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Erstes Kapitel.
Etwas nicht in Ordnung

Hell und freundlich schien die Maiensonne auf das malerisch an einem See gelegene Städtchen Glenville herab, das von der einen Seite von rauschenden Wellen umspült wurde, auf der anderen von grünen, sanftansteigenden Hügeln begrenzt war.

Um die siebente Morgenstunde herrschte noch wenig Leben in den stillen Straßen; nur die Schulkinder zogen einzeln und in Gruppen lustig springend oder lässigen Schrittes dem Schulhaus zu, das am Südende der Stadt auf einer kleinen Anhöhe in sicherer Entfernung von dem weidenumkränzten See stand.

Die Schule war eines der ersten öffentlichen Gebäude von Glenville gewesen und man glaubte damals, sie werde den Mittelpunkt des Ortes bilden. Wider Erwarten hatte sich der Flecken mit seinen fünfzig Häusern in kurzer Zeit um das Zwanzigfache vergrößert, – teilweise veranlaßt durch seine Benutzung als ruhige Sommerfrische für Erholungssuchende – und da diese Ausdehnung sich hauptsächlich nach der Nordseite zu vollzogen hatte, so war die Schule dadurch in eine völlig isolierte Lage geraten.

»Wollen wir sie nicht ›Die Akademie‹ nennen?« hatte Elias Robbin, der Erbauer des Schulhauses und einer der ersten Ansiedler von Glenville, vorgeschlagen. »Wer hätte was dagegen einzuwenden?«

»Niemand,« erwiderte John Rote, das Dorforakel.

»Akademie! Das klingt ausgezeichnet.«

Sie standen vor dem soeben fertiggestellten Gebäude, das in seiner Bauart und mit seinem hellen Anstrich einen ganz stattlichen Eindruck machte.

»Paßt mir auch!« bemerkte ein dritter und die guten Bürger hätten wohl einstimmig diese Bezeichnung für die Bildungsstätte der Glenviller Jugend gewählt, hätte nicht Pfarrer Ryder, dessen Rat man zuvor noch einholte, mit überlegenem Lächeln und ernstem Kopfschütteln erklärt: »Liebe Freunde, ich fürchte, das wird nicht gehen. Vorläufig ist Glenville nur erst ein Dorf; selbst die Bezeichnung Hochschule wäre nicht angebracht, ausgenommen in topographischer Hinsicht. Doch trösten wir uns! Glenville wird sich bald vergrößern und dann können wir auch höhere Titel für unsere Schule beanspruchen.«

In der Tat, das Wachstum des Ortes ließ nicht auf sich warten; trotzdem blieb die Schule eine Dorfschule, deren Lehrkräfte sich auf einen Lehrer und eine Unterlehrerin beschränkten.

Es war halb acht Uhr an jenem Maienmorgen. Die Kinder hatten sich schon vollzählig eingefunden, die jüngeren auf der Wiese spielend, die älteren die jugendliche Lehrerin umdrängend, die sich großer Beliebtheit bei ihren Schülern erfreute.

Johnny Robbins, ein hübscher, aufgeweckter Junge, stand neben der Glocke, das Seil in der Hand; es war seine Woche, das Zeichen zum Beginn des Unterrichts zu geben.

»Fräulein,« rief er der Lehrerin zu, »ich muß jetzt anfangen zu läuten. Herr Brierly sagte mir, ich solle nie länger als bis halb acht warten und so muß ich's wohl tun, wenn er auch noch nicht da ist.«

Kling, klang! Er zog kräftig an dem Seil, hielt aber plötzlich inne. »Die Uhr geht doch nicht falsch, Fräulein?« rief er abermals. »Herr Brierly ist noch nie später als dreiviertel acht gekommen.«

Die Lehrerin, Hilda Grant mit Namen, warf einen besorgten Blick auf die Straße, dann erwiderte sie: »Vielleicht fühlte er sich nicht wohl, Johnny, oder seine Uhr ist stehen geblieben. Jedenfalls wird er zum Morgengebet hier sein. »Komm Meta,« wandte sie sich zu einem der größeren Mädchen, »laß uns ins Haus gehen und die Hefte durchsehen.«

Eine Viertelstunde verstrich, während welcher Zeit Lehrerin und Schülerin emsig korrigierten. Nach zwanzig Minuten tauchte Johnny an der Türe auf; hinter ihm ein halbes Dutzend neugieriger Bubengesichter.

