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Achtes Kapitel.
Frau Jamieson

Das Schreiben, das die drei Herren mit so großem Interesse erfüllte, lautete folgendermaßen:

»Herr Charles Brierly! Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich noch länger um Ihre Liebesangelegenheit kümmern soll. Über ihre Freundin, Fräulein G. habe ich mein letztes Wort gesprochen und ich dächte, die Beweise, die Sie bereits in Händen haben, müßten Ihnen genügen. Warum fragen Sie sie nicht gerade heraus? Sie werden dann allerdings finden, daß sie ebensogut Krallen besitzt wie die übrigen ihres Geschlechtes. Und nun noch ein Wort. Haben Sie sich mit ihr ausgesprochen, so hüten Sie sich vor ihr, besonders wenn sie weint und die Großmütige spielen will. Schreiben Sie mir nicht wieder, denn ich werde keine Fragen mehr beantworten. Aber vergessen Sie nicht Ihr Versprechen! Sie darf nie erfahren, daß Sie mich kennen, ich werde mich dann sicherer fühlen. Leben Sie wohl! Ich wünsche Ihnen alles Glück!

J. B.«

»Was halten Sie von diesem Schreiben, das weder Datum noch Poststempel aufweist, Herr Brierly?« wandte sich Ferrars zu diesem.

»Es ist ein erbärmliches Machwerk,« erwiderte der junge Mann hitzig, »der Versuch irgendeiner Person, Fräulein Grant, die ich jetzt als meine Schwester betrachte, zu schmähen und zu beleidigen. So weit ich mich auf die Frauen verstehe, halte ich Hilda Grant für ein gutes, edelherziges Mädchen, das meinen Bruder aufrichtig liebte und ich hoffe, Sie hegen dieselbe Meinung von ihr.«

»Vollkommen,« versicherte der Detektiv. Doch nun müssen wir überlegen, was hier zu tun ist. Ich meinesteils halte es für ratsam, über den Brief zu schweigen, der nur geschrieben wurde, um entweder die Behörde irre zu führen, oder um Unheil zu stiften. Statt dessen wird er uns vielleicht zu weiteren Aufschlüssen verhelfen. Fragen Sie mich vorerst nichts, meine Herren, ich muß mir erst die heutigen Entdeckungen zurechtlegen. Und nun kommen Sie, es ist die höchste Zeit, daß wir frühstücken.«

Sie wollten eben aufbrechen, als Frau Fry an die Türe klopfte. »Entschuldigen Sie,« sagte sie eintretend, »ich wollte nicht stören, aber mir fiel vorhin ein, daß ich Fräulein Grants Porträt nicht gesehen habe, das immer auf dem Schreibtisch stand. Vor drei Wochen zeigte es mir Herr Brierly, indem er bemerkte: ›Frau Fry, dies Bild gehört jetzt in mein Zimmer, denn ich kann Ihnen sagen, daß Fräulein Grant eines Tages meine Frau werden wird.‹ Das waren seine Worte.«

»Vielleicht liegt es im Pult,« entgegnete Ferrars. »Wir werden gleich nachsehen und wenn wir fortgehen, schließen Sie, bitte, die Zimmer ab und lassen Sie niemand herein.«

Sobald sich die Wirtin entfernt hatte, begann der Detektiv das Bild zu suchen, das er schließlich mitten durchgerissen hinter dem Schreibtisch fand.

»Ah!« sagte er in fast triumphierendem Ton, »das ist mir wichtiger und nützt mir mehr als alles Übrige.«

Er machte eine Bewegung, als wolle er das zerstörte Bild mitsamt dem anonymen Brief in seine Brusttasche schieben, brachte dann aber beides an anderer Stelle unter, da diese Tasche bereits mit einem Zeitungsblatt ausgefüllt war, das er der Mappe entnommen und heimlich eingesteckt hatte.

