaist war, zu einer Schwester ihres Vaters, einer hochmütigen, protzigen Frau, gekommen.«

»Wo ist Fräulein Glidden jetzt?« warf der Detektiv ein.

»Seit vorgestern hier in der Stadt. Sie verbrachte ein Jahr mit ihrer Tante in Europa, scheint aber Robert, dem sie von jeher ihre Neigung schenkte, nicht vergessen zu haben. Und nun kommt der casus belli. Die beiden Brüder besaßen jeder noch ein paar tausend Dollars. Charles – er war immer sehr vorsorgend für die Zukunft – hat seinen Anteil Fräulein Grant vermacht und Robert will das, was er besitzt, hergeben, um den Mord, der an seinem Bruder verübt worden ist, aufzuklären.«

Ferrars seufzte hörbar. »In diesem verzwickten Fall dürften leicht ein paar tausend Dollars draufgehen.«

»Dann ist's auch mit Roberts Liebesglück vorbei. In seiner Stellung als Journalist kommt er, mag er auch noch so tüchtig sein – ohne ein kleines Kapital als Rückhalt nicht sobald auf einen grünen Zweig. Er ist aber maßlos stolz und will selbst von mir, seinem ältesten Freund, keine Hilfe annehmen.«

»Das läßt sich denken,« nickte Ferrars. »Bei seinem Charakter! Und was das schlimmste ist, wir scheinen auch in der Untersuchung über den Tod seines Bruders noch um keinen Schritt weiter gekommen zu sein.«

»Halten Sie die Sache für verloren?« fragte der Advokat zögernd.

»Für verloren nicht,« entgegnete Ferrars, »aber – wir sind jetzt weiter vom Ziel entfernt als zuvor.«

*

 


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