»Ist Herr Brierly gekommen, Johnny?« fragte Fräulein Grant.

»Nein. Soll ich nicht mal nachsehen – –«

Er war schon auf dem Sprung fortzulaufen, doch die Lehrerin hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Bleib hier, Johnny,« sagte sie. »Herr Brierly würde uns ja auslachen. Wir wollen noch bis neun Uhr warten.«

Wenig zufrieden mit diesem Bescheid zog sich die kleine Schar zurück, während Meta der Lehrerin zuflüsterte: »'s ist ihm sicher was passiert; ich ahn' es – – –«

»Unsinn!« wehrte Fräulein Grant ab, ging aber doch ans Fenster und rief einem kleinen Mädchen, das auf der Wiese spielte, zu: »Nellie Fry, komm mal hierher!«

Mit fliegenden Locken rannte der kleine A-b-c-schütze herbei. »Was soll ich, Fräulein?«

»Hast Du Herrn Brierly beim Frühstück gesehen?«

»Ja.«

»War er ganz wohl?«

»Ich glaube ja. Er sprach wie immer und aß auch viel. Mutter sagte es wenigstens.«

Fräulein Grant entließ die Kleine mit einem Kuß, setzte sich wieder an ihr Pult und korrigierte eifrig weiter, bis die Uhr gegenüber an der Wand die neunte Stunde verkündete und Johnny eilfertig ins Zimmer gestürzt kam.

»Soll ich jetzt läuten, Fräulein?«

»Ja,« erwiderte die Lehrerin mit entschlossener Miene, »läute, mein Junge, und dann lauf zu Frau Fry und frage sie, ob sie wisse, wo Herr Brierly sei. Halt' Dich aber unterwegs nicht auf.«

Das Schulhaus enthielt außer der Vorhalle und den Garderoben nur zwei Räume, eine Klasse für die jüngeren und eine für die älteren Schüler.

Während die Kinder, leise miteinander flüsternd, ihre Plätze aufsuchten und Johnny die Glocke läutete, trat Fräulein Grant an die Haustüre, mit besorgtem Blick die Dorfstraße entlangspähend. Es war aber niemand zu sehen.

»Hör' jetzt auf, Johnny,« rief sie dem Knaben zu, »und lauf rasch zu Frau Fry. Ich fürchte, Herr Brierly ist krank.«

»O, dann hätte er's sagen lassen,« bemerkte der Junge, nach seinem Hut greifend.

Mit einem unterdrückten Seufzer begab sich die Lehrerin in das Zimmer der größeren Schüler.

»Kinder,« sagte sie, während eine feine Röte ihr sonst bleiches Gesicht bedeckte, »Herr Brierly ist durch irgend etwas aufgehalten worden. Bis er kommt, werdet Ihr ruhig auf Euren Plätzen bleiben und Eure Aufgaben machen. Ich glaube mich darauf verlassen zu können, daß Ihr Euch so ordentlich betragt, als sei Euer Lehrer zugegen und daß Ihr keine Aufsicht braucht, während ich nebenan die Stunde gebe.«

Charles Brierly leitete seine Schüler mit Liebe und Freundlichkeit, und er erreichte mit diesem milden Regiment weit mehr als manche seiner strengen, unduldsamen Kollegen. Auch jetzt fügten sich die Kinder gehorsam den Worten der Lehrerin, die die Verbindungstüre zwischen den Klassen offen ließ und mit dem Unterricht der Kleinen begann. Inzwischen war Johnny zu Frau Fry, deren Häuschen mitten im Dorf stand, gelaufen und in unglaublich kurzer Zeit brachte er die Antwort zurück.

»Fräulein,« stieß er keuchend hervor, »er ist nicht dort. Frau Fry sagte, er sei vor acht zur Schule gegangen. Sie hat noch der Nellie ihr Haar gekämmt, als er fortging, und seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen.«

Hilda Grant verließ langsam ihr Pult und trat auf die Türschwelle zwischen den beiden Zimmern. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; nur mühsam vermochte sie ihre innere Erregung zu verbergen.