Nach beendigtem Frühstück besprachen die drei Herren die Anordnungen für das Begräbnis, und dann äußerte Brierly den Wunsch, Fräulein Grant zu besuchen, falls der Arzt es erlaube.«

»Ich habe Frau Marcy gebeten, ihr alle müßigen Besucher fernzuhalten,« erwiderte Dr. Barnes, »denn sie könnte jetzt keine neugierigen Fragen und Reden über das Geschehene ertragen. Ein teilnehmender Freund hingegen – das ist etwas anderes.«

Sobald Brierly fortgegangen war, warf Ferrars seine Zigarre weg. »Sind Sie nicht zu der kleinen Dame gerufen worden, Doktor, die gestern bei der Leichenschau ohnmächtig wurde?« fragte er nachlässig. »Ich vergaß ganz, mich darnach zu erkundigen.«

»O, sie bedurfte nur der Ruhe, um sich von dem Unfall zu erholen,« lautete die Antwort. »Ich finde, es war ein rechter Mißgriff, sie gerade dem verhüllten Leichnam gegenüber zu setzen. Diese kleinen, blauäugigen Frauen sind oft wahre Nervenbündel und empfindsam wie Mimosen. Ich begreife garnicht, wie es geschehen konnte.«

»Für diesen ›Mißgriff‹ müssen Sie mich verantwortlich machen, lieber Doktor,« bemerkte Ferrars gleichmütig. »Ich selbst ließ den Damen diese Plätze anweisen.«

»Sie?« rief Dr. Barnes erstaunt. »Dann allerdings nehme ich das Wort zurück.«

Der Detektiv unterdrückte ein Lächeln, erwiderte aber nichts darauf, sondern lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Alsdann schrieb er mehrere Briefe, nach deren Beendigung er sich zum Ausgehen anschickte.

»Ich hatte Frau Jamieson um die Erlaubnis gebeten, sie besuchen zu dürfen,« erklärte er dem Arzt, »und da sie Ihrer Dienste nicht zu bedürfen scheint, so wird sie wohl imstande sein, mich zu empfangen.«

»Wir haben noch einen Äskulap in Glenville,« belehrte ihn Dr. Barnes.

»Das weiß ich, aber die Dame besitzt Geschmack – sie würde nur nach Ihnen geschickt haben.« Er nickte dem Doktor gutgelaunt zu und verließ das Haus.

»Manchmal kann man wirklich nicht erraten, was Ferrars meint, wenn er diesen sarkastisch scherzenden Ton anschlägt,« dachte Dr. Barnes. »Und wer würde glauben, daß er gerade jetzt daran denkt, einen Höflichkeitsbesuch zu machen! Allerdings – die kleine Frau ist hübsch genug, um einen Mann an sich zu ziehen, und ein Detektiv ist vielleicht ebenso empfänglich für weibliche Reize wie andere Männer.«

Nur wenige Minuten hatte Ferrars im Empfangssalon des Glenvillehotel zu warten, dann wurde er in die Gemächer der schönen Witwe geführt. Die Dame lag in einem niedrigen Sessel und hatte ihre Freundin, Frau Arthur, bei sich. Sie trug ein loses, schwarzes, mit Bändern und Rüschen verziertes Kleid; am Gürtel steckte ein Bukett Veilchen. Ihr Gesicht war sehr blaß und die Augen mit ihrer wechselnden Farbe von graugrün und stahlblau erschienen größer als sonst, vielleicht wegen der schwarzen Schatten, die sie umlagerten, und des üppigen blonden Haares, dessen Locken tief in die Stirne fielen.

Sie begrüßte Ferrars mit schwachem Lächeln, dankte für seine Nachfrage und erkundigte sich dann mit großer Teilnahme nach Fräulein Grant, die sie wiederzusehen wünschte. Das arme Mädchen habe sich so tapfer und doch so weiblich gezeigt, als sie, Frau Jamieson, ihr die traurige Nachricht gebracht habe, daß man sie nur bewundern könne.

Und ohne den Mord auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, überließ sie die weitere Unterhaltung ihrer Freundin, während sie selbst sich wie erschöpft in den Sessel zurücklehnte. Ferrars faßte dies als einen Wink auf, sich zu verabschieden.

