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Drittes Kapitel.
Nemesis

»Fühlen Sie sich stark genug, Herr Brierly, eine zweite Hiobspost zu ertragen? Ich muß durchaus mit Ihnen beraten, ehe wir den Körper fortnehmen.«

Es war Doktor Barnes, der diese Worte an Robert Brierly richtete, der in tiefer Niedergeschlagenheit an einen Baum gelehnt vor sich hinstarrte, während die übrigen Männer, leise miteinander flüsternd, die leblose Gestalt des jungen Lehrers umstanden.

Doktor Barnes war nicht nur ein tüchtiger Arzt – er besaß auch drei weitere schätzenswerte Eigenschaften: er war rasch im Handeln, hatte einen praktischen Sinn und zeichnete sich durch große Menschenfreundlichkeit aus.

Auf seine Anrede hin erhob Robert Brierly den Kopf und der stumme Blick seiner dunklen Augen sagte dem scharfsichtigen Arzt deutlicher als Worte, daß der junge Mann bereit sei, jeden Schicksalsschlag mutig zu ertragen.

»Ich will mich kurz fassen,« begann Doktor Barnes, etwas zur Seite tretend. »Sie wissen, was die Leute dort« – er wies auf die Männer – »für die Todesursache halten?«

»Ja; es war ein Unglücksfall.«

»Oder ein Selbstmord.«

»Niemals!« protestierte Robert Brierly energisch. »Das ist ganz ausgeschlossen. Mein Bruder war ein gottesfürchtiger und ein glücklicher Mensch.«

»Dennoch hat er eine Kugel da, wo sich zumeist die selbstzugefügten Wunden befinden.«

Brierly stöhnte leise auf. »Ich – ich kann es nicht glauben.«

» Sie brauchen es auch nicht,« entgegnete der Arzt, seine Stimme dämpfend. »Ihr Bruder hat noch eine zweite Wunde – im Rücken!«

»Im Rücken? Das – das bedeutet – –«

»Zweifellos einen Mord. Kein Jäger könnte hier am See im offenen Gelände einen solchen Fehlschuß tun. Überdies ist es nicht erlaubt, so nahe der Stadt zu jagen. Doch wir haben keine Zeit, über die Gründe oder den mutmaßlichen Mörder zu diskutieren. Ich möchte nur das eine wissen, ob Sie diesen Umstand schon jetzt bekannt geben wollen.«

»Ich verstehe Sie nicht,« unterbrach ihn Brierly. »Soll der Name meines Bruders – –«

»Nein, nein! Ich dachte nur, weil die Leute da einen Unfall annehmen, so sei es für die Behörde leichter, diese Annahme vorerst bestehen zu lassen.«

Brierly richtete sich plötzlich energisch in die Höhe. »Sie haben recht, Doktor,« nickte er mit fester Entschlossenheit, »man muß den Leuten noch nicht die volle Wahrheit sagen.«

»Dann wollen wir unverzüglich zurückkehren, um das Geheimnis besser wahren zu können. Es ist ein harter Schlag für Sie, Herr Brierly, den auch die aufrichtigste Teilnahme nicht zu mildern vermag. Ich bewundere Ihre Fassung gegenüber einem solch herben Geschick und ich bitte Sie, völlig über mich zu verfügen – ich bin zu jedem Dienst bereit, den ich Ihnen als Arzt, Mensch und Freund erweisen kann.«

Mit stummem Dank reichte Brierly dem hochherzigen Manne die Hand; dann begaben sie sich zur Unglücksstätte zurück.

»Rühren Sie die Pistole nicht an!« rief Doktor Barnes Doran zu, der neben der Leiche am Boden kniete.

»Gewiß nicht,« nickte dieser, sich erhebend. »Ich wollte nur nachsehen, ob alle Läufe entladen sind. Wir wissen recht gut, was zu tun ist – keiner von uns hat ihn angerührt.«

Der Tote, der nahe am Seeufer lag, war ein schlankgewachsener junger Mann, mit feinen, aristokratischen Gesichtszügen, von deren Marmorblässe sich an der rechten Schläfe, da, wo die Kugel eingedrungen war, dunkle Blutstropfen abhoben. Die Hände waren schmal und weiß wie Frauenhände, die Füße klein und gewölbt, doch die Körperformen unter dem blauen Flanellanzug bekundeten eine kräftige Muskulatur.

Der Verunglückte lag, wie er gefallen war, auf der Seite, den rechten Arm langausgestreckt, fast die Pistole berührend, von deren sechs Patronen zwei abgefeuert waren.

Doktor Barnes hatte, nachdem er die zweite Wunde entdeckt, sein Taschentuch über das Gesicht des Toten gebreitet und die leblose Gestalt mit einer Decke, die er aus seinem in der Nähe haltenden Wagen holen ließ, verhüllt.

Mit ehrfurchtsvoller Geberde schob Robert Brierly die Hülle zur Seite, blickte eine Weile zärtlich in das bleiche Antlitz des Bruders und drückte dann einen Kuß auf die erkaltete Stirn.

