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Sechzehntes Kapitel.
Ein Rendezvous

Während Ferrars in Gemeinschaft mit den beiden Advokaten die Falle legte, in der sich der Mörder Charles Brierlys fangen sollte, saß Frau Meyers mit ihren Schützlingen in der hübschen Wohnung in Hampton Court. Wenn John Meyers jedoch geglaubt hatte, die Damen würden sich damit begnügen, bis zu seiner Rückkehr aus der City zum Fenster hinauszuschauen, so besaß er wenig Kenntnis des weiblichen Geschlechtes. Ruth Glidden, die von ihrer früheren Reise her London gut kannte, merkte recht wohl, wie gern ihre Gefährtinnen die Wunder von Regent Street gesehen hätten, und so nahm sie, trotz der Mahnung Ferrars, sich nicht ohne männlichen Schutz auszubegeben, kurz entschlossen die Sache in die Hand. Es war ja gar kein Grund vorhanden, sich an einem so schönen Tage in die Zimmer einzusperren, zumal Hilda der Zerstreuung bedurfte, um sie von ihren traurigen Gedanken abzuziehen.

So machten sie sich denn auf den Weg, besuchten das riesige Ausstattungsgeschäft von Snelgrove, die prächtigen Magazine von Redmayne und Redfern und schließlich begaben sie sich noch zu Jay, um für Hilda eine Toilette zu wählen. Jay ist das größte Geschäft der Welt für Trauersachen; alle Damen, die vornehm und schick trauern wollen, kaufen – natürlich zu enormen Preisen – bei Jay & Co.

Hier geschah es nun, daß die drei Damen, eines der prächtig ausgestatteten Ankleidezimmer durchschreitend, sich plötzlich Frau Jamieson gegenüber sahen, die, in einen Sessel gelehnt, ein schwarzseidenes, mit weißen Spitzen garniertes, hochelegantes Gesellschaftskleid vor sich ausbreiten ließ.

Frau Jamieson schien nicht wenig überrascht, ihre Bekannten aus Glenville in London wiederzusehen. Die Begrüßung war – von ihrer Seite wenigstens – eine überaus lebhafte. Sie stellte in einer Minute zehn Fragen und erzählte, ohne die Antwort abzuwarten, sie wohne bei einer Freundin in Bloomsbury, habe die Angelegenheit, die sie nach England geführt, fast erledigt und gedenke sich demnächst für eine Zeitlang in Surrey niederzulassen. Sie habe dort einen schönen Landsitz in Aussicht und hoffe, ihre Freunde vor deren Rückkehr nach Amerika dort bei sich zu sehen. Auf ihr Befragen teilte Ruth ihr mit, sie seien nach Europa gekommen, weil Fräulein Grants Gesundheit eines Luftwechsels bedurfte. Natürlich seien sie nicht allein gereist, sondern unter dem Schutze Herrn Meyers und des Herrn Grant.

Bei Nennung dieses Namens – Frau Jamieson kannte Ferrars unter keinem anderen – wechselte die schöne Witwe die Farbe. Zu erregt von dieser Nachricht, um sich weiter ungeteilt der Toilettenfrage zu widmen, verabschiedete sie sich bald von den Damen, die ihrerseits, besonders Ruth Glidden, einige Gewissensbisse empfanden, weil sie befürchteten, Ferrars werde von ihrem unerlaubten Ausflug nicht sehr erbaut sein.

In einem Zustand seltsamer Erregung kehrte Frau Jamieson in ihre Wohnung zurück. Der Gedanke, daß Ferris Grant in London war, daß sie ihn vielleicht bald sehen würde, machte ihr Herz schneller schlagen und sie entwarf tausend Pläne, um eine Begegnung herbeizuführen. Was hatte ihn gerade jetzt nach London geführt? Was, wenn nicht sie? Oder – ihr Atem stockte – sollte es – Ruth Glidden sein? In welchem Verhältnis stand diese zu den Grants? Und weshalb reisten sie zusammen?

Fast wünschte die kleine Frau, den verführerischen Mann nie gesehen zu haben, denn seit er ihren Weg gekreuzt hatte, kannte sie sich selbst nicht mehr. Wie sie sich nach seiner Nähe, nach dem Klang seiner Stimme sehnte!