»Sie müssen mich nicht für unpäßlich halten,« entschuldigte sich Frau Jamieson halblaut, als Ferrars ihr Lebewohl sagte, »ich fühle mich aber doch noch etwas schwach und werde wohl gezwungen sein, den Arzt kommen zu lassen, obgleich ich mich nicht gern in ärztliche Behandlung gebe. Apropos« fügte sie wie beiläufig hinzu, »hat sich seit der Totenschau etwas Neues in der Sache ereignet? Hat man irgendwelche Entdeckungen gemacht oder weitere Zeugen gefunden?«

Ferrars schüttelte verneinend den Kopf, mahnte die Dame, ihre Kräfte zu schonen und entfernte sich mit höflicher Verbeugung.

»Hm,« murmelte er im Weggehen vor sich hin, »sehr schön von ihr, so viel Teilnahme für meine Pseudoverwandte, Fräulein Grant, zu bekunden. Ihr Interesse für den Haupthelden des Dramas, Robert Brierly, war weit geringer.«

Als er nach Hause kam, fand er Brierly in trüben Gedanken am Fenster sitzen. Er machte keinen Versuch, den jungen Mann aufzurütteln, sondern begab sich an den Schreibtisch, um einiges zu notieren.

Er wurde bald darauf durch Dr. Barnes gestört, der mit dem Hut in der Hand eintrat. »Sie zeigten so viel Interesse für Frau Jamiesons ›Ärztewahl‹,« sagte er lächelnd zu Ferrars. »Ich kann Ihnen mitteilen, daß sie mich soeben hat rufen lassen – natürlich nur für ärztlichen Rat.«

»So? Dann hat die Dame ja meinen Glauben an ihren guten Geschmack gerechtfertigt,« scherzte Ferrars, fügte aber ernster hinzu: »Sie müssen's nicht übel nehmen, Doktor, wenn ich Sie bitte, jede Erörterung unserer Angelegenheit bei Ihrem Besuch zu vermeiden und der Dame keinerlei Auskunft darüber zu geben.«

Dr. Barnes stutzte einen Augenblick, dann jedoch schien er den Detektiv zu verstehen. »Ich gehe nur als Arzt hin,« erklärte er mit Nachdruck.

Als er fort war, erhob sich Brierly und griff nach seinem Hut. »Diese Untätigkeit ist schrecklich,« sagte er verstimmt, »ich muß mir Bewegung machen. Wollen Sie mich begleiten, Herr Ferrars?«

Bereitwillig erhob sich der Detektiv, trat zu Brierly und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich gehe natürlich mit Ihnen,« sagte er in ernstem Ton, »aber ich möchte Sie um eins bitten: sich in den nächsten Tagen so wenig wie möglich und dann nur in meiner oder Dr. Barnes Begleitung auf der Straße zu zeigen. Es mag dies langweilig für Sie sein, erscheint mir jedoch geboten.«

»Meinetwegen oder im Interesse der Untersuchung?« fragte Brierly.

»Ihretwegen nicht,« entgegnete Ferrars offen, »denn Sie können recht wohl für sich selbst einstehen, aber für unsere Angelegenheit ist es wichtig, daß wir allen neugierigen Fragen und Beobachtungen möglichst aus dem Wege gehen.«

»Mir soll's recht sein,« willigte Brierly ein. »Ich habe es in Ihre Hände gelegt, Herr Ferrars, den Tod meines armen Bruders zu rächen, und ich werde nichts tun, was Sie in Ihrer Arbeit hindern könnte.«

»Sehr recht. Glenville darf vorläufig nicht mehr wissen, als uns paßt.«

Brierly schaute auf. »Das klingt ja beinahe, als ob Sie das Ende der Sache hier gefunden hätten.«

»Den Anfang – ja,« bestätigte Ferrars; »nicht der Sache selbst, sondern nur die ersten Anhaltspunkte. Der Himmel allein weiß, wohin es uns führen wird, bis wir unser Ziel erreicht haben.«

»Das ist einerlei!« entgegnete Brierly fest, »wenn es nur die Wahrheit ans Tageslicht bringt!«

*

 


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