Nachdem er die Leiche wieder bedeckt hatte, trat er zu den Männern. »Wer von Ihnen,« fragte er, »vermutete, daß mein Bruder gestrauchelt sei?«

Doran wies mit der Hand auf eine Ranke von wildem Epheu, die geknickt und verwirrt dicht neben den Füßen des Toten lag. »Ich habe es gleich gesehen,« bemerkte er, zu Brierly gewendet. »Der Fall liegt eigentlich sehr klar. Das Scheibenschießen war in der letzten Zeit hier sehr beliebt. Man hätte auch keinen besseren Stand finden können, als von diesem Baum aus nach der Scheibe zu zielen; die Entfernung ist gerade die richtige. Herr Brierly muß dort gestanden haben und beim Zielen ins Schwarze hat er wahrscheinlich einen Schritt vorwärts getan, hat sich in die Ranke verwickelt und ist gestolpert. Im Fallen streckt jeder unwillkürlich den Arm aus und dabei muß ihm das Unglück passiert sein.«

»Ganz recht,« murmelte Brierly, »es – es kann sich so ereignet haben.«

»Wäre gar keine andere Möglichkeit gewesen,« stimmte einer der Männer bei.

Das Geräusch von Rädern lenkte alle Aufmerksamkeit nach der Richtung hin, aus der es erscholl. Gleich darauf erschien am Wegsaum der schwarze Leichenwagen und nachdem der Tote unter Aufsicht des Arztes hineingelegt worden war, kehrte das Gefährt mit seiner traurigen Bürde in langsamem Schritt zur Stadt zurück.

»Ich werde Herrn Brierly mit mir nehmen,« wandte sich Dr. Barnes zu Doran, »wenn Sie für sein Rad sorgen wollen.«

Doran war gleich dazu bereit und die beiden Herren bestiegen das leichte Korbwägelchen des Doktors, der es selbst lenkte. Während sie am Seeufer entlang fuhren, bemerkten sie drei Reiter sowie einen Trupp Schulknaben, von Johnny angeführt, deren Ziel augenscheinlich die Unglücksstätte war.

»Da kommen schon die Neugierigen,« brummte Doktor Barnes. »Na, das liegt in der menschlichen Natur, und unser Lehrer hatte viele Freunde.«

Sich umwendend, winkte er Doran zu sich heran. Dieser lehnte das Rad an einen Baum und kam eilig näher.

»Sie sind hier fremd, Herr Brierly,« sagte der Arzt inzwischen zu seinem Gefährten. »Wollen Sie es mir überlassen, die nötigen Anordnungen zu treffen?«

Der junge Mann nickte zustimmend, indem er seufzte: »Es ist mir ein so weher Gedanke, ihn zu einem Leichenbestatter bringen zu müssen.«

»Das soll nicht geschehen,« erklärte der Arzt rasch. »Doran, hier, nehmen Sie meine Schlüssel. Eilen Sie so schnell Sie können voraus, sagen Sie dem Kutscher, den Sie ja überholen werden, er möge die Leiche nach meinem Hause fahren, öffnen Sie die Türe und lassen Sie den Toten in mein Privatzimmer auf das Sopha niederlegen. Nein, widersprechen Sie nicht, Herr Brierly,« wandte er sich zu diesem, »ich tue nur das, was ich von anderen wünschte, wenn ich in gleicher Lage wäre. Überdies bin ich Junggeselle, habe mein Haus etwas vor der Stadt und würde mich freuen, wenn Sie die nächsten Tage mein Gast sein wollten; das dürfte Sie jedenfalls vor neugierigen Augen schützen.«

»Ich nehme Ihr Anerbieten mit aufrichtigem Dank an,« entgegnete Brierly gerührt.

Sobald die entseelte Hülle des jungen Lehrers aufgebahrt war, ließ Doktor Barnes durch Doran eine Jury bestellen, behielt sich jedoch den Termin der Leichenschau vor, da, wie er meinte, Fräulein Grant noch nicht fähig sei, als Zeugin zu erscheinen.

Nachdem der Arzt alles angeordnet und Brierly gezwungen hatte, ein Frühstück zu sich zu nehmen, verschloß er die Türe und setzte sich seinem Gast gegenüber.

»Sind Sie jetzt fähig, sich mit mir zu beraten?« fragte er in ernstem Ton, »über das zu reden, was das Wichtigste ist?«

»Es wäre mir unendlich viel an Ihrem Rat gelegen,« erwiderte Brierly. »Sehen Sie, lieber Doktor, es gibt Verhältnisse, die die Menschen, sozusagen in einem Augenblick, sich nahe bringen. Sie kennen mich ja nicht, aber ich habe das Gefühl, als könnte ich Ihnen unbesorgt mein teuerstes Kleinod oder mein gefährlichstes Geheimnis anvertrauen. Ich bitte Sie, ganz offen gegen mich zu sein und mir eine Frage zu beantworten.«

»Sprechen Sie!«

»Sie teilten mir vorhin mit, auf welche Weise mein armer Bruder nach Ihrer Meinung ums Leben kam. Wollen Sie sich bitte an meine Stelle versetzen und mir sagen, was Sie in meiner Lage tun würden?«

Der Arzt überlegte einen Augenblick, dann erwiderte er langsam: »Ich denke, ich bin ein Christ, aber – in diesem Falle würde ich es zu meiner Lebensaufgabe machen, den Mord aufzuklären, denn daß hier ein Mord vorliegt, davon bin ich fest überzeugt.«

*

 


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