»Hätte er doch gewartet oder wäre ich nicht so schüchtern gewesen!« seufzte sie leise auf. »Nun darf er es nie erfahren und ich – ich muß weiter leben – ohne ihn. Nur einen Monat, einen kurzen Monat noch und ich hätte sie alle in meinem Heim in Surrey empfangen, hätte ihm ein Vermögen bieten können. Doch nun?« Sie preßte die Hände in einander. »Ich muß ihn noch einmal sehen, einmal um jeden Preis! Wenn ich nur wüßte, wohin ich ihm schreiben könnte!«

Während sie noch darüber nachsann, brachte ihr das Mädchen einen Brief. Er war von Ferris Grant. Sie öffnete ihn hastig und las mit klopfendem Herzen die wenigen Zeilen:

»Geehrte Frau! Da ich mich nur für kurze Zeit in London aufhalte und sehr in Anspruch genommen bin, so gestatte ich mir die höfliche Anfrage, ob ich Ihnen morgen vormittag um elf Uhr – eine etwas ungewöhnliche Besuchsstunde – meine Aufwartung machen darf.

Ihr ergebener
Ferris Grant.

Obgleich sie eingeladen und es schon spät war, schrieb Frau Jamieson ein paar Zeilen an Ferrars, indem sie ihn bat, sie zu besuchen, er sei ihr zu jeder Stunde willkommen.

Als Ferrars nach dem Verlassen des Café Royal seine Wohnung erreicht hatte, fand er einige Briefe vor. Er griff zuerst nach einem parfümierten, schwarzgeränderten Kuvert – – die Antwort der schönen Witwe.

»Ich werde pünktlich sein,« murmelte er, nachdem er das Briefchen gelesen hatte, »und bin begierig, wie ich nach diesem Besuch gegen sie gesinnt sein werde, ob unsere Unterredung meine Pläne ändern wird und ob ich nachher den Mut haben werde, ihr das zu sagen, was ich ihr sagen muß.«

Auch ein Briefchen von Ruth Glidden fand er vor.

»Lieber Herr Ferrars,« schrieb sie, »ich weiß, Sie wünschten nicht, daß wir in London viel gesehen würden, bis gewisse Dinge erledigt wären. Ich nehme die ganze Schuld auf mich, daß wir drei, Frau Meyers, Hilda und ich, trotzdem heute nachmittag einen kleinen Streifzug durch die Laden machten, allerdings nur durch solche, die speziell für Damen Interesse haben. In einem derselben trafen wir Frau Jamieson, was Ihnen vielleicht nicht angenehm ist. Es wurde jedoch nur Gleichgültiges gesprochen und keine Frage gestellt. Um mein und Hildas Gewissen zu erleichtern, teile ich Ihnen dies mit.

Ihre reumütige
Ruth Glidden.«

Über dies echt weibliche Briefchen runzelte Ferrars erst die Stirne, dann lachte er. »Sie sollten sich ja eigentlich nicht begegnen, aber schließlich – was macht's aus? Alles drängt mich vorwärts und – so sei es denn! Es gilt die letzte Karte auszuspielen, den letzten Streich zu führen. Morgen um diese Stunde werde ich wissen, ob ich Sieger oder Besiegter bin!«

Zur verabredeten Zeit stellte sich Ferrars bei Frau Jamieson ein, die ihn in ihrem kleinen Salon empfing. Sie war auffallend blaß und hatte Mühe, ihre innere Erregung zu verbergen. Dennoch sprach sie in lebhaftem Ton über die Freude, Hilda getroffen zu haben, äußerte auch ihre Bewunderung für Ruth Gliddens Schönheit und vornehmes Wesen und fragte, ob dieselbe eine reiche Erbin und etwa mit ihm oder vielleicht mit den Brierlys verwandt sei.

Es war die erste Erwähnung dieses Namens zwischen ihnen. Ihr fest ins Auge schauend entgegnete Ferrars: »Sie stand in demselben Verhältnis zu Robert Brierly wie Hilda zu Charles. Sie liebten sich seit ihrer Jugendzeit.«

»Wie seltsam, wie traurig und romantisch!« rief sie bedauernd aus, aber es klang ein wenig gezwungen.

»Das Traurige überwiegt das Romantische,« erwiderte Ferrars bedeutsam. »Immerhin ist es seltsam, daß eine und dieselbe Hand beider Glück zerstört hat. Ich habe mich schon oft gefragt,« fuhr er nachdenklich fort, »welches Schicksal den Zerstörer so vielen Glücks treffen würde, wenn diese zwei Mädchen Richter und Jury zugleich sein könnten und der Täter ihrer Gnade anheimgegeben wäre.«

»Hu!« Die schöne Witwe schauderte und wandte das Gesicht ab. »Was für ein unnatürlicher Gedanke!«

»Gar nicht so sehr!« widersprach Ferrars. »Frauen waren zu allen Zeiten gefürchtete Gegner und sie verstehen zu – hassen. Sie sind auch zu den schlimmsten Verbrechen fähig, nur glaube ich, daß ein Weib sich schließlich immer verrät und –«