»Kinder,« fragte sie mit leicht vibrierender Stimme, »hat eins von Euch Herrn Brierly heute früh gesehen?«

Einen Augenblick herrschte lautlose Stille; dann schob sich ein hochaufgeschossener, einfältig aussehender Junge mit unbeholfener Bewegung zwischen den Bänken hervor. Er war schlecht gekleidet; aus den zu kurzen Rockärmeln hingen übermäßig lange Arme schlaff am Körper herab; die nach vorn stehenden Schultern ließen seine Haltung gebückt erscheinen und in den Augen lag ein halb blöder, halb furchtsamer Ausdruck.

Als er schweigend, aber mit offenem Munde auf die Lehrerin zuschritt, fingen die Kleinen an zu kichern.

»Still!« befahl Fräulein Grant streng, und sich zu dem Idioten wendend sagte sie in freundlichem Ton: »Komm zu mir her, Peter. Hast Du Herrn Brierly heute früh gesehen?«

»Hm – hm!« Der Junge blieb stehen und ließ den Kopf hängen.

»Wo sahst Du ihn?«

Peter deutete mit dem Finger in der Richtung nach dem See.

»Am See hast Du ihn gesehen?«

»Ja.«

»Um welche Zeit?«

»Vor Schule – eine Stunde.«

»War er weit fort?«

»Hm – ja. Am Indianerwall.«

»Was tat er denn dort?«

»Saß auf der Erde, guckte vor sich.«

»Fräulein,« unterbrach hier der etwas vorwitzige Johnny das Verhör, »er war sicher hingegangen um nach der Scheibe zu schießen; das tut er oft. Ob ihm da was passiert ist?« fügte er zögernd hinzu.

Fräulein Grant ließ seinen Einwurf unbeachtet. »Peter,« wandte sie sich wieder zu dem Blödsinnigen, »weißt Du sicher, daß Du Herrn Brierly heute morgen gesehen hast?«

Der Junge nickte energisch.

»War er allein?«

»Ja.«

»Wen sahst Du noch dort, Peter?«

Der Idiot erhob den rechten Arm, wie um sich vor einem Schlag zu schützen.

»Ich wette, es hat ihn jemand schlagen wollen,« bemerkte der intelligente Johnny.

Fräulein Grant verwies ihn zur Ruhe und fragte den Blöden geduldig weiter: »Hat Dich jemand erschreckt?«

Der Junge bewegte den Kopf hin und her.

»Wer war es?«

»Nichts – nichts!« lautete die weinerliche Antwort.

»Du mußt mir alles ordentlich sagen, Peter,« mahnte Fräulein Grant in eindringlichem Ton. »Wen hast Du noch gesehen?«

»Ein – einen Geist!« stotterte der Idiot, und mehr war nicht aus ihm herauszubringen.

Die übrigen Kinder wurden nun unruhig und fingen an sich halblaut allerhand Vermutungen zuzuraunen.

»Vielleicht ist er einem Strolch begegnet,« meinte der eine.

»Oder er hat sich den Fuß verstaucht,« bemerkte ein zweiter.

»Lehrer ins Wasser gefallen,« piepte ein kleines Mädchen.

»Dummes Zeug!« wies ein wenig älterer Junge seine ängstliche Nachbarin zurecht. »Der kann ja schwimmen wie einer!«

»Still, Kinder!« gebot Fräulein Grant, deren bisherige Erregung einer gewissen Ärgerlichkeit gewichen war, weil sie sich plötzlich erinnerte gehört zu haben, daß Samuel Doran, der Aufsichtsrat der Schule, Herrn Brierly gebeten hatte, an diesem Morgen vor Beginn des Unterrichts einige Bücher in seinem Bureau durchzusehen. Sicher also befand sich Herr Brierly dort und ihre Besorgnis war ganz unnötig gewesen.

Um sich jedoch Gewißheit darüber zu verschaffen, beauftragte sie Johnny Robbins nachzusehen. »Geh mal flink zu Herrn Doran ins Bureau und wenn Du Herrn Brierly da triffst, was sehr wahrscheinlich ist, so frage ihn, ob ich seine Stunden übernehmen soll, bis er kommen kann.«

Bereitwillig eilte Johnny fort und schon nach zehn Minuten kehrte er zurück.

»Fräulein,« rief er in sichtlicher Aufregung, »er war nicht dort und ist auch nicht dagewesen. Herr Doran ist gleich mit drei Männern fortgegangen, um ihn zu suchen. Er meinte, es müsse etwas nicht in Ordnung sein.«

*

 


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