»Hören Sie auf!« unterbrach sie ihn, indem sie sich erhob, um eine spanische Wand gegen die eindringende Sonne zu rücken. »Sie reden ja grauliche Dinge, Herr Grant! Sprechen wir von etwas anderem, doch lassen Sie mich erst noch fragen, ob man eine Spur des Ver – des Täters gefunden hat.«

»Die Anhaltspunkte waren leider zu ungenügend,« lautete die ausweichende Antwort. »Dennoch hoffen beide Damen, daß das Geschehene noch seine Sühne finden wird.«

»Sie sehen also noch nicht klar in der Sache?« fragte sie zögernd.

Ferrars zuckte die Achseln. »Das Motiv zu der Tat ist so schwer zu entdecken. Doch lassen wir das Thema fallen.«

»Ah! Und ich faßte mir eben ein Herz, Sie zu fragen, wie weit die Nachforschungen gediehen seien, was man bisher ermittelt habe. Die Sache interessiert mich natürlich, weil ich dabei selbst als Zeugin aufgerufen wurde.«

»O, ich begreife Ihr Interesse für den Fall vollkommen,« gab der Detektiv bereitwillig zu. »Sollte Ihnen wirklich daran gelegen sein, will ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen, wenn wir uns das nächstemal sehen. Es lohnt sich der Mühe, sie zu hören.« Er erhob sich. »Ich darf mich nun nicht länger aufhalten. Sind Sie heute nachmittag frei?«

»Leider nein. Ich habe mich bereits meiner Freundin versprochen; sie findet, daß ich zu zurückgezogen lebe. Aber das kann sich nun bald ändern.« Ihr Gesicht erhellte sich zusehends, als sie ihm von ihren Aussichten auf den Landsitz in Surrey und von der Hoffnung, ihn sowie seine Freunde dort begrüßen zu können, sprach. »In den nächsten vierzehn Tagen werden wir uns aber nicht begegnen, Herr Grant,« fügte sie hinzu, »denn meine Freundin hat mich so sehr gebeten, sie nach Paris zu begleiten. Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Wie lange gedenken Sie noch hier zu bleiben?«

»Wahrscheinlich noch zwei bis drei Wochen.«

»O, dann sehen wir uns vielleicht doch wieder,« rief sie sichtlich erfreut.

»Zweifeln Sie nicht daran, Verehrte!« Er zog seinen Handschuh an, während er diese Worte sprach und mit halb gesenktem Kopf schaute er ihr in die Augen. »Es war nur Ihretwegen, daß ich nach England kam und nun« – er verbeugte sich – »auf Wiedersehen!« Hastig griff er nach Hut und Stock, ihre ausgestreckte Hand übersehend. Im nächsten Augenblick hatte er das Zimmer verlassen und man vernahm seinen raschen, energischen Schritt in der Vorhalle.

Frau Jamieson war bei seinem überstürzten Fortgang in einen Sessel gesunken; ihre Erregung war so heftig, daß sie in Tränen ausbrach. Jahrelang hatte sie ein liebeleeres, unbefriedigtes Dasein geführt, sich so unglücklich, so verlassen gefühlt. Dann hatte sich ihrer der Ehrgeiz bemächtigt, das Streben nach einem Ziel, sie prüfte ihre Kräfte und fand, daß sie den Mut besaß, viel zu wagen, viel zu riskieren. Und nun? Sie erhob plötzlich den Kopf, ein triumphierender Blick zuckte aus ihren Augen, ein siegreiches Lächeln umspielte ihre Lippen. Nun winkte ihr das Glück, sagte sie sich – Reichtum, Erfolg, Liebe – alles kam zusammen, alles fiel ihr zu. Was konnten seine Worte anderes meinen? Nur noch wenige Tage Geduld und dann – sie sprang auf, die Arme weit von sich streckend. »O dieses Glück!« jubelte sie laut. »Gibt es ein Weib unter der Sonne, das mit mir sagen könnte, es habe das Schicksal bezwungen, habe alles erreicht, wonach es gestrebt, wonach es sich gesehnt?!«

In diesem Augenblick trat das Mädchen ein. »Madame, die Wäscherin ist da. Wollten Sie ihr nicht den Knabenanzug für ihren Jungen schenken?«

Wie von der Tarantel gestochen, zuckte die schöne Witwe zusammen; eine fahle Blässe bedeckte das eben noch so glückselig strahlende Gesicht.

»Ja, geben Sie ihn ihr,« sagte sie, ohne den Kopf zu wenden, aber ihre Stimme klang seltsam rauh.

*

 


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